
Psychische Gesundheit: Das wichtigste Learning aus meinem Erste-Hilfe-Kurs
Nothelferkurse lehren, wie eine stabile Seitenlage funktioniert oder ein Druckverband angelegt wird. Doch wie lässt sich jemandem helfen, der eine akute depressive Phase durchleidet? Ein Besuch im Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit.
- Von: Kristina Reiss
- Bild: Stocksy
Inhaltshinweis: Psychische Erkrankungen, Sucht, Suizid
«Jemand droht zu ersticken – was tun Sie?» Die angesprochene Frau überlegt nicht lange: «Auf den Rücken klopfen oder das Heimlich-Manöver anwenden.» «Und wenn jemand stark blutet?» «Einen Druckverband anlegen, 144 anrufen.» Die Passant:innen, die im Rahmen einer Strassenumfrage angesprochen wurden, wissen Bescheid.
In der ersten Minute des kurzen Videoclips prasseln ihre Lösungsvorschläge nur so nieder. Offensichtlich ist allen Befragten klar, was im Notfall zu tun ist. Bis die Moderatorin aus dem Off wissen will: «Was tun Sie, wenn jemand von der Brücke springen will?» Betretenes Schweigen. Lange. «Das ist eine sehr schwierige Frage», sagt eine Frau schliesslich.
Jeder zweite Mensch in der Schweiz erleidet einmal im Leben eine psychische Erkrankung. Praktisch alle kennen in ihrem Umfeld Personen, denen es psychisch nicht gut geht oder eine Zeit lang nicht gut gegangen ist. Doch während dank Nothelferkurs den meisten bekannt ist, was bei körperlichen Notfällen zu tun ist, herrscht bei psychischen Schwierigkeiten oft Ratlosigkeit. Und eine gewisse Scheu.
Denn nach wie vor sind psychische Erkrankungen mit einem Stigma behaftet. «Dabei wäre es ein wichtiger erster Schritt, wenn Betroffene offen über ihre Probleme reden könnten – und ihr Umfeld nicht wegschauen, sondern zuhören und sie ernst nehmen würde», sagt Renata Merz.
Helfen statt wegschauen
Die Arbeitspsychologin steht an diesem Morgen in einem Zürcher Seminarraum. Sie wird neun Frauen und einen Mann in den nächsten zwei Tagen durch die Untiefen psychischer Erkrankungen navigieren. Bei fast allen der zehn Kursteilnehmenden handelt es sich um Fachpersonen – was laut Renata Merz eine eher ungewöhnliche Zusammensetzung ist.
In der Regel sitzen auch Angehörige von Betroffenen im Seminarraum, erzählt sie. Menschen etwa, die jemanden im Arbeitsumfeld, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder in der Familie mit einer psychischen Erkrankung erlebt haben. Diesmal jedoch arbeiten die Teilnehmenden in der Wohnbegleitung, in der Arbeitsintegration oder ehrenamtlich in einem Kriseninterventionsteam.
Renata Merz spricht zunächst darüber, was psychische Gesundheit ist und an welchen Anzeichen man eine Depression erkennt. Erläutert die Symptome von Burnout, Angststörungen und Panikattacken und zählt die Risikofaktoren für Suizid auf. Sie redet über traumatische Erlebnisse, über Substanzabhängigkeit und Psychosen. Die Teilnehmenden wiederum sollen vor allem üben: Üben, Betroffene anzusprechen. Helfen statt wegschauen.
Explizit für Laien konzipiert
ensa – so heisst das schweizweite Programm, das Ersthelfende bei psychischen Problemen ausbildet. Es ist das Pendant zum Nothelferkurs für körperliche Beschwerden und wurde explizit für Laien konzipiert. Es geht also nicht darum, am Ende Diagnosen stellen zu können oder Therapieangebote zu machen. Stattdessen lernt man mit ensa, psychische Probleme in seinem Umfeld frühzeitig zu erkennen, auf Betroffene zuzugehen und Hilfe anzubieten, bevor es zu spät ist.
Der Arbeitskollege kommt nicht mehr mit zum Zmittag und meldet sich häufig krank? Die Freundin sagt alle Treffen ab und zieht sich zurück? «Ersthelfende sollen im Idealfall Leute ansprechen, die sie kennen, die sich verändert haben, und möglichst schnell Fachleute hinzuziehen», gibt Renata Merz mit auf den Weg.
Doch Ansprechen ist gar nicht so einfach. Das wird spätestens in den Kommunikationstrainings klar, denen niemand ausweichen kann. Jede Position, jede Perspektive muss dabei eingenommen werden: die der Betroffenen, die der Ersthelferin, die der Feedbackgebenden.
