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Psychologin Pia Kabitzsch über Situationships: «Wir sind heute sogar beziehungsfähiger»

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Psychologin Pia Kabitzsch über Situationships: «Wir sind heute sogar beziehungsfähiger»

Situationships seien kein Trend, sagt die deutsche Psychologin und Dating-Expertin Pia Kabitzsch. Sie erklärt, was es mit der Beziehungsform auf sich hat – und wie beim Dating langsam ein Umbruch stattfindet.

annabelle: Über «Situationships» wird aktuell viel berichtet. Die gängige Definition für den Begriff lautet: eine Beziehung ohne Verbindlichkeit. Warum liegt diese Art der Beziehung so im Trend?
Pia Kabitzsch: Ich würde gar nicht sagen, dass eine Situationship eine Beziehung ohne Verbindlichkeit ist. Es ist eher eine Art Zustand zwischen lockerem Dating und einer festen Beziehung. Man datet sich häufig über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten und verhält sich auch so wie ein Pärchen, läuft beispielsweise händchenhaltend rum, küsst sich in einer Bar.

Wo liegt dann der Unterschied zur klassischen Beziehung?
Man hat einfach das Gespräch darüber, was es genau ist, noch nicht gehabt. Ich finde es negativ behaftet, wenn man davon spricht, dass man eigentlich eine Beziehung habe, aber keine Verpflichtungen eingeht.

Warum?
Weil dann oft auf Beziehungsunfähigkeit – gerade in Kombination mit jüngeren Generationen – geschlossen wird. Situationships sind kein Trend, heutzutage ist es ein normaler Abschnitt des Kennenlernens. Die jungen Generationen wissen, dass sie viele Möglichkeiten haben. Deshalb sind sie wählerischer und lernen sich erst gegenseitig kennen, um herauszufinden, ob man als Pärchen funktionieren könnte. Man bindet sich heutzutage erst später. Und das ist aus meiner Sicht etwas Positives.

Würden Sie denn sagen, diesen Abschnitt des Kennenlernens gab es schon immer – jetzt hat er einfach einen Namen?
Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Es ist häufig so, dass etwas, wenn es benannt wird, plötzlich zum Trend wird. Das war beim Thema Ghosting zum Beispiel so. Dabei gab es das schon immer, nur hat es jetzt einen Namen und wird deshalb stark thematisiert. Bei der Situationship ist es so, dass es schon immer Dating-Phasen gab. Diese sind nur jetzt ein bisschen länger und ausführlicher geworden. Im Schnitt geht man nicht mehr so schnell den Schritt in eine Beziehung, weil das Bewusstsein da ist, dass es vielleicht jemanden gibt, der noch besser zu einem passt. Dazu kommt, dass es noch nie so leicht war, Menschen kennenzulernen, auch wegen des Online-Datings.

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«Auch in einer Situationship darf man miteinander reden und über Gefühle sprechen!»

Sie empfinden Situationships also als eine gute Sache?
Situationships sind an sich etwas Gutes, ja! Es gibt aber natürlich auch ein paar Punkte, die Schwierigkeiten bereiten können.

Zum Beispiel?
Ich denke da zum Beispiel daran, dass man keine gemeinsame Basis hat. Bei einer Beziehung zum Beispiel weiss man, dass beide Gefühle füreinander haben. Dieses Wissen hat man in einer Situationship nicht. Trotzdem sind meistens mindestens bei einer Person Gefühle involviert. Das kann belastend sein für die Person, die Gefühle hat, weil sie sich die ganze Zeit fragt, wie es beim Gegenüber aussieht. Das kann zu Unsicherheiten führen. Oder auch wenn man ein unterschiedliches Verständnis vom Verhältnis hat.

Inwiefern?
Die eine Person denkt zum Beispiel, dass es exklusiv ist. Dass sie zwar nicht offiziell zusammen sind, aber sich regelmässig sehen und eine emotionale und sexuelle Verbindung haben. Und die andere Person denkt sich vielleicht dadurch, dass es nicht ausgesprochen wurde, dass es zwar schön ist, aber man sich trotzdem weiterhin umschauen kann. Das kann zu Missverständnissen führen und verletzen.

