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Diese Pandemie zermürbt uns – was nun dagegen helfen kann

Zeitgeist

Diese Pandemie zermürbt uns – was nun dagegen helfen kann

Wir alle sind müde von diesem Jahr, von dieser Pandemie, die uns so gefordert hat. Die WHO nennt diesen Zustand der Erschöpfung Pandemic Fatigue. Was Menschen dagegen helfen kann? Ein Gefühl von Glück, so die Weltgesundheitsorganisation. Wenn das nur so einfach wäre.

Ich bin müde. Nicht, weil ich gestern zu lang unterwegs war (wie denn auch?!). Nicht, weil ich unter Eisenmangel leide. Und auch nicht, weil ich zu lange genetflixt habe letzte Nacht. Ich bin schön brav um halb elf ins Bett, mit Kräutertee und allem Drum und Dran. Ich habe satte achteinhalb Stunden geschlafen. ACHTEINHALB STUNDEN. Das darf ich den vielen übermüdeten Eltern in meinem Umfeld gar nicht sagen. Und trotzdem bin ich erschöpft.

Das geht nicht nur mir so. Wenn ich in meinem Umfeld meine Freundinnen und Freunde nach ihrem Befinden frage, schauen mich lange Gesichter an. Während wir im Sommer noch wie prall gefüllte Luftballons durch das Leben schwebten und alles aufsaugten, das Licht und die Menschen um uns herum – ist die Luft nun draussen. Übrig geblieben sind kleine, verschrumpelte Hüllen, die nicht so richtig wissen, was sie mit sich anfangen sollen.

Verlorene Zeit

Eine Bekannte, 33 Jahre alt und Lehrerin, erklärte mir neulich, dass sie sich wegen ihrer ständigen Gereiztheit für den Rest des Jahres zurückziehe. Sie könne keine privaten sozialen Interaktionen mehr ertragen, aber sie möchte ihr Umfeld nicht vollends vergraulen. Ein Freund, ebenfalls Mitte 30, hat sich entschieden, es doch ernsthaft mit einer losen Affäre zu versuchen, weil er sich auf einen langen, einsamen Winter einstellt. Eine andere Freundin, die ebenfalls in den Medien tätig ist, hat mir ganz offen erzählt, dass sie sich vor nichts so fürchtet, wie vor einem erneuten Lockdown. Die drei Monate im Frühjahr hätten zu den schlimmsten ihres Lebens gehört. «Und diese Zeit bekomme ich nie mehr zurück», sagte sie. Diese Pandemie, sie hat uns verändert.

Die Welt geht in Flammen auf

Wir alle haben dieses Jahr Dinge abgesagt, seien das lang vorbereitete und aufgesparte Ferien, Karriere-entscheidende Auslandaufenthalte, grosse Hochzeiten oder liebevoll geplante Geburtstags-Feten. Davon geht die Welt nicht unter, klar. Aber trotzdem kann es frustrierend sein. Denn hinzukommt: Wir haben unsere Familie seit Monaten nicht mehr richtig umarmt – oder gar nicht mehr gesehen. Ich habe Freunde, die ihre Grosseltern nicht so beerdigen konnten, wie sie es sich wünschten – im grossen Familienkreis – weil es die aktuelle Situation nicht zuliess. Andere duften ihre Schwestern oder besten Freundinnen für Wochen nicht besuchen, nachdem sie ihr Kind auf die Welt brachten. Ich selber musste es ertragen, dass meine 93-jährige Oma in Graubünden im Spital alleine in Quarantäne liegen musste. Noch heute erzählt sie, dass sie sich seit dem Krieg nicht mehr so einsam gefühlt habe.

Tausende Menschen haben wegen dieser Pandemie ihre Existenz verloren, fast eine Million Menschen weltweit sind an dem Virus gestorben. Ganz egal, ob das mehr oder weniger Menschen sind, als bei einer normalen Grippe: Es sind Menschen, die geliebt waren und noch immer vermisst werden. Und dieser Schmerz verbindet sich mit der wirtschaftlichen Unsicherheit, den politischen Unruhen der letzten Monate und dem Gefühl, dass die ganze Welt wortwörtlich in Flammen aufgeht. Hinzu kommen all die Regeln und Restriktionen, die total machbar sind, sich aber dennoch noch immer seltsam anfühlen. Ja, ich habe meine Maske immer dabei, das ist gar keine Frage. Aber sie nervt mich auch noch immer. Nicht aus Prinzip: Ich finde es sinnvoll, sie zu tragen – aber sie stört dennoch.

