Gefährlicher Trend: Looksmaxxing bringt Kids zum Weinen
Löffel im Mund, Kaugummi für die Jawline oder Schläge aufs Gesicht: Looksmaxxing treibt junge Männer per App zur Selbstoptimierung. Pseudowissenschaftliche Bewertungen gefährden dabei Körper und Psyche.
- Von: Sarah Lau
- Stocksy
Sollten Sie sich fragen, warum auch Ihr Sohn oder Partner seit Neuestem einen zwischen die Lippen gesteckten Löffel wippen lässt, Zungendruck auf den Gaumen ausübt («mewing»), wie wild auf Harzklumpen kaut («facial fitness gum») oder gar mit einem Hämmerchen seine Wangen bearbeitet («bone smashing»), so hat die Antwort sehr wahrscheinlich etwas mit seiner «jawline» zu tun – und mit dem Wunsch nach einem «Diamond Face», einer diamantförmigen Gesichtsform mit schmal zulaufendem Kinn und markanter Kieferpartie.
Was an die Karikatur eines Ken-Puppengesichts erinnert, ist dank Influencern wie Kareem Shami, Jordan Barrett und Francisco Lachowski zum neuen Schönheitsideal aufgestiegen. Um diesem nachzueifern und das eigene Aussehen sozusagen zu maximieren, lädt Mann sogenannte «Looksmaxxing»-Apps herunter.
Was ist Looksmaxxing?
Mithilfe entsprechender Apps wird – je nach Auslegung – ein individueller Optimierungs- oder Trainingsplan erstellt: von Hautpflege, Styling und muskelstärkenden Übungen («soft maxxing») bis hin zu plastischer Chirurgie, Hormoneinnahme und sogar dem Zertrümmern eigener Kieferknochen («hard maxxing»). Hauptsächlich sind es Männer, die solche Looksmaxxing-Apps nutzen, wie Zahlen der populären Website Looksmax.org nahelegen. Von den rund drei Millionen Besucher:innen im Oktober waren 65,84 Prozent männlich; die grösste erfasste Altersgruppe lag zwischen 18 und 24 Jahren – jüngere Nutzer wurden nicht berücksichtigt.
Wie funktionieren die Apps?
Lässt man extreme Interventionen einmal aussen vor, könnte man meinen, ein paar gesichtsyogaähnliche Übungen schadeten niemandem und die Apps übernähmen lediglich die Ratgeberfunktion früherer Magazinartikel à la «Sexy in 10 Tagen». Doch es lohnt sich, genauer hinzuschauen.
In Apps wie «Looksmaxx» oder «Facemaxx» geht es darum, den eigenen «overall attractiveness score» oder die gemessene «masculinity» zu bestimmen – stets im direkten Vergleich und Wettbewerb mit anderen Nutzern. Nach dem Druck, das perfekte Sixpack zu präsentieren, gilt es nun auch, dazu das passende Köpfchen zu beweisen. Dafür lädt man Fotos seines Gesichts hoch – wohl nicht selten, ohne zuvor Datenschutzbestimmungen ausreichend zu prüfen –, die anschliessend von KI vermessen werden.
Der zugrunde liegende Referenzdatensatz besteht häufig aus Bildern von Prominenten, Models und Social-Media-Influencer:innen – also Menschen, die besonders hohe Attraktivitätsbewertungen erhalten haben, gemäss normativ voreingenommenem Algorithmus wenig divers aufgestellt sind und nun als Benchmark für Normalverbraucher dienen.
Von Kieferlinie über Wangenknochen und Augenabstand bis hin zu Hautqualität, Haaransatz und Fülle der Lippen wird jede Facette des Gesichts mathematisch zerlegt, vermessen und bewertet – entweder nach Punkten («Du bist eine 6/10» oder «63 von 100 Punkten – unteres Drittel») oder über ein Ampelsystem: Grün steht für «good», Orange für «room for improvement», Rot für «major issues». Gerade für in der Identitätsfindung steckende Heranwachsende, die vorher nicht einmal wussten, was eine «hairline» ist, gleicht es einem Schlag in die Magengrube, plötzlich zu hören, diese läge im Bereich «schwerwiegendes Problem».
"In Apps wie Looksmaxx wird die eigene Attraktivität im Wettbewerb mit anderen bewertet"
Selbstzweifel als Umsatzmotor
Besonders perfide ist, dass ein solcher Attraktivitäts-Test den Eindruck einer neutralen Analyse vermittelt. Mit jeder Berechnung wird der Glaube befeuert, Schönheit sei ein optimierbarer Code – knackbar durch Willensstärke und die richtige App.
