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Aktivistin Luisa L’Audace: «Meine Behinderung gehört zu mir»

Literatur & Musik

Aktivistin Luisa L’Audace: «Meine Behinderung gehört zu mir»

Luisa L’Audace ist die junge Stimme im Internet für Inklusion und gegen Ableismus. Wir sprachen mit der deutschen Aktivistin über ihren Weg – weg von der Scham und hin zum Stolz auf die eigene Identität.

annabelle: Luisa L’Audace, haben Sie Ihr Buch eher für behinderte oder für nicht-behinderte Menschen geschrieben?
Luisa L’Audace: Natürlich möchte ich alle Menschen ansprechen. Aber es gibt so viele Medien, die für nicht-behinderte Menschen gemacht werden. Da wäre es doch jetzt mal schön, dass sich behinderte Menschen in erster Linie angesprochen fühlen können. Nicht-behinderte Menschen dürfen sich gern mitgemeint fühlen. (lacht)

Sie sagen, Sie mussten erst mal lernen, dass Sie diskriminiert wurden.
Genau, man wächst mit gewissen Erfahrungen auf und da steht niemand neben dir und sagt: «Übrigens, jetzt wurdest du gerade diskriminiert.» Vor ein paar Jahren gab es noch wenig Aufklärung zu struktureller Diskriminierung. Vor allem, wenn man von allen Seiten Gaslighting erfährt – «das ist nicht so, die meinen das nicht so, du bist aber empfindlich » – diese typischen Sätze. Wie soll man glauben, dass die Gefühle, die man dabei hat, valide sind, wenn man so was die ganze Zeit hört?

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«Es war, als würde ich ein Stück von mir selbst finden, als würde ich ein Stück von mir selbst verstehen. Ich habe gesehen: Ich bin nicht allein»

Sie haben sich mit Anfang zwanzig informiert, viel gelesen. Welche Rolle hat dabei das Internet gespielt?
Eine riesige. Das Internet birgt zwar auch Barrieren, aber es bietet vor allem viele Zugänge – gerade für behinderte Menschen, die nicht jeden Tag das Haus verlassen können. Ich habe im Internet Menschen gefunden, die meine Erfahrungen teilen. Es war, als würde ich ein Stück von mir selbst finden, als würde ich ein Stück von mir selbst verstehen. Ich habe gesehen: Ich bin nicht allein. Vorher habe ich mich sehr geschämt, dachte, ich sei das Problem.

Gibt es Menschen, die Sie auf diesem Weg beeinflusst haben?
Ich habe viel von der britschen Bloggerin und Podcasterin Natasha Lipman gelesen, sie hat über chronische Erkrankungen geschrieben. Ich habe lang gebraucht, mich als behinderte Person zu identifizieren, obwohl ich schon mein ganzes Leben behindert bin. Chronisch krank bin ich auch, das finde ich auch wichtig zu benennen. Von einer interessanten Person kommt man dann zur nächsten. Das war eine neue, tolle Welt.

In Ihrem Buch danken Sie explizit der behinderten Moderatorin Ninia La Grande. Inwiefern war auch sie eine dieser Personen?
Sie war auf jeden Fall ein Vorbild. Ninia war die erste deutsche behinderte Person in der Öffentlichkeit, die ich wahrgenommen habe. Für mich war das ein tolles Gefühl: zu sehen, dass Menschen aus meiner Community mit ähnlichen Erfahrungen Dinge tun, die ich auch immer tun wollte: Podcasts machen, schreiben, moderieren. Das waren viele Sachen, die ich an den Nagel gehängt hatte, weil ich dachte: Als behinderte Person kommt man da eh nicht weit.

Der rote Faden durch Ihr Leben und damit auch Ihr Buch ist Ableismus. Wie würden Sie diesen Begriff einem Kind beschreiben?
Etwa folgendermassen: dass behinderte Menschen aufgrund ihrer Behinderung anders behandelt werden. Dass man oftmals nur noch ihre Behinderung sieht und nichts anderes mehr – dabei sind wir ja alle Menschen mit Wünschen, Hobbies und Interessen. Das kann gefährlich werden, weil behinderte Menschen durch diese Vorurteile Gewalt erfahren und bei vielen Sachen nicht dabei sein dürfen oder können, weil sie auf Barrieren stossen. Und das, obwohl wir Menschen eigentlich alle die gleichen Rechte haben sollten.

Sie erzählen vom Reiten, wie viel Spass es Ihnen als Kind gemacht hat. Später, als Ihre Freundinnen es dann auch machten und besser waren als Sie, verdarb es Ihnen die Laune. Müssen wir uns denn zwangsläufig immer vergleichen?
Das ist dieser Leistungsgedanke, der auch zu Ableismus gehört. Wir messen uns ständig aneinander und fragen immer: Wer ist besser? Viele Sportarten bauen darauf auf. Fussball wäre vermutlich langweilig, wenn wir keine Tore zählen würden. Aber vielleicht geht es gar nicht nur darum, Leistung nicht mehr zu messen, sondern sie einfach nicht mehr zu bewerten. Von mir aus könnte man sagen: Diese Person ist heute schneller, weiter oder geübter geritten, aber das bedeutet ja nicht, dass sie sich mehr angestrengt hat oder mehr wert ist als eine andere.