Und dann sind da noch die Zahlen, diese zweite Welle, in der wir plötzlich zu ertrinken drohen. Die Schweiz versucht mit einer Sperrstunde und einer ausgeweiteten Maskenpflicht einen zweiten Lockdown zu verhindern, in Italien brennen aufgrund von neuen Restriktionen Autos, Spanien hat den Notstand ausgerufen und Deutschland schliesst ab Anfang November alle Gastrobetriebe.

Natürlich sind wir also alle erschöpft, natürlich sind wir gereizt, gestresst müde und demotiviert. Natürlich haben wir die Schnauze voll von allem.

Aussergewöhnliche Kosten

Die WHO hat diese Müdigkeit in der Gesellschaft auch wahrgenommen, sie nennt dieses Phänomen passenderweise Pandemic Fatigue. Man beobachte, dass über ganz Europa hinweg eine Corona-Erschöpfung um sich greife, schreibt die WHO in einem Bericht. Laut Hans Henri Kluge, der WHO-Regionaldirektor für Europa, ist diese Müdigkeit nach so vielen Monaten eigentlich ganz normal. Die Bürger hätten grosse Opfer gebracht, um das Virus einzudämmen. «Es hat aussergewöhnliche Kosten verursacht, die uns alle erschöpft haben, unabhängig davon, wo wir leben oder was wir tun. Unter solchen Umständen ist es leicht und natürlich, sich apathisch und demotiviert zu fühlen.»

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«Natürlich sind wir also alle erschöpft, natürlich sind wir gereizt, gestresst müde und demotiviert. Natürlich haben wir die Schnauze voll von allem.»

Im Frühjahr waren wir noch motiviert. Manche Leute versuchten in carpe-diem-Manier diese Krise als Chance zu sehen und rollten munter auf ihren Yoga-Matten rum. Doch jetzt fehlt uns die Energie, die wir – mit Blick auf die aktuelle Lage – eigentlich so dringend bräuchten. Das liegt bestimmt auch daran, dass kein Ende in Sicht ist. Wir wissen nicht, wann das «Danach» kommt und wie es überhaupt aussehen soll. Professorin und Global-Health-Expertin Ilona Kickbusch erklärte in einem Podcast mit Swissinfo zum Thema, dass wir dringend aufhören sollten von einer Rückkehr zur «Normalität» zu reden. «Wir müssen mit dieser Art des Denkens aufhören. Unsere Gesellschaften, die Art und Weise, wie wir leben, die Art und Weise, wie unsere Volkswirtschaften strukturiert sind, wo Geld verdient wird, wo die Arbeitsplätze geschaffen werden, wird durch diesen Virus umstrukturiert, während wir hier sprechen.»

Menschen müssen glücklich bleiben

Das sind keine rosigen Aussichten. Und das grosse Problem: Die WHO fürchtet, dass aufgrund dieser Corona-Fatigue die Zahl der Leute, die sich nicht an Vorschriften halten, steigen wird. Europaweit sei man deshalb im regen Austausch, um nicht nur Corona, sondern auch die damit verbunden Pandemie-Müdigkeit zu bekämpfen. Das Ziel sei es, die Leute erneut zu motivieren, sich weiterhin solidarisch zu zeigen – und das könne nur gelingen, wenn sie glücklich seien und sich in ihren Sorgen wahrgenommen fühlen. Laut Henri Kluge müsse man den Menschen die Möglichkeit geben, ihr Leben zu leben – ohne das Risiko auf Ansteckung zu vergrössern.

Die Frage ist, wie das gelingt. Wir alle können obviously nicht mal eben in Kim-Kardashian-Manier unseren Freundeskreis in Quarantäne schicken, um dann gemeinsam auf eine einsame Insel zu fliegen (wie ignorant kann ein Mensch – selbst eine Kardashian – sein?!). Henri Kluge spricht denn auch eher von digitalen Feiern oder von Openair-Cinemas, die trotz Sicherheitsvorkehrungen den Zuschauern Freude bereiten. Im Moment sind wir davon aber weit entfernt. In der Schweiz herrscht ab morgen Sperrstunde nach 23 Uhr, Sportveranstaltungen sind gestrichen, an grosse Events ist gar nicht erst zu denken. Dass diese neuen Massnahmen unserem Glücksgefühl wohl eher im Weg stehen, weiss auch Sommaruga: «Wir brauchen die Kontakte, wir brauchen den Ausgang. Wir möchten ins Kino, beim Fussballmatch mitfiebern. Wir brauchen die Nähe zu Familie und Bekannten», sagte die Bundespräsidentin. Eins sei sicher: Je schneller wir den Virus unter Kontrolle bringen würden, desto schneller seien all diese Dinge wieder möglich. Was wir also brauchen, ist vor allem eines: Durchhaltewillen.

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