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Sozialpsychologin Sarah Trentzsch:

Sozialpsychologin Sarah Trentzsch: "Zwischen Müttern und Töchtern liegt oft ein Berg von Unzufriedenheit"

Die Beziehung zwischen Tochter und Mutter ist oft hochemotional, besonders im Erwachsenenalter. Sozialpsychologin Sarah Trenztsch schreibt in ihrem neuen Buch "Warum wir Töchter unsere Mütter brauchen" über das Aushandeln von Differenzen und den Schlüssel zur eigenen Freiheit.

annabelle: Sarah Trentzsch, was halten Sie vom Muttertag?
Sarah Trentzsch: Es ist gut, daran zu erinnern, dass die Mutter eine wichtige Leistung erbringt und was sie uns mitgibt. Denn in diesem Bereich gibt es eine Repräsentationslücke: Die Tätigkeiten von Müttern, die an den häuslichen Bereich geknüpft sind, werden meist nicht wertgeschätzt, sondern als selbstverständlich betrachtet. Leider ist in den meisten Familien die Wertschätzung mit dem Muttertag dann auch wieder abgehakt.

Sie bieten gemeinsame Beratungen für Mütter und Töchter in ihrer eigenen Praxis in Berlin an. Mit welchem Konflikt kommen die meisten zu Ihnen?
Häufig gibt es eine grosse Wut und Distanzwünsche auf Seiten der Tochter, die gleichzeitig starke Schuldgefühle bei ihr auslösen. Es gibt den Wunsch, sich abzugrenzen, aber dieser lässt sich nicht auf Augenhöhe aushandeln, weil die Verstrickung zwischen Mutter und Tochter so stark ist. Für die Tochter ist es schwer, dass sie mit ihrem Wunsch nach Raum und Abstand die Mutter kränken könnte.

Was wäre ein typisches Beispiel für einen solchen Nähe-Distanz-Konflikt bei erwachsenen Töchtern und ihren Müttern?
Bei erwachsenen Töchtern zeigt sich das daran, dass sie sehr emotional auf Beziehungswünsche ihrer Mütter reagieren, anstatt sich abzugrenzen und ihre eigenen Wünsche zu formulieren. Viele Konflikte kreisen darum, dass Mütter mehr Zeit verbringen möchten, mehr eingebunden sein wollen mit Enkelkindern. Das ist Töchtern oft zu viel, weil die Beziehung für sie nicht gleichberechtigt ist. Sie fühlen sich beobachtet, beurteilt. Beide haben die Emanzipation voneinander nicht gut hinbekommen.

Was ist der Unterschied zum Mutter-Sohn-Verhältnis?
Söhnen wird Abgrenzung und Differenzierung eher zugestanden. Von ihnen wird weniger Nähe erwartet und sie können sich aufgrund der Geschlechterdifferenz besser unabhängig davon machen, was ihre Mutter wünscht und braucht. Es gibt also meist weniger gegenseitige Identifikation.

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"Ich brauche innere Freiheit, um ohne Angst in die Aushandlung der Beziehung mit jemandem zu gehen"

In Ihrem Buch "Warum wir Töchter unsere Mütter brauchen" geht es darum, wie wir innerhalb familiärer Beziehungen frei sein können. Sie schreiben: Töchter brauchen ihre Mütter, um frei zu sein. Was bedeutet in diesem Zusammenhang "Freiheit"?
Freiheit ist etwas anderes als Unabhängigkeit. Ich wollte mich nicht auf dieses männliche Autonomie-Ideal beziehen, denn das ist eine Fiktion. Eine Beziehung zu haben, von der ich abhängig bin, die mir wichtig ist, auf die ich bezogen bin, heisst nicht, dass ich mich den Bedürfnissen dieser Person unterwerfen muss. Das Ziel ist, sich innerhalb einer Beziehung, zum Beispiel der zur Mutter, frei bewegen zu können. Wir brauchen innere Freiheit, also die Möglichkeit, uns wirklich selbst entscheiden zu können: Wie viel Nähe möchte ich, wie viel Abstand? Beziehungsfähigkeit ist eine hohe Kunst. Die lernen wir nicht aus uns selbst heraus, sondern in Beziehungen.

Warum ist diese "innere Freiheit" so wichtig?
Das Erleben von dieser inneren Freiheit, also diesem Spielraum innerhalb naher Beziehungen zur ersten Bezugsperson, ist gewissermassen eine Voraussetzung für gute Beziehungen, auch später als Erwachsene. Ich brauche innere Freiheit, um zu verstehen, was ich überhaupt möchte, um dann anschliessend ohne Angst in die Aushandlung der Beziehung mit jemandem zu gehen. Nur so kann eine Beziehung entstehen, die Eigenwilligkeit und Konflikte aushält, in der ich mich nicht automatisch an die andere Person anpasse und verleugne, um die Harmonie nicht zu stören.