Und dann?
Ich beobachte häufiger, dass es für die Person, die ein bisschen mehr investiert war, schwierig ist, einen Schlussstrich zu ziehen, wenn eine Situationship auseinandergeht. Wenn eine Beziehung vorbei ist, dann weiss man, dass es aus einem bestimmten Grund nicht funktioniert hat. Aber wenn eine Situationship auseinandergeht, ist häufig dieses Gefühl da, dass man es gar nicht richtig probiert hat. Deswegen erachte ich die offene Kommunikation als extrem wertvoll. Auch in einer Situationship darf man miteinander reden und über Gefühle sprechen! Das ist sogar ganz wichtig.

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«Die Sozialen Medien normalisieren und entstigmatisieren Situationships»

Würden Sie sagen, dass nicht alle Personen für eine Situationship geeignet sind?
Ich weiss nicht, ob «geeignet» dafür das richtige Wort ist. Aber nicht allen Personen geht es damit gut. Nehmen wir ein Beispiel: Für Menschen mit Bindungsängsten ist eine Situationship ein Jackpot. Sie haben sowohl eine emotionale Zuwendung als auch eine körperliche, müssen aber keine Verpflichtung eingehen und können ihre Unabhängigkeit bewahren. Für Menschen mit Verlustängsten sind Situationships die Hölle. Sie kriegen nicht das Commitment, das sie bräuchten. Das Problem ist, dass genau diese beiden Typen häufig in einer Situationship sind. Und wenn nicht kommuniziert wird, kann das verletzend werden für eine oder beide Parteien.

Welche Rolle spielen die Sozialen Medien?
Sie normalisieren und entstigmatisieren Situationships. Ich finde es gut, dass online darüber gesprochen wird. Dabei bleibt aber die Frage, wie darüber gesprochen wird.

Und zwar? Wie erleben Sie das?
Ich habe das Gefühl, dass dies häufig in einem eher negativen Kontext passiert und es nicht als Chance gesehen wird, sich kennenzulernen, sondern vielmehr als Anstrengung auf dem Weg, irgendwann den oder die Traumpartner:in zu finden. Da würde ich mir ein bisschen mehr Variabilität wünschen, dass jede Person für sich auch entscheiden kann, ob eine Situationship etwas für sie sein könnte. Das Problem ist, dass es keine fixe Definition gibt – für jede:n ist es ein bisschen was anderes. Was häufig abgebildet wird, ist die toxische Seite von Situationships und die Vorstellung, dass wir nicht mehr in der Lage sind, Beziehungen einzugehen. Das ist eben nicht der Fall.

Nein?
Ich bin der Meinung, dass wir heute beziehungsfähiger sind als die älteren Generationen.

«Anders als früher, gehen wir nicht mit der ersten besten Person eine Beziehung ein und sind jahrzehntelang in unglücklichen Ehen gefangen»

Können Sie das ausführen?
Wir setzen uns heute mehr mit uns selbst auseinander. Ganz anders als früher, gehen wir nicht mit der erstbesten Person eine Beziehung ein und sind jahrzehntelang in unglücklichen Ehen gefangen. Heute wird weniger geheiratet. Das wird immer damit begründet, dass die jüngeren Generationen nicht beziehungsfähig seien. Dabei hat sich einfach die Bedeutung der Ehe verändert.

Welche Veränderung beobachten Sie?
Die Ehe ist nicht mehr der einzige Weg, wie man die Liebe zelebrieren kann. Fähig in etwas zu sein, hat damit zu tun, dass man sich Wissen aneignet und dieses dann umsetzt. Ich produziere Inhalte zum Thema Dating auf den sozialen Medien und merke, wie sehr das geklickt wird. Das Thema interessiert und Beziehungsmodelle werden hinterfragt. Und das machen die jüngeren Generationen heute auf jeden Fall besser als die älteren. Deswegen glaube ich, dass Menschen nach einer Situationship aus den richtigen Gründen eine Beziehung eingehen.

Das klingt sehr hoffnungsvoll.
Definitiv. Online-Dating wird oft negativ beleuchtet, dabei ist es für viele eine riesige Chance, aktiver ihr Dating-Leben zu gestalten und bewusst Beziehungen einzugehen.

