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Essay: Wir müssen aufhören, uns für unsere Verletzlichkeit zu schämen

Gesundheit

Essay: Wir müssen aufhören, uns für unsere Verletzlichkeit zu schämen

Unserer Autorin ist es unangenehm, ihre Gefühle zu offenbaren oder vor anderen zu weinen. Sie fragt sich: Warum eigentlich? Ein Plädoyer für mehr Mut, die eigene Verletzlichkeit zu zeigen.

Alle reden immer von den starken Frauen. Gefühlt reden alle Stars in Interviews über sie. Sie werden nach ihren Vorbildern gefragt und beschreiben dann ihre Mütter, Grossmütter, Mentorinnen. Wenn ich an starke Frauen denke, dann denke ich auch als Erstes an meine Grossmutter.

Mutter von vier Kindern, in einem Land, in dem sie die Sprache nicht spricht, der Mann Alkoholiker. Ihre Hände sind zu gross für Zärtlichkeit. Ihre Umarmungen sind kräftig. Das mag ich. Die erste Person, die mir einfällt, wenn ich an starke Frauen denke, ist also eine Frau, die sich und ihre Emotionen immer zurückgestellt hat. Die Verletzlichkeit nie zugeben konnte, weil sie das als Schwäche sah und dafür kein Platz war.

Ich bin nicht gut darin, meine Verletzlichkeit zu zeigen

Ich denke an starke Frauen und als Erstes fallen mir Menschen ein, die immer die Zähne zusammenbeissen. Aber eigentlich liegt doch auch Stärke darin, sich Überforderungen einzugestehen. Manchmal wünsche ich mir, dass meine Grossmutter damals den Raum dafür gehabt hätte.

Gleichzeitig merke ich aber, dass ich nicht gut darin bin, meine Verletzlichkeit zu zeigen. Vor ein paar Wochen habe ich das erste Mal so etwas wie einen Liebesbrief geschrieben. Und dafür folgenden Einstieg gewählt: «Auf Hochdeutsch zu schreiben, scheint sehr ernst. Und es ist mir unendlich peinlich, etwas ernst zu meinen. Aber anscheinend kann ich nicht anders.» Ich entschuldige mich bei einer Person, die mich ganz gerne mag, dafür, dass ich sie auch ganz gerne mag.

Warum ist es mir so unangenehm, meine Gefühle zu offenbaren?

Warum ist es mir so unangenehm, mich verletzlich zu zeigen oder meine Gefühle zu offenbaren? Vielleicht war das schon immer so. Meine Verletzlichkeit und ich tauchen ungern gemeinsam auf. Vielleicht, weil ich immer durch sie zusammenschrumpfe. Meine Stimme wird leiser und ich werde ein bisschen rot. Deshalb glaube ich, meistens besser ohne sie auszukommen. Ich schäme mich für sie.

Wahrscheinlich habe ich mir meine Verletzlichkeit abtrainiert, so wie ich es mir mit acht Jahren abtrainiert habe, Skinny Jeans gut zu finden oder die Farbe Rosa. Damals fing ich an, Fussball zu spielen und Hoodies aus der H&M-Jungsabteilung zu tragen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob ich das wirklich wollte oder einfach nur früh merkte, wie man in männlich-dominierten Räumen ernst genommen wird und Anerkennung bekommt. In denselben Räumen gilt auch, dass das Zeigen von Emotionen oft als übertrieben gilt und diese die Glaubwürdigkeit von weiblich gelesenen Personen beeinträchtigen. Wir sind zickig, hysterisch, dramatisch.

Vor meiner Familie starke Emotionen zu zeigen, ist mir unangenehm

In der Grundschule wollte ich nicht darüber sprechen, in wen ich gerade verknallt bin. Es schien mir uncool. Ich wollte mich nicht verletzlich machen. Und wenn ich mal weinen musste, dann machte ich das in der Kabine ganz links auf dem Schulklo.

Vor Leuten, die ich nicht kenne, zu weinen, war noch nie ein Problem. In der S-Bahn kommen mir manchmal die Tränen beim Podcasthören. Oder ich weine im Park nach einem Telefonat, weil Parks dafür gedacht sind – für in der Sonne liegen, Leute mit einer Musikbox nerven oder ein bisschen weinen.

Vor meiner Familie, meiner Mitbewohnerin, Freund:innen oder Dates starke Emotionen zu zeigen, das ist mir unangenehm. Auf einem Date im Kino – mit einem Tindertyp – blinzelte ich mir meine Tränen aus den Augen, während die Credits über die Leinwand rollten. Ich versprach mir im Stillen, den Film ein zweites Mal zu schauen. Um in Ruhe heulen zu können.