Rollenspiele
Nachdem ich mich in den ersten Runden erfolgreich davor gedrückt habe, spiele ich also eine Betroffene mit Angststörung und gebe mich ganz in die Rolle. Als fiktive «Emma, 42» wird mir dabei nicht vorgeschrieben, wie ich mich zu verhalten habe. Doch instinktiv wimmle ich zunächst die vorsichtigen Fragen der Ersthelferin ab («Nein, nein, alles gut. Ist nur gerade etwas viel. Es gibt halt so Phasen. Kennst du ja bestimmt») und will keine Hilfe annehmen. Unruhig rutscht die Ersthelferin auf dem Stuhl hin und her. Doch sie lässt nicht locker, reagiert auf Augenhöhe und spiegelt «Emma», dass sie sich für sie interessiert.
Als sie niederschwellige Unterstützung anbietet («Lass uns gemeinsam googeln, welche Anlaufstellen es gibt»), fällt es mir schwer, meine blockierende Rolle länger aufrechtzuerhalten – und ich lasse mich als Emma schliesslich darauf ein. Dabei realisiere ich, wie wichtig es ist, in die verschiedenen Rollen zu schlüpfen und unterschiedliche Perspektiven zu erleben.
Ein anderes Mal bin ich die Ersthelferin und mir gegenüber sitzt «Beate, 35», meine fiktive Arbeitskollegin. «Seit ihrer Trennung vor sechs Monaten hat sie sich oft krankgemeldet und kommt häufiger mit einer Fahne zur Arbeit», steht im Fallbeschrieb. «Du befürchtest, dass sie vielleicht unter einer Depression leidet, sorgst dich, dass ihr Alkoholkonsum ihren Job gefährdet, und entscheidest dich, sie anzusprechen.»
"In tue ich mich schwer, meine fiktive Arbeitskollegin auf ihr eventuelles Alkoholproblem anzusprechen"
Mittlerweile habe ich mein Handwerkszeug verinnerlicht – dazu gehört ROGER, ein Leitfaden für das Vorgehen bei psychischen Erkrankungen.
«R» steht dabei für «Reagieren» – Beate zum Beispiel ansprechen, auf einen Kaffee einladen. «O» für «Offen und unvoreingenommen zuhören» – ihr gezielt Fragen stellen, sie aber vor allem erzählen lassen. «G» für «Gib Informationen» – erwähnen, dass es für Alkoholprobleme und Depressionen Hilfsangebote gibt. «E» für «Ermutige zu professioneller Hilfe» – Beate anbieten, mit ihr konkret nach Fachpersonen oder Fachstellen zu suchen. «R» für «Ressourcen aktivieren» – vorschlagen, Freunde oder jemanden von der Familie hinzuzuziehen.
ROGER als Leitfaden
Kurz: ROGER ist ein grober Leitfaden, dessen einzelne Schritte jedoch nicht zwingend in dieser festen Reihenfolge angewendet werden müssen. «Am Ende entscheiden immer die konkrete Situation und der gesunde Menschenverstand der Ersthelfenden», sagt Renata Merz.
So viel jedenfalls in der Theorie. In der Praxis jedoch tue ich mich schwer, meine fiktive Arbeitskollegin auf ihr eventuelles Alkoholproblem anzusprechen. Denn «Beate» sitzt vor mir und lächelt meine zaghaften Versuche einfach weg. In den fünf Minuten, die für das Szenario eingeplant sind, rede ich mit ihr zwar über ihre Trennung, schaffe es aber nicht, das Thema Alkohol anzuschneiden. Und bin verwundert: Warum ist das eigentlich so schwierig? Auf dem Papier hört es sich doch gar nicht so kompliziert an!
Ein schwacher Trost: Den Ersthelferinnen in den anderen Gruppen geht es ähnlich – selbst diejenigen, die eigentlich vom Fach sind, haben Mühe, Probleme direkt anzusprechen. Die Workshopleiterin wundert dies nicht: «Das lernt man auch nicht im Studium oder in der Ausbildung», so die Psychologin.
Psychologin Renata Merz"In der Schweiz sterben dreimal mehr Menschen durch Suizid als im Strassenverkehr"
Mein grosses Learning in diesem zweitägigen Kurs heisst deshalb: «Sei mutig und sprich den Elefanten im Raum an!» Renata Merz wird nicht müde, diesen Grundsatz immer und immer wieder zu betonen. Selbst bei suizidgefährdeten Menschen oder bei Menschen, die in einer Depression stecken, ermuntert sie dazu. Und zwar direkt: «Hast du schon einmal daran gedacht, dir das Leben zu nehmen?», könnte man als Ersthelfende beispielsweise fragen. «Und wenn die Person ‹Ja› sagt?», will eine Teilnehmerin wissen. «Dann einfach zuhören, erzählen lassen, ohne eigene Wertung», rät die Psychologin.
Gleichzeitig beschwichtigt sie: «Ist eine Person tatsächlich suizidgefährdet, wird das Risiko, dass sie zur Tat schreitet, durch deine direkte Nachfrage nicht grösser.» Vielmehr sei das Gegenteil der Fall: Die Person erhalte so Gelegenheit, über ihre Belastung zu reden, und spüre, dass sich jemand um sie sorgt, sie ernst nimmt. Wichtig sei es ausserdem, Betroffene dazu zu bewegen, eine Fachperson aufzusuchen – dies kann die Hausärztin sein oder jemand von einer psychologischen Beratungsstelle.
