Liebe & Sex
«Want»: Gillian Andersons Buch zeigt, dass Frauen keineswegs lustlos sind
- Text: Melanie Biedermann
- Bild: Instagram / gilliana
Für ein Buch sammelte Schauspielerin Gillian Anderson anonyme Sex-Fantasien von Frauen aus aller Welt. «Want» ist nicht immer leicht zu lesen, aber überraschend und aufschlussreich.
1000 Seiten voller Briefe hätten sie drucken können. So schreibt es Gillian Anderson im Vorwort von «Want»; einem Buch, das die Schauspielerin mit anonymen, weiblichen Sex-Fantasien füllte, die sie über einen Aufruf in der englischen Tageszeitung «The Guardian» erreichten.
In den wenigen Interviews, die die 56-Jährige im Vorfeld der Veröffentlichung gab, taucht diese Zahl – 1000 Seiten – immer wieder auf. Zu Recht, denn sie nimmt eine Erkenntnis vorweg: Frauen mangelt es nicht an sexueller Lust, wie derzeit oft diskutiert wird. Das Problem liegt woanders. Dazu später mehr.
«Want» ist die Neuauflage des Kultklassikers von 1973
Die Fülle an Material, die Anderson erreichte, stutzte sie gemeinsam mit ihrem Verlagsteam auf 384 Seiten. Sie unterteilten die ausgewählten Einsendungen in 13 Kapitel und rahmten diese jeweils in einleitende Worte sowie ein Vorwort der Schauspielerin. In diesem erfährt man auch, dass «Want» nicht das erste Buch seiner Art ist. Schon 1973 veröffentlichte Nancy Friday «Die sexuellen Phantasien der Frauen», das seither zu einem internationalen Bestseller wurde.
«Friday legte mit ihrem Buch offen, dass für einige der Sex in Gedanken sehr viel stimulierender war als im echten Leben, so heiss es dabei auch immer zugehen mochte», schreibt Anderson. Sie selbst habe den Kultklassiker erstmals zur Vorbereitung ihrer Rolle der Sexualtherapeutin Dr. Jean Milburn in der Netflix-Serie «Sex Education» gelesen.
«Ich fand die Briefe und Interviews in dem Buch überraschend intim und explizit. Ihre ungefilterte, teilweise schmerzhafte Ehrlichkeit hat mich erschüttert», erinnert sie sich. Niemand habe die Texte glattgebügelt; «sie schienen direkt aus den Herzen der Frauen zu stammen.» Letzteres trifft nun auch auf ihre Neuauflage zu.
Die Fantasien: brachial, poetisch, explizit
Die Texte der Frauen in «Want» kommen in allen möglichen Formen: knapp bis ausschweifend, brachial bis poetisch, hier und da auch mit Witz. Neben detaillierten Rollenspielen liest man etwa von Fetisch, immer wieder von Gruppensex und Gendermanipulation – respektive Frauen, die in ihrer Fantasie als Mann Sex haben –, aber auch von klassischeren Untreue-Fantasien und der blossen Sehnsucht nach zärtlicher Berührung des eigenen Partners. Fast allen Texten gemein ist, dass sie sehr explizit sind.
Das Buch kommt mit einer weiteren Triggerwarnung: Auch Vergewaltigungsfantasien sind vertreten. Anderson betont, dass es sich bei Fantasien generell und bei diesen insbesondere um etwas ganz anderes handle als die Realität: «In den Fantasien bestimmen allein wir Frauen, was mit uns gemacht wird. Wir sind die Regisseurinnen des Films in unserem Kopf, wir entscheiden, wie unsere Körper behandelt werden. Im echten Leben ist leider oft das Gegenteil der Fall. Da sind wir machtlos.»
«Viele Frauen berichten noch heute von einem Schamgefühl, das ihre Lust in ihnen auslöse»
Letzteres ist besonders spannend, wenn man in Betracht zieht, dass sich Frauen- und Männerrollen in der Gesellschaft seit einigen Jahren rasant und dramatisch wandeln. Die Machtverhältnisse verschieben sich; Frauen sind in der Arbeitswelt präsenter und entscheidungstragender, generell vermögender und unabhängiger und privat nicht mehr allein an die Mutter- und Haushälterinnen-Rolle gebunden.
