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Emma Thompson: «Ich bin nichts Besonderes»

Kultur

Emma Thompson: «Ich bin nichts Besonderes»

Schauspielerin Emma Thompson füllt mit «Meine Stunden mit Leo» aktuell die Kinosäle. Mit uns spricht die 63-Jährige offen über Frauen, Sex – und das Alter.

Sie hat einen Cambridge-Abschluss, wurde von Prinz William zur «Dame» geadelt und tanzt schon mal mit coolen Moves in eine Talkshow hinein: Emma Thompson kann Clown und Lady zugleich sein – vor allem aber ist die Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin eine der furchtlosesten Polit-Aktivistinnen der Filmindustrie. Ausserdem bleibt sie bis heute der einzige Mensch weltweit, dem es je gelang, einen Hauptdarsteller:innen- plus einen Drehbuch-Oscar zu gewinnen.

Thompson umgibt eine besondere Energie, sie leuchtet, strahlt und sirrt förmlich, wenn sie einen Raum betritt. Auch bei unserem Gespräch über Zoom werden ihre Worte von grossen Gesten und ausdrucksstarker Mimik begleitet. Oft fährt sich Thompson mit den Fingern durch die platinblonde Kurzfrisur – oder rauft sie sich die Haare? In ihrem neuen Drama «Meine Stunden mit Leo» sehen wir die charismatische Charakterdarstellerin als verwitwete Lehrerin, die einen Callboy anheuert. Dafür zeigte sich die 63-Jährige erstmals in ihrer Karriere nackt.

annabelleEmma Thompson, wie wurden Sie zu dieser entspannten Feministin, die man heute weltweit kennt und bewundert?
Emma Thompson: Es dauerte Jahre, bis ich meine Stimme fand. Als Mädchen und junge Frau hatte ich das Gefühl, dass meine Stimme kein Gewicht hat. Ich glaubte, nicht so richtig in diese Welt zu passen, mir fehlten auch weibliche Vorbilder. Aber wenn man immer wieder in sich hineinhört, findet man eine Form der Authentizität und eine Stimme, die zum eigenen Kern, zur Essenz des eigenen Selbst passt. Das ist viel Arbeit, aber ich weiss es sehr zu schätzen, dass ich diesen Weg gehen konnte – so vielen Frauen auf der Welt bleibt es verwehrt, ihr wahres Selbst auszuleben.

Lernen Sie durch Ihre Filme immer noch etwas über sich selbst?
Ich bin jetzt 63, da lerne ich lieber etwas über andere Menschen als über mich! Ich finde mich selber ja eher langweilig (lacht). Über meine Rollen kann ich in Realitäten anderer Menschen eintauchen. Das finde ich viel interessanter, als mich mit mir selber zu beschäftigen.

Sie sind eine der aussergewöhnlichsten Personen der Filmbranche. Das merkt man schon, wenn Sie bei Interviewrunden alle Anwesenden mit Händedruck und einem Lächeln begrüssen. Viele Ihrer Kolleg:innen setzen sich einfach.
Ich bin nichts Besonderes. Ich bin nur ein kleiner Mensch. Vermutlich merken alle irgendwann mal, dass sich die Welt nicht um einen selbst dreht. Vielleicht hat das auch mit dem Alter zu tun. Bei Drehs ist es geradezu eine Freude, mein Ego auf die Seite zu packen und mich in Figuren zu verlieren.

Was faszinierte Sie an «Meine Stunden mit Leo», Ihrem neusten Film?
Die Story fesselte mich direkt. Und es ist ein Film voller Empathie.

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«Ich bin jetzt 63, da lerne ich lieber etwas über andere Menschen als über mich!»

Ein Lehrstück über die Liebe?
Nein, es ist vielmehr ein Film über Intimität – und die hat nicht unbedingt was mit romantischer Liebe zu tun. Es geht eher um Selbstliebe. Leo und Nancy kommen sich so nah, dass sie sich gegenseitig aus ihren Traumata befreien. Beide brechen eine Art Siegel zu sich selbst auf und sind am Ende mit sich selbst versöhnt und befreit.

