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«Für Singles kann Corona eine grosse Chance sein»

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«Für Singles kann Corona eine grosse Chance sein»

Die Fallzahlen steigen, die Corona-Massnahmen werden strenger und der Winter steht uns bevor. Wie geht es den Singles damit? Das haben wir die psychosoziale Beraterin Beatrice Bucher gefragt, deren Praxis auch viele Singles mit Beziehungswunsch aufsuchen.

annabelle: Frau Bucher, wie geht es den Singles gerade, die zu Ihnen in die Praxis kommen?
Beatrice Bucher: Die Bandbreite ist gross: Es gibt solche, die sehr ängstlich auf die kommenden Monate schauen. Und dann gibt es auch Singles, die mithilfe der Beratung bereit sind, die Corona-Pandemie als eine grosse Chance für sich zu sehen.

Als Chance?
Ja! Die nächsten Monate können gut dafür genutzt werden, um sich mal ganz intensiv mit sich selbst zu beschäftigen. Zum Beispiel erlebe ich in meiner Praxis häufig Singles, die immer an denselben Typ Mensch geraten – und damit einfach nicht glücklich werden. Für die Partnerwahl gibt es Gründe, die meist in der Kindheit liegen. Auch lerne ich immer wieder Singles kennen, die eine so lange Liste an Wünschen mitbringen, die kein Mensch erfüllen kann.

Und diese Ansprüche sollen sie herunterschrauben?
Ich empfehle, die eigenen Ansprüche zumindest einem Reality-Check zu unterziehen. Vielleicht schreibt man mal alles auf, was man von seinem Traumpartner, seiner Traumpartnerin erwartet. Ehrlich und wertfrei – sieht ja keiner. Und dann geht man Punkt für Punkt durch und überlegt: Ist das wirklich meine eigene Vorstellung – oder eher die der Gesellschaft, meines Umfelds oder gar meiner Eltern? Welcher Typ Mensch würde wirklich zu mir und meinem Leben passen? Manchmal sind Vorstellungen auch veraltet und müssen aktualisiert werden.

Zum Beispiel?
Es gibt Singles, die sich in den Kopf gesetzt haben, dass ihr Traumpartner sportlich sein muss – obwohl sie früher vielleicht einmal sportlich waren, mittlerweile die Wochenenden aber lieber lesend auf dem Sofa verbringen. Oder nur weil jemand Literatur mag, muss die Partnerin nicht ebenfalls Literatur mögen. Man kann sich auch mit literaturinteressierten Freunden austauschen oder einem Literaturclub beitreten.

Heisst?
Ein Partner kann und muss nicht alles erfüllen. Es lohnt sich, offener zu werden, den Fokus zu weiten – auch von den Äusserlichkeiten mehr wegzukommen. Im Optimalfall wartet man nicht auf den Menschen, der einen glücklich macht, sondern tut sich selbst Gutes und kommt mit sich ins Reine. Und wenn man dann einen tollen Menschen trifft, kann dies das eigenes Glück noch abrunden.

Jemanden kennenzulernen, ist in nächster Zeit allerdings eher unwahrscheinlich.
In meinem privaten Umfeld haben sich während des Lockdowns zwei beim Joggen neben einem Friedhof kennengelernt – jetzt sind sie sehr verliebt. Wer hätte dort den Traumpartner vermutet? Ich merke bei den Singles, die zu mir kommen, immer wieder, dass sie sogar von der Art des Kennenlernens ganz genaue Vorstellungen haben. Natürlich sind unsere Kontaktmöglichkeiten aktuell eingeschränkt. Aber man kann auch im Migros miteinander ins Gespräch kommen, obwohl man Maske trägt und Abstand halten muss. Neben dem Chatten empfehle ich Videocalls fürs nähere Kennenlernen – immerhin sieht man so die Mimik, Gestik, Körperhaltung und hört die Stimme. Vielleicht bietet die kommende Zeit sogar die Chance, sich beim Kennenlernen mehr Zeit zu lassen.

Welchen Tipp haben Sie für Singles, die der kommenden Zeit sehr besorgt entgegenblicken?
Erstmal kann helfen, den eigenen Blickwinkel zu überdenken: Aus der Paarberatung weiss ich, dass Paare und Familien, die auf engem Raum zusammenleben, ebenfalls eine sehr schwierige Zeit vor sich haben. Da kann der Alltag in der eigenen 1.5-Zimmer-Wohnung eventuell deutlich angenehmer sein. Wichtig ist ausserdem, zu erkennen, was nicht gut läuft – zum Beispiel, dass man sich allein im Homeoffice sehr einsam fühlt. Und dann aktiv werden, indem man beispielsweise eine Freundin fragt, ob sie ab und zu gemeinsam arbeiten möchte. Es wird in den kommenden Monaten wichtiger denn je, Sorgen und Ängste miteinander zu teilen. Ich höre in meiner Praxis leider immer wieder, dass sich Singles nicht trauen, solche Themen mit guten Freundinnen und Freunden anzusprechen.

Warum?
Viele fragen sich: Sind meine Probleme wirklich so schlimm, dass ich immer wieder damit anfangen darf? Dabei sind enge, vertraute Freundschaften enorm wichtig – oftmals sind sie übrigens auch deutlich langlebiger als Liebesbeziehungen. Es lohnt sich also, da Beziehungsarbeit reinzustecken.

Wie könnte diese «Beziehungsarbeit» aussehen?
Erstmal sollte man sich fragen: Auf wen kann ich mich wirklich verlassen? Wer denkt an mich, von wem höre ich? Aber auch andersrum: Mit wem macht mich der Austausch glücklich und froh – oder auch: Mit wem habe ich spannende Gespräche, die mich weiterbringen? Bei wem habe ich hinterher das Gefühl: Das hat sich jetzt richtig gelohnt?

Und dann?
Dann diese Leute aktiv angehen, ihnen sagen, dass man die Freundschaft schätzt – und konkrete Vorschläge machen. Zum Beispiel: Mittwochabend, 19 Uhr, Skype-Date, du und ich, ein Glas Wein. Regelmässigkeit ist wichtig, damit man sich nicht aus den Augen verliert. Und ich würde empfehlen: Ein paar Minuten Jammern über Corona ist erlaubt – und dann sollte das Thema gewechselt werden. Unser Leben besteht nicht nur aus Corona, also sollten wir uns auch nicht übermässig darauf fixieren.

Einige Singles haben Berührungen während des Lockdowns sehr vermisst. Was raten Sie ihnen?
Das muss man ernst nehmen – wir sind soziale Wesen und brauchen Berührungen. Wenn es möglich ist, würde ich empfehlen, sich regelmässig Shiatsu oder eine Massage zu gönnen. Ausserdem könnte auch eine Option sein, ein, zwei Personen zu bestimmen, mit denen innige Umarmungen weiterhin erlaubt bleiben – vorausgesetzt, diese halten sich an die Massnahmen und fallen nicht unzähligen Menschen um den Hals. Es wird ein Langstreckenlauf. Wir müssen schauen, dass wir alle ihn möglichst gut überstehen.

Beatrice Bucher ist psychosoziale Beraterin mit eigener Praxis in Uster – unter anderem mit dem Schwerpunkt Singles mit Beziehungswunsch. Sie bietet auch Online-Termine an.