Warum ist es für viele Mütter schwer, ihre Töchter frei sein zu lassen?
In jeder Generation zeigt sich aufs Neue, dass Mütter in Lebenslagen geraten, die sehr schwierig sind. Häufig übernehmen sie den grösseren Teil der Kinderbetreuung und des Haushalts, sind häufiger alleinerziehend, werden öfter Opfer von Partnerschaftsgewalt, sind öfter in finanziellen Notlagen. Sie sind unglücklich, gestresst, einsam, haben ungelöste Konflikte in der eigenen Herkunftsfamilie. Diese Belastungen geben sie leider oft an ihre Töchter weiter. Die Tochter ist häufig die wichtigste Person; sie ist verfügbar und sehr stark damit beschäftigt, wie es der Mama geht und was sie braucht. Es ist bequem und tröstlich, einen so nahen und aufmerksamen Menschen zu haben, wenn man in Krisen ist. Zugleich löst es bei Müttern unbewusst Angst aus, wenn ihre Töchter freier sind und mehr Spielraum haben als sie selbst.

Aber ist das heute tatsächlich immer noch so? Stammt dieses Phänomen nicht aus einer Zeit, in der Mütter stärker eingeschränkt und aus dem Berufsleben ausgeschlossen waren?
Im Gegenteil scheint mir das mehr denn je so zu sein, dass Mütter extrem belastet sind. Wichtige gesellschaftliche Veränderung bezüglich der Gleichstellung der Geschlechter haben eben nicht zu einer Befreiung geführt. Frauen wollen im Beruf performen und etwas bewirken. Zugleich fühlen sie sich mehr für Familie, Sorge und generell die Bedürfnisse der anderen verantwortlich als Männer. Der Druck, auch hinsichtlich des perfekten Selbst, hat eher zugenommen. Diese Anforderung, diesen Stress spüren Töchter.

Was ist das Problem, wenn die Mutter regelmässig bei der Tochter Trost sucht?
Häufig passiert diese Dynamik unbewusst und sehr subtil. Aber Mütter sollten ihre Krisen und Konflikte mit einem erwachsenen Gegenüber aushandeln, ihren Sinn und ihre Erfüllung in Erwachsenenbeziehungen suchen, mit Menschen, die sich auch entziehen und Grenzen setzen können. Die Belastungen aus dem Alltag sind schon für eine erwachsene Person überfordernd, aber für ein Kind ist es unzumutbar, diese Krisen abzufedern.

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"Lassen Mütter von Beginn an Differenzen zu, ringen Töchter als Erwachsene weniger darum, sich von ihnen abzuheben"

Warum sagen so viele Frauen: Ich will nicht werden wie meine Mutter?
Mütterlichkeit im Sinne von Fürsorge ist gesellschaftlich entwertet und für viele Töchter nicht erstrebenswert. Hinzu kommen die ungeklärten Konflikte – nicht bearbeitete Gefühle zueinander, Enttäuschung, mangelnde Distanz, nicht empfundene Differenz zwischen den eigenen Gefühlen und denen der Mutter. Da liegt oft ein Berg von Unzufriedenheit zwischen den beiden Frauen. Lassen Mütter von Beginn an Differenzen zu, ringen Töchter als Erwachsene weniger darum, sich von ihnen abzuheben.

Was kann man gegen die Entwertung tun?
Zuerst müssten wir mal erkennen, dass andere Frauen – also auch Mütter und Töchter – nicht unseren Vorstellungen entsprechen und unsere Werte und Lebensweisen teilen müssen. Ausserdem muss Fürsorge gesellschaftlich anders anerkannt werden. Sodass Töchter auch stolz sind auf Mütter, die einen Haufen Kinder grossziehen oder Familienarbeit und andere Arbeit gleichwertig empfinden. Klassisch politisch müssen wir erstmal Zeit und Geld erstreiten für Sorgearbeit. Geld zu verdienen und unentgeltlich zu arbeiten, geht nicht gleichzeitig, das ist eine simple Gleichung: Erhöhte Fürsorge für andere begrenzt Zeit für andere Interessen und Tätigkeiten. Mütter als Sorgende stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung – das muss auch gesellschaftlich greifbar werden.