Moment: Erst die Selbstliebe ermöglicht Liebe? Sie selber sind nach dem ersten Eheversuch mit Kenneth Branagh inzwischen seit 25 Jahren glücklich liiert.
Ja. Ich finde, erst wenn man mit sich selbst im Reinen ist, ist man fähig, zu lieben. Ohne Empathie für sich selbst kann man auch niemand anderem Empathie schenken.

Nancy, Ihre Figur in «Meine Stunden mit Leo», macht sich als Frau jenseits der 60 auf die Suche nach sexueller Erfüllung. So etwas sieht man im Film noch immer sehr selten. Warum ist Sexualität im Alter so stigmatisiert?
Erst mal wird Sexualität oft immer noch aus einer rein körperlichen Perspektive gesehen. Ich glaube auch, dass in unserer Welt die weibliche Lust nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste steht. In meinem Heimatland jedenfalls wird es als völlig unwichtig erachtet, dass und ob Frauen ein Lustempfinden haben. Wenn man auf dem Land mal eine Umfrage bei den älteren Britinnen machen würde, wer je einen Orgasmus hatte, wäre man sicher erstaunt!

Glauben Sie, es gibt tatsächlich viele Frauen über 60, die noch nie einen Orgasmus hatten?
Ich glaube nicht, dass Nancys Geschichte ungewöhnlich ist – auch heute noch, obwohl uns die «Cosmopolitan» jahrzehntelang mit dem Wort Orgasmus vollgetextet hat. Als ich aufwuchs, war es irgendwie uncool oder einfach nur erbärmlich, wenn man noch nie einen Orgasmus hatte. Aber wir haben nun mal keinen Orgasmus, wie die Männer ihn haben. Wir haben kein Ding, das man von aussen beobachten kann. Bei uns ist alles viel subtiler und zarter. Aber haben wir je wirklich darüber gesprochen? Nein, denn wie könnte es sonst sein, dass die weibliche Lust immer noch ein so tabuisiertes Thema ist?

Wir neigen sicher auch zur Unehrlichkeit beim Thema Sex.
Ja, und dazu leben wir in einer sexistischen Gesellschaft, die ein Problem mit dem Älterwerden hat. Das Kino ist nur ein Spiegelbild davon.

Ärgert es Sie, dass es nicht mehr so gute Rollen für ältere Schauspielerinnen gibt?
Das ist schon frustrierend. Es ist nicht so, dass in dem Punkt gar keine positiven Fortschritte zu verzeichnen sind. Doch irgendwie läuft es nach dem Muster «ein Schritt vor, zwei zurück». In Filmen wird eher die Lust der Männer beim Sex gezeigt. Wenn ich als 60-Jährige in einem gewöhnlichen Film eine romantische Beziehung hätte, müsste der Mann ja schon um die 80 sein! Single-Frauen, die in ihren 60ern noch einen Partner finden wollen, haben es richtig schwer, weil alle Männer in ihrem Alter lieber Frauen in den 40ern daten. Wir haben als Gesellschaft eine Menge Probleme mit Sex und dem Alter. In «Meine Stunden mit Leo» geht es ums Thema Authentizität: Wie muss man zu sich selbst stehen, um wahre Lust empfinden zu können? Das ist keine Frage des Alters.

Im Film gibt es eine Szene, in der sich Nancy nackt und voller Ruhe im Spiegel betrachtet. Sie sagten, das war eine der schwierigsten Szenen, die Sie je zu spielen hatten. Warum?
Weil ich es selber noch nie so gemacht hatte! Nancy tut etwas sehr Aussergewöhnliches: Sie steht allein vor einem Spiegel, legt ihren Bademantel ab und betrachtet ihren Körper ganz entspannt – nicht mit Zustimmung, aber ohne Urteil. Ich selber hatte mich davor noch nie vor einen Spiegel gestellt, ohne an mir rumzunörgeln oder vorher etwas mit meinem Körper gemacht zu haben; zu zupfen, zu rupfen, etwas zu tun, das ihn weniger mangelhaft aussehen lässt. Es ist schon faszinierend: Wenn ich nicht in der Nähe eines Spiegels bin, geht es mir gut. Aber sobald ich in einen hineinschaue, sehe ich nur noch Makel. Ich glaube, ich musste die 60 überschreiten, um die Szene spielen zu können.