Wie erleben Sie Situationships im Coaching mit Klient:innen?
Es ist ein Riesenthema. Ich hatte kürzlich eine Session mit einer Klientin; sie ist Anfang 40 und hat erzählt, dass sie noch nie eine Beziehung hatte. Ich habe sie gefragt, ob sie denn schon gedatet habe. Und sie meinte dann zu mir, dass sie schon in vielen Situationships war. Oftmals schaffen Leute den Sprung von einer Situationship in eine Beziehung nicht.

Wieso ist das so?
Weil sich viele nicht trauen, das Gespräch zu suchen. Und weil man manchmal auch einfach den Moment des Absprungs verpasst. Um von einer Situationship in eine Beziehung zu wechseln, braucht es Kommunikation, Commitment und Arbeit. Stellen Sie sich einen Samen vor, den man gemeinsam pflanzt und der dann zu einer wunderschönen Blume wächst. Das geschieht aber nicht einfach so; dafür braucht es von beiden Seiten Initiative und Pflege. Hinzukommt, dass sich viele nicht trauen, sich 100 Prozent fallen zu lassen. Manchmal braucht es beim Schritt in eine Beziehung aber genau das, um langfristig glücklich zu werden.

«Wer sagt denn, dass dieses Mutter-Vater-Kind-Familien-Konzept das einzige Konzept ist? Wer sagt denn, dass man nur zu zweit glücklich sein kann?»

Kommen Situationships in allen Alterskategorien vor?
Ja, sowohl bei jungen als auch bei älteren Leuten. Sie würden sich wundern, wie viele ältere Personen online daten! Vielleicht nicht gerade auf Tinder, dafür eher auf anderen Dating-Plattformen. Was ich bei mir im Coaching oft erlebe, sind Frauen über dreissig, die einen Kinderwunsch haben. Und diese wollen nur Kinder bekommen, wenn sie in einer Beziehung sind. Das kann frustrierend sein, weil sie einen Schritt machen wollen, aber in einer Situationship nicht weiterkommen. Eine Person, die 18 Jahre alt und in einer Situationship ist, geht ganz anders damit um. Denn bei dieser Person geht es nicht um die baldige Zukunft.

Wenn wir gerade von Online-Dating sprechen: Wie hat sich die Dating-Landschaft in den letzten zehn Jahren verändert?
Durch das Online-Dating ist unser Dating-Leben auf jeden Fall diverser geworden. Wir daten nicht mehr nur in der eigenen Bubble, sondern auch Leute, die wir sonst wahrscheinlich nie kennengelernt hätten. Ausserdem ist die Auswahl viel grösser geworden.

Das verbinden viele auch mit Stress.
Sagen wir es so: Man ist sich der vielen Möglichkeiten, aber auch der zeitlichen Komponente sehr bewusst. Es fängt schon beim Swipen an, dass man checkt, ob eine Person zu einem passt. Und wenn nicht, dann will man gar keine Zeit verschwenden. Oder man beendet den Kontakt, wenn ein Gespräch schleppend verläuft auf einer Dating-App. Das führt auch dazu, dass viele Situationships geführt werden. Man will ausprobieren, um sich sicher zu sein, bevor man eine Beziehung eingeht. Von den älteren Generationen kommt hierfür oft weniger Verständnis.

Muss ein Umdenken passieren?
Müssen vielleicht nicht, das klingt so zwanghaft – aber es wäre toll! Ich finde es zum Beispiel wunderbar, dass jüngere Menschen immer mehr beginnen, das traditionelle Beziehungskonzept zu hinterfragen und sogar zum Teil abzulehnen. Wer sagt denn, dass dieses Mutter-Vater-Kind-Familien-Konzept das einzige Konzept ist? Wer sagt denn, dass man nur zu zweit glücklich sein kann? Bei solchen Überlegungen muss mann einfach schauen, dass man bei sich selbst bleibt und sich nicht von anderen Stimmen verunsichern lässt.

Pia Kabitzsch ist Psychologin und Autorin des Buches «It’s A Date!» (ca. 20 Franken). In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich speziell mit dem Thema Dating, auch mit dem Fokus auf Online-Dating.

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