Denn ernst zu nehmen ist das Thema unbedingt: Schliesslich sterben in der Schweiz jährlich dreimal mehr Menschen durch Suizid als im Strassenverkehr. «Wir müssen deshalb dringend etwas an der Prävention ändern», findet die Psychologin. Eine offene Kommunikation könne der Anfang sein.
In den Kommunikationstrainings geht es dabei meist um Konstellationen im Arbeitsumfeld, in der Nachbarschaft oder im Freundeskreis. «Psychische Erkrankungen in der Partnerschaft hingegen sind für Erste-Hilfe-Leistende noch ein wenig komplexer, das können wir hier nicht abdecken», begründet Renata Merz ihre Auswahl. Auch für Erste Hilfe bei psychischen Erkrankungen von Jugendlichen gelten andere Regeln – deshalb bietet Pro Mente Sana hier einen separaten ensa-Workshop an.
Das korrekte Wording
Der Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit ist jedoch nicht nur ein Übungsfeld in direkter, empathischer Kommunikation, sondern eröffnet auch viele neue Perspektiven: Uns Teilnehmenden wird klar, dass die korrekte Terminologie «Suizid» ist – und nicht etwa «Selbstmord» oder «Freitod». «Schliesslich wollen Betroffene meist nicht sterben, sondern möchten nur, dass ihr Leiden aufhört», so die Psychologin. Dass das grösste Suizid-Risiko die vielen verfügbaren Medikamente zu Hause sind – und Ersthelfende deshalb mit potentiell Gefährdeten den Medi-Schrank durchschauen sollten.
Und wir bekommen anschaulich demonstriert, wie sich eine Psychose anfühlen kann: Dazu flüstert Renata Merz einer Teilnehmerin, die sich im Gespräch mit einer anderen befindet, permanent ins Ohr. Die Folge: Die Betroffene ist unaufmerksam und verwirrt («Boah, fühlt sich das schlimm an!»), was wiederum ihr Gegenüber irritiert.
Gleichzeitig handelt es sich nicht um einen Selbsterfahrungskurs: Niemand muss sich hier nackig machen, von eigenen Erfahrungen erzählen. Stattdessen sind die zwei Tage stark geführt. Im Grunde, findet Renata Merz, gehe es bei den Kursen vor allem darum, andere wahrzunehmen, sich auf sie einzulassen. «Man könnte auch sagen: Der Kurs zeigt, wie man in unserer Gesellschaft idealerweise miteinander umgeht»: Offen und interessiert sein für die Bedürfnisse anderer, Probleme direkt ansprechen. Klingt in der Theorie schon fast banal. Wenn nur die Umsetzung nicht so knifflig wäre.
Zur Erinnerung klebt an meinem Schreibtisch seit neuestem ein Zettel: «Versuchen zu helfen, ist immer besser, als nichts zu tun», steht darauf.
ensa ist die Schweizer Version des australischen Programms «Mental Health First Aid». Es wurde 2019 in der Schweiz von der Stiftung Pro Mente Sana mit Unterstützung der Beisheim Stiftung lanciert. ensa-Kurse gibt es mit Fokus auf Erwachsene, mit Fokus auf Jugendliche und für Führungskräfte. Die Teilnahme am ensa-Kurs mit Fokus auf Erwachsene umfasst beispielsweise 12 Stunden und kostet 380 Franken. Am Ende des Kurses können Teilnehmende eine 15-minütige Onlineprüfung absolvieren und erhalten dann das ensa-Erste-Hilfe-Zertifikat. Dieses ist drei Jahre lang gültig.
Die Teilnahme am beschriebenen ensa-Kurs wurde von Pro Menta Sana finanziert.
Hast du Suizidgedanken, machst dir Sorgen um deine psychische Gesundheit, willst mit jemandem reden oder kennst du Betroffene, die Hilfe benötigen? Hier findest du Hilfe:
Erwachsene können über die Telefonnummer 143 die Dargebotene Hand kontaktieren oder finden Hilfestellung auf der Website 143.ch. Die Angebote sind vertraulich und kostenlos.
Crisis support in English: heart2heart.143.ch
Pro Mente Sana bietet kostenlos Beratung für Betroffene und Nahestehende – telefonisch, virtuell oder persönlich.
Für Kinder und Jugendliche: Telefon 147, auch per SMS, Chat, E-Mail oder im Internet unter 147.ch
Hatte selber mal einen Arbeitgeber, bei dem war das hinschauen dann zu engagiert. Weil mein Mann den Job verloren hat, habe ich eine Stunde auf dem WC unerbittlich geweint, da ich meinen Kinderwunsch gerade davon fliegen sah. Anstelle zu fragen was ist, hatte er bereits eine Analyse erstellt und mir Suizid Absichten unterstellt. fand sein Verhalten (noch zusammen mit der HR-Verantwortlichen) übergriffig, wenn auch lieb gemeint. Aber das 2 Personen dir einen Suizid ankreiden, aber nicht fragen was los ist war daneben. Habe schlussendlich gekündigt.