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Statement: Nein, mein Sohn ist nicht «handicapiert»

Familie

Statement: Nein, mein Sohn ist nicht «handicapiert»

Behindert-Sein beim Namen nennen: Für Wissenschaftsjournalist und Vater eines behinderten Sohns Beat Glogger keine Frage. In seinem Statement geht er der Doppeldeutigkeit des Begriffs «Behinderung» auf den Grund – und erklärt, warum die Vermeidung dieses Wortes falsch ist.

Darf man heute noch «behindert» sagen? Ich bin Vater eines zerebral gelähmten jungen Mannes, der zudem an Epilepsie und einer Autismus-Spektrum- Störung leidet, und meine Antwort lautet: Ja, man darf. Beziehungsweise: Man soll.

Wer unseren Sebastian als «Menschen mit besonderen Bedürfnissen » bezeichnet, beleidigt mich. Denn wir alle haben unsere besonderen Bedürfnisse. Weil wir Individuen sind. Bloss sind einige von uns dazu eben auch noch behindert.

Behindert-Sein und Behindert-Werden

Das Vermeiden dieses Wortes ist natürlich gut gemeint. Um niemandem weh zu tun, redet man von «Beeinträchtigung », «Hindernis» oder «Handicap ». Dabei gehören Hindernisse auf die Rennbahn und Handicaps auf den Golfplatz. Warum fragt man vor der Sprachsäuberung nicht die Betroffenen?

Behinderte und ihre Angehörigen nennen die Sache beim Namen: Mein Sohn ist behindert, weil ihm beim Sprechen seine zerebrale Bewegungsstörung in die Quere kommt. Er ist behindert, weil sein Autismus ihn nicht in vollem Mass an der Welt teilhaben lässt. Er ist behindert, weil seine Intelligenz nicht ausreicht, um zu verstehen, warum er so oft traurig ist.

Behindert sein ist das eine, behindert werden das andere. Die Doppeldeutigkeit macht den Begriff so treffend. Behindert wird Sebastian von den Regeln des Wohnheims, den Geboten des Anstands, den Konventionen des sozialen Zusammenlebens.

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«Durch die Sprachsäuberung werden den Betroffenen ihre Behinderungen abgesprochen – und den Familien ihre Probleme»

Warum überhaupt wollen viele den vermaledeiten Begriff aus unserem Wortschatz tilgen? Es heisst, es gehe um den Schutz verletzlicher Personen. Wirklich? Wen will man schützen? Die Betroffenen? Sinnlos. Sie erfahren ihr Behindert-Sein und ihr Behindert-Werden jeden Tag. Die Angehörigen? Nicht nötig. Wir wissen, dass das Leben mit einem behinderten Familienmitglied oft nicht lustig ist.

Mir kommt nur eine Antwort in den Sinn: Die Sprachbereiniger: innen wollen sich selbst schützen, um die unangenehmen Gefühle, die mit Behinderung verbunden sind, von sich fernzuhalten. Das ist verheerend. Denn durch die Sprachsäuberung werden den Betroffenen ihre Behinderungen abgesprochen – und den Familien ihre Probleme.

Sprache als Hebel für gesellschaftlichen Wandel

Heute soll bei jeder Gelegenheit sichtbar sein, dass Frauen wie Männer einen Beruf ausüben können, deshalb schreibt man: Ingenieurinnen und Ingenieure. Die sprachliche Sichtbarmachung soll Mädchen animieren, diesen Beruf zu ergreifen. Neuerdings reicht vielen aber die männliche und die weibliche Form nicht mehr. Nun soll der Genderstern die Varianz an Genderidentitäten sichtbar machen: Ingenieur*innen. Die Idee: Sprache als Hebel für gesellschaftlichen Wandel. Das scheint logisch.

Doch wenn sprachliches Sichtbarmachen ein sozialer Akt ist, gilt dasselbe auch für sprachliches Unsichtbarmachen. Wer Behinderung aus dem Wortschatz tilgt, tilgt die Behinderten aus dem Bewusstsein. Wenn behinderte Menschen «wie du und ich, nur etwas anders» sind, warum haben sie dann Anspruch auf Betreuung, Hilfsmittel, Rente? Sprachliche Säuberung ist der Anfang der Marginalisierung. Die Leidtragenden sind Menschen wie mein Sebastian.

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