Auf Englisch ist vermissen ganz einfach

Jetzt, wo ich verliebt bin, vermisse ich manchmal und bin überfordert damit. Ich tippe dann «miss you», obwohl ich das gar nicht meine. Auf Englisch ist vermissen ganz einfach. Es ist so einfach, dass die Figuren in amerikanischen Rom-Coms es die ganze Zeit machen. Amerikanische Rom-Coms und «miss you» sind so weit von mir entfernt, dass es mir leicht fällt, «miss you» zu schicken, wenn ich eigentlich «ich vermisse dich» meine. Aber eigentlich sitzt das Gefühl sehr viel schwerer in mir drin, als ein «miss you» ausdrückt.

Einige Wochen nach dem Brief sitzen er und ich in einem Café. Nach ein paar Tagen Hitze ist der Frühling müde geworden und wir auch. Wahrscheinlich sind wir zu müde für ein «was sind wir eigentlich?»-Gespräch. Wir führen es trotzdem. Und irgendwann wissen wir nicht mehr weiter und machen das, was wir immer machen, wenn wir nicht mehr weiterwissen. Er sieht verloren aus und ich sage nichts, denke darüber nach, zu gehen und bleibe.

Ich frage mich, wie gross meine Gefühle sind

Ich muss an einen Instagram Post denken, den ich mal gesehen habe: «Have big, big feelings.» Ich frage mich, wie gross meine Gefühle sind. Wahrscheinlich falte ich meine Gefühle so sorgfältig wie ein Taschentuch, damit sie in meine Hosentasche passen. Ich lasse sie nicht sprechen, lasse sie nur nervös meine Finger verknoten. Ich will nicht, dass er sieht, dass mich unser Gespräch berührt.

Er steht auf und verschwindet hinter der Toilettentür, weil es sonst nichts zu tun gibt. Ich bleibe sitzen und bin froh, alleine zu sein mit meinen Gefühlen. Ich stelle mir vor, dass er für immer hinter der Tür bleibt und irgendwann, nach einer Ewigkeit, hätte ich vergessen, dass ich noch auf ihn warte. Gleich koche ich Zitronen-Tagliatelle, würde ich denken und nach Hause gehen.

Wir assoziieren Verletzlichkeit mit Weiblichkeit

Manchmal will ich sein, wie diese Männer auf Schwarz-Weiss-Bildern, die an Autos lehnen, Arme verschränkt, ein Bein über das andere geschlagen, Zigaretten in den grinsenden Mundwinkeln. Nie glitzern Tränen auf ihren Wangen, nur der Schweiss auf ihren Oberarmen. Wir assoziieren Verletzlichkeit und Emotionalität mit Weiblichkeit und damit auch mit Schwäche. Dabei gibt man mit Verletzlichkeit keine Schwäche zu.

Meine Grossmutter hatte als junge Frau keinen Raum für Verletzlichkeit. Ich schon. Und trotzdem mache ich keine Liebeserklärungen oder weine im Kino, wenn etwas traurig ist oder werde wütend in einem Arbeitsmeeting, wenn mir etwas wichtig ist, weil ich Angst davor habe, zu dramatisch zu sein.

Ohne Verletzlichkeit bin ich weiter weg von allem

In den ersten Wochen, nachdem ein Mann «ich liebe dich» zu mir gesagt hat, habe ich gezählt, wie oft ich es nicht erwidert habe, weil ich zu peinlich berührt war. Ohne Verletzlichkeit bin ich weiter weg von allem. Und eigentlich will ich näher dran sein, an den Menschen, die ich kenne, an den Dingen, die ich erlebe.

Wenn ich mich gegen bestimmte Eigenschaften sträube, entgeht mir die Chance, das sexistische Verständnis, das wir vom Begriff Stärke haben, umzudeuten. In einer Welt, in der toxische Männlichkeit Opfer fordert, müssen wir lernen, Eigenschaften von Geschlecht zu trennen. Das würde weniger Druck bedeuten. Unsere Persönlichkeitsmerkmale brauchen neue Zuschreibungen. Männer sollen weinen können, ohne dass das bedeutet, dass sie sich von ihrer weiblichen Seite zeigen oder sie Schwäche zugeben. Und ich will meine Gefühle zeigen, ohne das Gefühl zu haben, mich zu diskreditieren.

Ich schicke eine Nachricht. «Ich vermisse dich.»

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