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Psychoonkologin: «Krebskranke verlieren die Illusion von Unversehrtheit»

Gesundheit

Psychoonkologin: «Krebskranke verlieren die Illusion von Unversehrtheit»

Claudia Zeidler begleitet Brustkrebs-Patient:innen nach der Chemotherapie. In ihrem Interview spricht sie über das Erlernen von Mitgefühl für sich selbst und dem richtigen Umgang mit (dem Leid der) Betroffenen.

annabelle: Claudia Zeidler, «Sie haben Krebs» – was löst diese Diagnose bei Betroffenen aus?
Claudia Zeidler: Die meisten erleiden einen Schock, verbunden mit einer Dissoziation: Alles läuft in Slow Motion ab; ein typischer Schutzmechanismus, der hilft, das Erlebte und Gehörte zu überstehen.

Sie sind Psychoonkologin.Würden Sie sich wünschen, dass mehr Psycholog:innen wie Sie bei Behandlungsgesprächen dabei wären?
Absolut. In einer derart hochemotionalen Situation nehmen die Patient:innen in der Regel nur zwischen zehn und zwanzig Prozent des Gesagten auf. Den Ärzt:innen fehlt es jedoch oft an Zeit und Geduld, alles zu wiederholen. Zudem kommt es leider immer wieder zu traumatisierenden Wordings.

Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn Ihnen vor einem vierwöchigen Chemotherapie-Zyklus gesagt wird, dass die vierte Woche in der Regel richtig fies werden wird, kann das Betroffene vollkommen hypnotisieren. Die Angst vor dieser vierten Woche dominiert dann nicht nur die Therapie, sondern wird oft auch übersteigert. In solchen Fällen kann eine therapeutische Begleitung akute Schadensbegrenzung leisten, Ängste auflösen und Wissen vermitteln.

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«Früher war Krebs gleichbedeutend mit Tod, das aber hat sich deutlich verändert»

Worin liegt das Besondere der Psychoonkologie?
Wir sind geschult, mit Krebspatient:innen in allen Krankheitsstadien zu arbeiten. Dabei geht es explizit auch darum, der eigenen Verwundbarkeit und Endlichkeit zu begegnen.

Die Überlebenschancen stehen dank Früherkennung und neuer Therapien gerade bei Brustkrebs gut.
Ein zentraler Punkt! Früher war Krebs gleichbedeutend mit Tod, das aber hat sich deutlich verändert. Es gibt so viele Frauen, die einmal in ihrem Leben Brustkrebs hatten und danach nie mehr. Dennoch: Todesangst ist ein zentrales Thema.

Ängste treten vor allem auch nach Abschluss einer Chemotherapie auf. Was kann man dagegen tun?
Erst einmal klären, ob es sich um eine pathologische Angsstörung handelt. Angst zum Beispiel vor der nächsten Mammografie zu haben, ist hingegen normal und kann mittels Achtsamkeitstraining, progressiver Muskelentspannung nach Jacobsen und mit Stabilisierungsübungen begegnet werden. Manche Patient:innen wünschen sich allerdings, wieder wie früher völlig entspannt zu Untersuchungen gehen zu können. Da aber sage ich Nein.

Weshalb?
Weil es nicht nachsichtig ist, nicht freundlich. Es gilt doch, die Angst anzuerkennen und herauszufinden, was Patient:innen brauchen, um mit der Situation umzugehen. Das kann nur schon sein, sich bewusst zu machen, dass man schon einmal eine Therapie überstanden hat. Das ist Selbst-Freundlichkeit – und die gehört zum Selbst-Mitgefühl dazu.

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«Weit verbreitet sind auch Schlafstörungen, zum Teil wegen der Nebenwirkungen der Medikamente, zum Teil aber auch aufgrund von Sorgen»

Was macht Selbst-Mitgefühl aus?
Ein freundliches Gefühl für sich selbst zu entwickeln, nicht bloss zu funktionieren, sondern bewusst zu leben. Dies betrifft vor allem die Zeit nach der Therapie. Sie ist die grösste Herausforderung.

Warum?
Während der Therapie ist die Patientin in ein Netz aus Ärzt:innen, Pflegepersonal und anderen Patient:innen eingebunden. Diese soziale Gemeinschaft gibt Halt. Mit der Entlassung aus dem Spital fallen – bis auf die regelmässigen Untersuchungen – alle Weggefährt:innen von einem auf den anderen Tag weg. Unbewusst baut sich Druck auf: «Jetzt ist alles abgeschlossen, da muss es doch normal weitergehen mit mir.» Das aber ist Blödsinn.

