
Frühjahrsmüdigkeit: Warum sie auftritt und welche Tipps helfen
Viele fühlen sich im Frühling plötzlich müde – doch warum? Gibt es Frühjahrsmüdigkeit wirklich, wie lange dauert sie und was hilft dagegen? Die Integrative Ärztin Christin Caplan erklärt die Ursachen und gibt Tipps.
- Von: Marie Hettich
- Bild: Stocksy
annabelle: Gibt es die Frühjahrsmüdigkeit wirklich?
Christin Caplan: Ja, die Frühjahrsmüdigkeit ist ein Phänomen, das einige Menschen beim Wechsel der Jahreszeiten vom Winter ins Frühjahr erleben. Ich wähle bewusst das Wort "Phänomen" – Frühjahrsmüdigkeit ist keine Krankheit, sondern eine natürliche Reaktion des Körpers auf die Veränderungen in seiner Umgebung.
Wie äussert sich die Frühjahrsmüdigkeit?
Wir fühlen uns ungewöhnlich energielos und träge, manchmal auch emotional unruhig.
Wie lange hält sie an?
Meist nur zwei bis vier Wochen.
Woran liegt es, dass einige im Frühjahr so durchhängen?
Der körpereigene Botenstoff Melatonin steuert in Anpassung an das Tageslicht unseren Schlaf-Wach-Rhythmus und ist damit ein wichtiger Regulator unserer inneren Uhr. Im Winter produziert unser Körper aufgrund des wenigen Tageslichts mehr Melatonin, was zu einer allgemein ruhigeren Stoffwechsellage beiträgt. Mit der zunehmenden Tageslichtlänge und -intensität im Frühjahr wird die Melatoninproduktion allmählich reduziert. Dieser Anpassungsprozess dauert einige Wochen und kann vorübergehend zu Müdigkeit führen.
Welche Rolle spielt die Zeitumstellung?
Die Umstellung auf die Sommerzeit kann die innere Uhr kurzzeitig aus dem Takt bringen. Besonders Frühaufsteher:innen mit einer festen Weckzeit fehlt am Morgen nach der Zeitumstellung das Tageslicht, was das Aufstehen erschweren kann. Zudem ist die Melatoninausschüttung noch an den winterlichen Tageslichtrhythmus angepasst und braucht einige Zeit, um sich an die neuen Lichtverhältnisse anzupassen.
"Frühjahrsmüdigkeit ist kein ‹Fehler›, den es zu beheben gilt"
Gibt es noch weitere Ursachen für die Frühjahrsmüdigkeit?
Steigende Temperaturen bewirken eine Weitung der Blutgefässe, was den Blutdruck leicht senken kann. Dies kann sich bei manchen Menschen als Müdigkeit oder Schwindel bemerkbar machen. Besonders Wetterumschwünge – an einem Tag warm, am nächsten kalt – können den Kreislauf belasten und den Körper fordern. Nach Monaten mit wenig Sonnenlicht sind zudem unsere Vitamin-D-Speicher oft leerer, was sich auf den Energiehaushalt auswirken kann. Allerdings ist dies individuell unterschiedlich, da unser Körper auch Vitamin D speichern kann. Und dann gibt es noch den Blickwinkel der komplementärmedizinischen Polarity-Therapie.
Erzählen Sie!
Die komplementärmedizinische Polarity-Therapie betrachtet den Wechsel vom Yin-betonten Winter (Ruhe, Verdichtung) zum Yang-betonten Frühjahr (Bewegung, Ausdehnung) als eine Phase energetischer Veränderungen. Dabei wird angenommen, dass insbesondere die Leber als zentrales Entgiftungsorgan im Frühjahr verstärkt aktiviert wird, was in einigen Fällen mit emotionaler Reizbarkeit, Müdigkeit und Kopfschmerzen einhergehen kann. Diese Sichtweise ist nicht wissenschaftlich belegt, bietet jedoch eine ergänzende Perspektive auf den Anpassungsprozess des Körpers.
Wer ist von Frühjahrsmüdigkeit besonders betroffen?
Menschen, die bereits unter niedrigem Blutdruck oder Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus leiden. Zum Beispiel also Schichtarbeiter:innen, Menschen mit Schlafstörungen oder Erschöpfungszuständen. Mit dem Frühjahr beginnt für viele Menschen auch die Allergiesaison. Die Histaminausschüttung durch den Kontakt mit Pollen kann die Frühjahrsmüdigkeit verstärken.
Was kann gegen die Frühjahrsmüdigkeit helfen?
Wichtig erscheint mir vor allem das Bewusstsein für die zyklische Natur und unsere ständige Wechselwirkung mit unserer Umwelt. Müdigkeit ist kein "Fehler", den es zu beheben gilt, sondern Teil des natürlichen Anpassungsprozesses an die Veränderungen der Jahreszeiten. Es gibt aber Tipps, die in Zeiten der Veränderung unterstützend wirken können.
Welche sind das?
+ Schon morgens etwas natürliches Sonnenlicht tanken
+ Eine bewusste Ernährung: Am besten, man beginnt den Tag mit einem nährstoffreichen Frühstück und beendet ihn mit einem leichten, nicht zu späten Abendessen
+ Ausreichend Wasser trinken
+ Täglich mindestens 30 Minuten Bewegung an der frischen Luft
+ Ausreichend schlafen (acht Stunden)
+ Eine achtsame Bewegungspraxis wie Yoga oder Chi Gong in den Alltag einbauen
+ Komplementärmedizinische Verfahren wie Polarity oder TCM können zusätzlich zur Steigerung der Vitalität eingesetzt werden
Was lieber vermeiden?
Die unnötigsten Energieräuber sind starke Blutzuckerschwankungen durch übermässigen Zuckerkonsum und ein zu später oder hoher Kaffeekonsum. Besonders bei sensitiven Menschen kann Koffein am Nachmittag den Schlaf-Wach-Rhythmus stören.
Woran könnten solche Durchhänger jahreszeitenunabhängig liegen?
Ein Mangel an Mineralstoffen und Vitaminen (zum Beispiel Eisen, Vitamin B12, Folsäure) sind vor allem bei Menschen mit pflanzenbetonten Diäten und bei menstruierenden Frauen häufig und können durch eine einfache Blutabnahme abgeklärt werden. Eine weitere Ursache können Ein- oder Durchschlafstörungen sein. Bei länger andauernden Erschöpfungszuständen, die zum Beispiel mit Konzentrationsstörungen und gedrückter Stimmung einhergehen, ist an eine depressive Episode zu denken. Eine hausärztliche Vorstellung ist in jedem der genannten Fälle sinnvoll, um gemeinsam und individuell das weitere Vorgehen zu besprechen.
Dieses Interview wurde schriftlich geführt.

Christin Caplan ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin mit Schwerpunkt Psychosomatische und Psychosoziale Medizin und praktiziert im Zentrum für Integrative Medizin Sihlmed in Zürich. Sie ist zudem ausgebildet als Mind-Body-Medizin-Therapeutin sowie als Yogalehrerin. Mit ihrem Start-up Mindbody Collective bietet sie Yoga- und Meditationsretreats an.