Und natürlich steckt hinter dem vermeintlich harmlosen Selbstoptimierungstrend ein hochprofitables digitales Geschäftsmodell, das die Selbstzweifel von Heranwachsenden kommerzialisiert. Die meisten Looksmaxxing-Apps folgen dem klassischen Freemium-Prinzip: Ein kostenloser Grundtest reicht aus, um Unsicherheiten zu wecken – alles Weitere kostet. KI-gestützte Coachings, personalisierte Trainingspläne wie «In 30 Tagen zum Traumgesicht», detaillierte Anatomie-Analysen oder zusätzliche Foto-Scans werden erst nach Abschluss eines Abos freigeschaltet, meist für rund drei Franken pro Woche.
Die Apps setzen dabei auf Level-Up-Mechanismen, die man aus der ebenfalls männlich dominierten Gamingszene kennt. Die KI-basierte App fungiert als ästhetischer Orakelautomat, der pseudowissenschaftlich exakte Werte ausspuckt – und damit den Bedarf nach immer neuen, kostenpflichtigen Optimierungsschritten erst erzeugt.
Psychologisch führt das zu Feedback-Abhängigkeit: Nutzer erleben Dopamin-Peaks bei Score-Steigerungen und Scham bei Verschlechterungen – ein Mechanismus, den die Social-Media-Forschung seit Langem beschreibt.
"Hinter dem Selbstoptimierungstrend steckt ein Geschäftsmodell, das Selbstzweifel von Heranwachsenden kommerzialisiert"
Soziale Medien als Booster
Verstärkt wird dieser Trend durch die Logik sozialer Plattformen: TikTok, Instagram und YouTube belohnen extreme Inhalte mit Reichweite – je drastischer die Verwandlung der Looksmaxxer, desto mehr Views. Algorithmen halten Nutzer in ästhetischen Feedbackschleifen gefangen, während Influencer:innen mit vermeintlichen Vorher-Nachher-Erfolgen Klicks generieren. Jungs geraten so in denselben digital verstärkten Optimierungsdruck, der früher fast ausschliesslich Mädchen und Frauen vorbehalten war.
Erste Krankenkassen wie die deutsche Barmer greifen das Thema schon mit entsprechenden Warnhinweisen auf. Eine neue Untersuchung des Soziologen Michael Halpin an der Dalhousie University «When Help Is Harm: Health, Lookism and Self-Improvement in the Manosphere» belegt nun, wie allein die in Looksmaxxing-Foren verbreiteten Ideale und Ratschläge die psychische und körperliche Gesundheit junger Männer gefährden.
In den Diskussionen werden Eingriffe wie Botox, Nasenoperationen oder Mewing normalisiert, während Nutzer Fotos von sich hochladen und von der Community für vermeintliche Makel kritisiert werden. Laut der Studie führt das zu einer systematischen Demoralisierung männlicher User, die sich in extremen Fällen zu Selbstverletzung oder Suizid gedrängt fühlen können. Die Forschenden ordnen Looksmaxxing deshalb als aufkommendes Gesundheits- und Sozialproblem ein.
Kein Nischenphänomen
"Erste Studien zeigen: Looksmaxxing-Apps können zu Selbstverletzung oder Suizid führen"
Ärzt:innen schlagen Alarm
Fachgesellschaften kritisieren die wissenschaftliche Basis der Orthotropics-Lehre als unzureichend; erwachsene Gesichter lassen sich ohne Operation eh kaum verändern. Zudem warnen Ärzt:innen vor bleibenden Schäden an Kiefergelenken, Nerven und Knochen. Noch gefährlicher wird es, wenn man hört, dass Videos mit dem Suchbegriff «bone smashing tutorial» laut dem Global Center for Health Security des University of Nebraska Medical Center auf TikTok bereits über 267,7 Millionen Aufrufe erzielt haben und es nicht immer beim Anschauen bleibt. Hintergrund ist der medizinisch falsche Irrglaube, dass das (An-)brechen von Knochen deren Wachstum stimuliert.
Auch Kinnkorrekturen sind trotz der Stichworte «ambulant» und «durchführbar in sechzig bis neunzig Minuten» kein Spaziergang. Darüber hinaus gibt es immer mehr Billiganbieter, gerade in Südkorea, Thailand und Osteuropa, wo eine neue «V-Line» unter massiven kieferchirurgischen Massnahmen schon ab ca. 5'000 Dollar zu haben ist.
Nicht selten ist das mit erheblichen Risiken verbunden, allein durch unzureichende Nachsorge oder nicht zertifizierte Anbieter. Eine Zufriedenheitsgarantie gibt es selbstredend nicht. Laut einer Studie im Journal of Oral and Maxillofacial Surgery (2022) bereuen etwa 11 Prozent der Patient:innen ästhetische Kinnoperationen, und fast 30 Prozent wünschen sich nachträgliche Korrekturen.
Die Ideologie: Frauenfeindlich und menschenverachtend
Etymologisch verweist Looksmaxxing auf den Begriff «min-maxing» aus der Game Theory – die Maximierung eines Parameters bei gleichzeitiger Minimierung anderer. Anstelle von Stil, Ausstrahlung oder Charisma dominieren heute Begriffe, die nicht nur klingen, als stammten sie direkt aus einem Videospiel. Nehmen wir etwa «mogging», jemanden übertrumpfen.