Das müssen Sie näher erklären.
Noch immer existiert in unserer Gesellschaft dieses kategorische Modell von «gesund» oder «krank». Wer krank ist, darf zuhause bleiben, wer gesund ist, muss arbeiten gehen. Gerade nach einer Krebstherapie aber kämpfen siebzig bis neunzig Prozent der Betroffenen mit einer ausgeprägten Fatigue und sind bei einem schnellen Wiedereinstieg dauernd erschöpft. Das führt nicht selten zu psychischen Belastungen. Weit verbreitet sind auch Schlafstörungen, zum Teil wegen der Nebenwirkungen der Medikamente, zum Teil aber auch aufgrund von Sorgen.

Welche Massnahmen können helfen?
Etwa ein tägliches Energiemanagement auszuarbeiten und auch mal ganz pragmatisch zu prüfen, wie die restlichen Ferien am besten eingesetzt werden könnten. Viele entwickeln Schuldgefühle, wenn sich aufgrund der Krankheit die Rollen innerhalb einer Beziehung verändert haben. Dann gilt es, diese Denkmuster zu hinterfragen und gegebenenfalls Ketten zu sprengen. Männer setzen übrigens viel schneller neue Ziele oder Tagesaktivitäten um. Frauen warten ofmals auf das Okay der Familie. Vielen tut eine räumliche Distanz gut, auch, um sich mit Rehabilitationsfachleuten zu ordnen.

Wie lautet Ihre Message, gerade an Frauen?
Frauen, kommt aus dem Funktionieren raus und fragt euch: Was will ich einmal hinterlassen? Sicher nicht das Bild der perfekten Hausfrau. Genau hinzuschauen, was einem wirklich wichtig ist und guttut, hat nichts mit Egoismus zu tun.

«Wir müssen lernen, Krankschreibungen als Teil der Selbstfürsorge zu betrachten»

Dennoch: Für eine Rehabilitation weitere Wochen auszufallen, gestehen sich viele nicht zu.
Wir müssen lernen, Krankschreibungen als Teil der Selbstfürsorge zu betrachten. Nur weil ich diese Woche nicht funktioniere, heisst es ja nicht, dass ich generell nicht funktioniere und unzuverlässig bin.

Viele wollen die Erkrankung aber schnellstmöglich hinter sich lassen und entscheiden sich deshalb gegen eine Onko-Rehabilitation.
Und bedauerlicherweise gibt es bis heute Ärzt:innen, die sie darin bestärken. Dabei tut es so gut, sich auszutauschen und zu merken: Ich bin nicht allein.

Was man jeder Kollegin zugestehen würde.
Aber gerade auf der Ebene von Führungskräften ist es weit verbreitet, sich krank zur Arbeit zu schleppen. Das prägt die Kultur eines Unternehmens. Bei einem solchen Vorbild wird es mir sehr viel schwerer fallen, mich nach einer Krebsbehandlung krankschreiben zu lassen.

Wie kann ich Krebskranke in meinem Umfeld unterstützen?
Praktische Angebote sind toll: «Ich könnte heute die Kinder von der Kita abholen.» – «Ich habe gekocht, magst du auch etwas?» Und manchmal hilft einfach ein kleines SMS mit einem netten Gedanken. Und: kurze Treffen anbieten, die nicht überfordern.

«Den Schmerz anzuerkennen und zu spüren – darin liegt die ultimative Kraft zur Veränderung»

Das erinnert an den Umgang mit Trauernden.
Es hat auch mit der Trauer zu tun. Eine Krebskranke verliert die Illusion von Unversehrtheit. Im Falle einer Brustamputation betrauern viele auch einen vermeintlichen Verlust von Weiblichkeit. Wenn jemand ein Bein verliert, ist der Aufschrei gross. Eine amputierte Brust aber sieht man nicht sofort und oft wird so getan, als sei nichts Grosses passiert. Den Schmerz anzuerkennen und zu spüren – darin liegt die ultimative Kraft zur Veränderung.

Darf man das Überleben feiern?
Unbedingt, was wäre in dieser Situation angemessener, als das Leben zu feiern? Das sollten wir alle ohnehin viel öfter tun, schliesslich weiss niemand von uns, wann das Leben vorbei sein wird.

Claudia Zeidler arbeitet als Psychologin und Psychoonkologin am Lanserhof Sylt auf der gleichnamigen nordfriesischen Insel.

 

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