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Meinung: Die Pandemie hat uns ehrlicher gemacht – und das soll so bleiben

Zeitgeist

Meinung: Die Pandemie hat uns ehrlicher gemacht – und das soll so bleiben

In den zwei Jahren Pandemie ist es salonfähig geworden, auch mal offen zu sagen, dass es nicht rund läuft. Redaktorin Vanja Kadic hofft, dass wir uns diese Einstellung auch im «new normal» beibehalten.

Irgendwann zwischen Instagram-Videos, in denen uns Prominente zeigten, wie man richtig Hände wäscht, der surrealen Realität, im Supermarkt hoffen zu müssen, dass Pasta und WC-Papier verfügbar sind, und dem allerersten Impftermin passierte es: Plötzlich war es voll okay zu sagen, dass gerade alles sehr scheisse ist.

Ich sprach mit Freund:innen öfter und ehrlicher über unsere Talfahrten. Viele, auch ich, nahmen wieder psychologische Hilfe in Anspruch. Andere begannen – sofern sie Glück hatten und einen Platz ergattern konnten – zum ersten Mal eine Therapie. Ein Geheimnis machte niemand daraus. Und es blieb dabei.

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«Ich kenne keine Person, die die letzten zwei Jahre komplett unbehelligt überstanden hat»

Mehrere Bekannte, die ich in den letzten zwei Jahren coronabedingt nicht gesehen hatte und nun zufällig traf, zeigten sich erstaunlich verletzlich. Panikattacken, Einsamkeit, Überforderung, Beziehungsprobleme oder Existenzängste ersetzten die Anekdoten über die letzten Strandferien oder den neuesten Branchen-Gossip. Im Grunde ist diese Vulnerabilität keine grosse Überraschung, denn dieser «Black Mirror»-mässige Albtraum von Pandemie verlangte uns viel ab. Ich kenne keine Person, die die letzten zwei Jahre komplett unbehelligt von Lockdowns, Impfdiskussionen und Dauer-Negativnews überstanden hat.

Die Umfrage «Swiss Corona Stress Study» der Universität Basel von letztem November zeigte, dass die psychische Belastung in der Pandemie auch in der vierten Welle nach wie vor hoch war: Der Anteil von Befragten mit schweren depressiven Symptomen lag bei 19 Prozent. Im April 2020 hatte er sich noch bei neun Prozent befunden.

Die Pandemie intensivierte vorhandene Belastungen, schuf neue Hürden und liess einem gar keine andere Wahl, als sich mit sich selbst und dem Leben, in dem man steckt, auseinanderzusetzen. Und irgendwie sank mit der nachlassenden Motivation für Zoom-«Parties» und der Überdosis an selbstgemachtem Bananenbrot dieses kollektive Schamgefühl, nicht über Probleme zu sprechen.

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«Das authentische Ich ist nun mal nicht immer happy und sorglos»

Vielleicht hat unser glattpoliertes Selbst, das wir gegen aussen zeigen wollen, im Homeoffice-Alltag und in den trägen Wintermonaten auch einfach dermassen an Bedeutung verloren, dass wir nun selbstverständlicher mit unserem authentischen Ich umzugehen vermögen – und dieses ist nun mal nicht immer happy und sorglos. Schon gar nicht während einer globalen Seuche.

Es gibt wahrlich wenig, das ich an Corona vermissen werde, sollte der Spuk denn tatsächlich irgendwann zu hundert Prozent vorbei sein. Aber dass wir jetzt so offen reden können, wenn es um psychische Gesundheit geht, finde ich fantastisch. Und ich hoffe sehr, dass wir uns dieses Mindset auch im «new normal» beibehalten – ein Zurück in das Leben vor Corona gibt es ja eh nicht mehr.

Lassen wir also den Smalltalk hinter uns! Erzählen wir stattdessen lieber davon, was wir tun, wenn wir mit allem überfordert sind. Denn: Indem wir offen mit anderen über unsere psychische Gesundheit sprechen und Probleme wie Depressionen oder Ängste nicht unter den Teppich kehren, verbinden wir uns miteinander. Es tut gut, zu merken, dass man mit seinen Sorgen nicht allein ist. Und die Rückkehr in eine Welt, in der man so tun muss, als wäre alles immer gut, ist in etwa so ansprechend wie die Entdeckung einer neuen Corona-Mutation.

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