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«Ich kann nicht mal eben schnell zum Bäcker um die Ecke gehen, ohne angestarrt oder angesprochen zu werden»

«Wir brauchen Sichtbarkeit, echte Repräsentation und Solidarität», fordern Sie in Ihrem Buch. Wenn Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, in der wir das alles haben. Woran würden Sie diese Welt erkennen?
Daran, dass ich vor die Tür gehen kann, ohne angestarrt zu werden. Und das kann ich nicht. Ich kann nicht mal eben schnell zum Bäcker um die Ecke gehen, ohne angestarrt oder angesprochen zu werden. Das zeigt, wie wenig nicht-behinderte Menschen von behinderten Menschen umgeben sind. Ich treffe oft auf Primarschulkinder, die mich anschauen, als wäre ich die erste behinderte Person, die sie in ihrem Leben sehen.

Das zeigt, wie sehr Repräsentation fehlt. Wie lässt sich das ändern?
Zum Beispiel mit Filmen und Serien: Warum gibt es dort keine behinderten Menschen? Also tatsächlich behinderte Schauspieler:innen – nicht welche, die sich die Behinderung für ihre Rolle aneignen. Warum gibt es keine Werbeplakate mit behinderten Personen? Und zwar nicht, weil da Diversity drüber steht, sondern weil die betreffende Person einfach ein gutes Model ist.

Nicht nur Bilder, sondern auch Sprache ist wichtig für mehr Inklusion. Und es gibt viele Debatten darum, auch unter behinderten Menschen. Dass «behindert » kein Schimpfwort ist, haben wohl mittlerweile alle verstanden. Aber können Sie erklären, was es mit der Debatte auf sich hat, ob man sagt «behinderter Mensch» oder «Mensch mit Behinderung»?
Es gibt die Person-First- und die Identity-First- Sprache. Bei Person First heisst es: «Ich bin ein Mensch mit Behinderung.» Bei Identity First: «Ich bin ein behinderter Mensch.» Viele behinderte Menschen bevorzugen die Identity-First-Sprache, weil diese sie weniger mit Samthandschuhen anfasst. Und weil sie betont, dass es um einen Teil der Identität geht, die sich nicht einfach abstreifen lässt. Es gibt da diese Metapher: Ich trage meine Behinderung nicht wie einen Rucksack, den ich abstellen kann, wenn ich heute mal zufällig keine Lust habe auf Ableismus. Mit der Identity-First-Sprache zeigen wir, dass die Behinderung untrennbar zu uns gehört.

Und das ist für Sie passend?
Ja, genau. Ich bin froh, wenn man überhaupt das Wort «behindert» benutzt. Allergisch reagiere ich auf fremdbestimmte Euphemismen wie «besondere Bedürfnisse», «Beeinträchtigung» oder «Handicap». Das finde ich schlimm. Ich bin eine behinderte Frau.

Sie berichten vom Besuch bei einer Gedenkstätte, bei der während der NS-Zeit systematisch behinderte Menschen umgebracht wurden. Welches Verhalten resultiert aus dieser Erinnerung heraus für uns alle?
Dieses Narrativ, dass behindertes Leben nichts wert ist, existiert noch. Damit wurden wir alle sozialisiert. Das zeigte sich auch in der Pandemie. Daran, dass so wenig unternommen wurde, um Risikogruppen zu schützen. Es zeigt, wie sehr wir heute noch davon ausgehen, dass wir das Leben von behinderten und chronisch kranken Menschen weniger schützen müssen. Auch das ist Ableismus. Und den müssen wir aktiv verlernen.

Etwa, indem wir Masken tragen, obwohl wir selbst nicht unbedingt auf diesen Schutz angewiesen sind?
Genau. Solidarität bedeutet, sich auch mit Themen zu beschäftigen, die dich selbst nicht negativ betreffen. Themen, bei denen man vielleicht unangenehme Gefühle hat. Weil man sich ertappt fühlt oder weil man nicht zum Problem Ableismus dazugehören möchte. Aber dieses Problem lösen wir nur, wenn sich alle dafür verantwortlich fühlen. Es ist wichtig, behinderten Menschen zuzuhören und ihre Stimmen lauter zu machen.

Luisa L’Audace: Behindert und stolz: Warum meine Identität politisch ist und Ableismus uns alle etwas angeht. Eden Books, Berlin 2022, 272 Seiten, ca. 29 Fr.

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