In der Looksmaxxing-Community steht der Ausdruck dafür, mit seinem Aussehen die Oberhand zu gewinnen – also attraktiver zu wirken als eine andere Person und sie damit symbolisch zu dominieren. Ein besonders kantiger Kiefer, ein markanter Blick oder ein symmetrisches Gesicht gelten hier nicht nur als ästhetische Vorteile, sondern als genetische Privilegien, die als soziale Waffen eingesetzt werden. Wer «moggt», gewinnt; wer «gemoggt» wird, verliert.
Rassenlehre 2.0?
Wer fleissig trainiert und seine Fotos regelmässig hochlädt, erhält dann etwa als Feedback seiner App: «You improved your looks! Keep going to reach Chad tier!» Chad was? Der Ausdruck «Chad tier» entstammt der Incel- und Manosphere-Sprache. Ein «Chad» steht dort für den Inbegriff des attraktiven, begehrten, genetisch privilegierten Mannes – jemand, der Erfolg bei Frauen hat und gesellschaftlich dominant erscheint.
In der internen Tier-Liste des Looksmaxxing ist «Chad tier» die höchste Stufe der Attraktivität; darunter folgen Kategorien wie «normie tier», «average tier» oder «subhuman tier». Die Einteilung erinnert in ihrer Logik an Formen der Entmenschlichung, wie sie aus totalitären Ideologien bekannt sind – auch aus der Rassenlehre des Dritten Reichs. Man darf also zu Recht alarmiert sein.
"Extrem: auf TikTok kursieren unter dem Hashtag bonesmashing Anleitungen zum Knochenbrechen"
Körperliche Merkmale werden in ein Ranking sozialer Wertigkeit verwandelt. Da wird der Canthal Tilt – der Winkel zwischen innerem und äusserem Augenwinkel – plötzlich zum Indikator für Dominanz oder Unterlegenheit. Ein nach oben geneigter Winkel gilt als jugendlich und durchsetzungsstark, ein nach unten gerichteter als müde oder gar unterlegen.
Ähnlich verhält es sich mit dem «zygomatic arch», dem Jochbogen, dessen Ausprägung angeblich Attraktivität, Gesundheit und eine fast schon mystisch aufgeladene «Jägerenergie» signalisiere, die in dem Idealbild der «hunter Eyes» gipfeln soll: tiefliegende, mandelförmige Augen, eingefasst von hohen Wangenknochen. Gefolgt von der «supraorbital ridge», dem Stirnbogen über den Augen, der wiederum in maskuline Stärke oder feminine Schwäche übersetzt wird.
Gar nicht attraktiv: Der Sexual Market Value
Forschung wie jene von Michael Halpin zeigt, dass solche Körperideale in Krisenerzählungen männlicher Identität eingebettet sind. In Teilen der Manosphere gilt Selbstoptimierung als Reaktion auf Gefühle von Machtverlust oder Zurückweisung. Doch statt diese Erfahrungen kritisch zu reflektieren, werden Frauen dafür verantwortlich gemacht – als Gatekeeper eines vermeintlichen Sexualmarkts, als Ursache männlicher Frustration, als Hindernis, das es zu überwinden gilt.
Dementsprechend nutzen misogyn geprägte Online-Subkulturen Looksmaxxing bewusst. Incel-Foren und Plattformen wie lookism.net instrumentalisieren Attraktivitätsscores, um frauenfeindliche Narrative zu stabilisieren: Männer werden in Gewinner und «genetische Verlierer» sortiert, Frauen auf ihren Nutzen für den männlichen Status reduziert.
Wahre Schönheit
Auch wenn gewiss nicht jeder Looksmaxxing-User misogyne Überzeugungen teilt, sollte dennoch alarmieren, wie schnell ein vermeintlicher Selbstoptimierungstrend in geschlechterfeindliche Deutungsmuster kippen kann. Zugleich zeigt sich, dass der damit verbundene ausbeuterische Schönheitsdruck längst geschlechterübergreifend wirkt. Dass mehr als eine der Apps auch Resilienzübungen beinhaltet, erscheint geradezu zynisch, bedenkt man, auf welch gesundheitsgefährdenden und herabsetzenden Mechanismen das System baut.
Wirklich attraktiv wäre eine Kultur, in der Gesichter nicht nach Punkten oder Winkeln bewertet werden, sondern nach etwas, das keine App vermessen kann: Persönlichkeit, Würde, Eigenheit.
Wenn also Ihr Sohn, Freund oder Mann das nächste Mal einen Löffel zwischen den Lippen wippen lässt, empfiehlt es sich, genauer nachzufragen und trotz der Flut an Anglizismen nicht gleich abzuschalten.