So entlarvt «Want» neben einem alten Problem ein neues: Viele Frauen berichten noch heute von einem Schamgefühl, das ihre Lust in ihnen auslöse. Es ist nicht so – und, eine Vermutung: war nie so – , dass sie keine Lust empfinden, aber sie befürchten, für ihr sexuelles Verlangen beschämt zu werden. Ob diese Scham von aussen auferlegt ist oder einem verinnerlichten Bild anzulasten ist, wirkt im Buch fast nebensächlich.
«Ich will nicht mehr Frau sein, nur noch Objekt»
Gleichzeitig liest man immer wieder von Frauen, die sich als äusserst selbstbestimmt und feministisch bezeichnen, die in ihren sexuellen Fantasien aber dominiert werden möchten. Eine Frau schreibt etwa: «Ich will nicht mehr Frau sein, nur noch Objekt. In diesem Urzustand will ich leben. Will der ewigen psychischen Belastung entfliehen.»
Hierzu findet Anderson einen persönlichen Kommentar: «Wenn wir an die zahlreichen Aufgaben denken, die viele Frauen heutzutage gleichzeitig erfüllen müssen – sich um den Haushalt und das Finanzielle kümmern, eine Beziehung und ein Familienleben mit vollem Terminkalender unter einen Hut bringen und so weiter –, überrascht es kaum, dass einige sich wünschen, sie könnten einfach ‹kapitulieren›.» Letzteres ist ebenfalls in einer der Einsendungen zu lesen.
Letztlich entstand «Want» auch deshalb, weil eben nicht nur Gillian Anderson sich fragte: Wie denken Frauen denn nun über Sex? Heute, 50 Jahre nach Nancy Fridays publizistischem Meilenstein? Was hat sich verändert?
«Want» ist ein Gradmesser zur weiblichen Lust
Das Buch gibt zwar erste Anhaltspunkte in der Suche einer Antwort, bietet aber wenig Orientierung. Einerseits fehlt es an Einordnung und Anderson betont mehrfach, dass sie keine Expertin in diesem Gebiet sei. Andererseits sind die ausgewählten Einsendungen zwar ganz unterschiedlich, aber in ihrer rohen literarischen Form beginnen sie sich gefühlt schnell zu wiederholen; die Kapitel laufen ineinander über.
Dazu stammen die meisten Zusendungen aus englischsprachigen Regionen, allen voran aus Grossbritannien und den USA, nur vereinzelt liest man internationale Beiträge, etwa aus Venezuela, Rumänien, Finnland, den Philippinen und auch aus der Schweiz. Das vermittelt zwar den Eindruck einer globalen Bandbreite, aber es ist weit zu wenig vermischt, um tatsächlich viel über sexuelles Begehren unter verschiedenen Nationalitäten und Kulturkreisen aussagen zu können.
Nur bedingt überraschend
Neben der Nationalität werden zwar zudem der ethnische Hintergrund, die Religionszugehörigkeit, das Jahreseinkommen, die sexuelle Orientierung, der Beziehungsstatus und Kinder abgefragt, das Alter erfährt man hingegen nur, wenn es explizit im Text erwähnt ist.
Stellenweise wirkt «Want» auch etwas aus der Zeit gefallen: Man liest zwar etwa auffallend viele Beiträge von queeren und auch von trans Frauen im Buch, doch wer sich aktiv mit seiner eigenen Sexualität und Lust auseinandersetzt, wird – zumindest inhaltlich – von den Fantasien nur bedingt überrascht.
Wer sich allerdings bis anhin für sexuelle Vorlieben und Gedanken schämte, könnte in den vielen Szenarien eventuell einen Weg finden, die eigene Lust mit weniger Urteil zu erkunden. Vielleicht gelingt es Gillian Anderson mit diesem Buch aber auch ganz einfach, die Fantasie der ein oder anderen Leser:in zu zünden; sie neu zu entfachen oder auch zum allerersten Mal. Das allein wäre die Sache wert gewesen.
Gillian Andersons «Want» (Bloomsbury) ist im Handel erhältlich.
Ich wundere mich, dass sich in Ihrem Artikel kein Bezug zu Eve Enslers Buch “Die Vagina-Monologe” findet, das sich zeitlich ziemlich genau zwischen Nancy Fridays Buch und “Want” einordnet. Denn in diesen Monologen, die ebenfalls auf Interviews beruhen, offenbaren sich ja in unmittelbarer Weise zentrale Aspekte weiblicher Sexualität und ihrer Problematik, die solche “Offenbarungen” in “Want” plausibel und verständlich machen.