Was meinen Sie damit?
Mütter dürfen und sollen benennen, was sie tun, wenn sie sich um ihre Kinder kümmern, dass sie es tun wollen und gut darin sind; dass es sich dabei um eine Fähigkeit handelt, eine Leistung. Und eine Tätigkeit, die Grenzen hat; keine unerschöpfliche Ressource, die Frauen einfach gegeben ist. Letztendlich braucht es neue, einflussreiche Bilder und Erzählungen, in denen Mütterlichkeit aufgewertet und als wertvoll und sinnstiftend dargestellt wird. Frauen, die Fürsorgearbeit ausüben, könnten genauso Role Models sein wie Frauen in Führungspositionen. Davon sind wir leider weit entfernt.

Sie schreiben in Ihrem Buch: Mütter sollen ihren Kindern zeigen, dass sie sich noch für anderes interessieren – sei das ein Job, ein Hobby, ein Ehrenamt. Sie sollen etwas Drittes ins Spiel bringen, damit die Kinder lernen, dass auch sie etwas Eigenständiges entwickeln dürfen. Ist das nicht einfach eine weitere Anforderung? Gibt es nicht schon genügend Ansprüche, die Mütter erfüllen müssen?
Mir geht es nicht darum, sich für alles zu interessieren oder permanent dem Glück hinterherzujagen. Erschöpfung und Nichtstun gehören auch zum Leben. Es geht vielmehr darum, als Mutter und generell als Frau herauszufinden: Was ist mir wichtig im Leben, was gibt mir Erfüllung und stiftet Bedeutung, was will ich? Das heisst nicht, dass wir diesem Wunsch alles unterordnen. Aber wenn wir uns nur an den Anforderungen der anderen orientieren, gehen wir aus der Verantwortung für uns selbst. Darum glaube ich, dass es wichtig ist, dem eigenen Begehren im Sinne von dem, was für uns selbst sinnstiftend und erfüllend ist, nachzugehen. Denn das gibt Kraft im fordernden Alltag.

Sehen Sie in diesem Begehren auch das «utopische Potenzial» der Mutter-Tochter-Beziehung, das Sie beschreiben?
Genau. Gerade wenn man sich anschaut, in welchem Ausmass Mädchen heute Symptome wie Depressionen, Essstörungen, Angststörungen aufweisen, denke ich: das eigene Begehren zu finden und dem Raum zu geben, ist ein wichtiges Gegengewicht. Wie Sie gesagt haben: Die Aufgaben und Verpflichtungen von Frauen nehmen nicht ab, im Gegenteil. Wir sind aber nicht nur Pflichterfüllungsmaschinen. Es geht darum, durch die eigenen Leidenschaften, das eigene Wollen, den Erwartungen der anderen etwas Eigenes entgegenzusetzen. Damit machen Mütter nicht zuletzt ihren Töchtern ein Geschenk. Eine Mutter, die leidenschaftlich für etwas brennt, von der will man sich nicht abwenden, die ist eine Inspiration.

Sarah Trentzsch bietet in ihrer Praxis psychosoziale Beratung an und ist zudem Koordinatorin in einer Interventionsstelle gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Ihr Buch «Wofür wir Töchter unsere Mütter brauchen» erschien Anfang Mai im Gutkind Verlag.

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Ulrike

Ich kann jedes Wort dieses Interviews tief nachempfinden.
Denn auch ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, wie stark sich das Fehlen einer emotional verfügbaren, klaren und fürsorglichen Mutter auf mein Leben ausgewirkt hat. Meine Mutter war in vielen Momenten abwesend, innerlich wie äußerlich, und keine der Eigenschaften, die hier als Grundlage einer gesunden Beziehung genannt werden, waren Teil meines Aufwachsens.
Als Erwachsene habe ich die Auswirkungen lange reflektiert, an mir gearbeitet, die Trauer zugelassen, das *verletzte Kind* gewürdigt und irgendwann begonnen, für mich selbst „Mutter“ zu sein.
Nicht aus Trotz, sondern aus der tiefen Sehnsucht nach innerer Freiheit.
Ich danke Sarah Trentzsch für diese klugen Worte; sie geben Sprache für ein Thema, das viele von uns diffus fühlen, aber kaum fassen können.
Mein Glaubenssatz meiner dieser Reifung und #learning Ich darf frei sein und dennoch lieben. Ich darf Raum brauchen und dennoch verbunden bleiben.

Ursula Ensmann

Sagen wir es einmal so, das kleine Kind will die fürsorgliche Mutter, das erwachsene Kind sieht nur sich selbst. Die fürsorgliche Mutter soll nur nach der Pfeife der Tochter tanzen. Ja und dann kann es passieren, dass Tochter und Mutter das Licht aufgeht. Sie sehen, dass sie sich ähnlich sind, sie verzeihen sich gegenseitig. Sie geben das gute Beispiel für die nächste Generation.Lasst uns versöhnen sein.