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«Ich finde, erst wenn man mit sich selbst im Reinen ist, ist man fähig, zu lieben.»

Wie meinen Sie das?
An den furchtbaren Forderungen an die Frauen hat sich doch nichts geändert. Man muss noch immer dünn sein, makellos sein – wie früher. In mancher Hinsicht finde ich es sogar noch schlimmer. Ich habe jedenfalls nicht das Gefühl, dass sich irgendetwas in Sachen Bodyshaming geändert hat: Du musst abnehmen, du musst mehr Sport treiben – immer erwartet man von dir Perfektion. Ich hatte immer das Gefühl, dass dies eine Art Tyrannei ist, eine Art, Frauen krank zu machen, dass sie sich selbst infrage stellen, bis sie ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstvertrauen verlieren. Das ist etwas, worüber ich nachdenke und schreibe, seit ich Anfang 20 war.

Wie frei fühlen Sie sich selbst beim Reden über Sex in Ihrem eigenen Leben?
Ich glaube, wir alle sind mit einer dummen, romantischen und völlig idealisierten Vorstellung von Sex aufgewachsen, dabei ist Sex in Wirklichkeit oft seltsam, zutiefst unromantisch und einfach schräg. Wir schämen uns sehr für das, was uns Genuss bereiten könnte, mindestens genau so wie für das, was uns keine Freude bereitet. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir in unserem öffentlichen Diskurs über Sex ehrlicher wären, auch über die Industrialisierung von Sex in unserer Gesellschaft.

Wie waren die Gespräche am Set, etwa mit Ihrem Vis-à-vis, dem 29-jährigen Daryl McCormack, der den Sexworker Leo spielt?
Wir haben uns erst bei den Proben kennengelernt und gleich sehr offen gesprochen. Jeder verriet, was einen am eigenen Körper stört und was man daran mag. Für Daryl war es sicher nicht schwer, der Mann hat einen makellosen Körper, wie ein Einhorn! Aber wir alle kennen das Gefühl, dass es befreiend ist, mal offen über Makel und Macken zu sprechen. Wir haben auch von unseren Narben erzählt und wie wir sie bekommen haben. Einen Tag haben wir auch hüllenlos geprobt, um uns an die Nacktheit zu gewöhnen – das ist für uns prüde Brit:innen schon eine grosse Sache.

Geht es Ihnen bei Ihrer Arbeit immer darum, etwas zu bewegen?
Nicht immer. Manchmal mache ich Dinge auch einfach nur zum Spass. Oder um andere glücklich zu machen.

« Sex ist in Wirklichkeit oft seltsam, zutiefst unromantisch und einfach schräg»

Wie beim Kinderfilm «Eine zauberhafte Nanny»?
Genau. Wobei auch da eine tiefere Botschaft vermittelt wird, nämlich dass Kinder nicht nur lernen müssen, sich anständig zu verhalten, sondern ihnen auch Raum für ein wenig Anarchie zusteht. Für mich ist die eigentliche Arbeit am Projekt entscheidend und ob mich eine Story interessiert. Wie ein Film dann aufgenommen wird, ist mir nicht mehr so wichtig.

Wie erklären Sie sich den immensen Erfolg Ihres Films «Love Actually», der zum Liebes- und Weihnachtsklassiker wurde und uns seit fast 20 Jahren immer wieder verzückt?
Auf den Film sprechen mich tatsächlich viele an. Ich glaube, wir erzählen eine wirklich gute Geschichte über Untreue, in der sich alle Zuschauer:innen wiederfinden, weil offenbar jede:r von uns das Thema auf die eine oder andere Art durchleben musste (lacht). Eine perfekt universelle Geschichte.

Bereuen Sie es manchmal, dass Sie so offen und direkt sind?
Sicher. Dafür habe ich gerade in meiner Heimat oft Kritik einstecken müssen. Doch je häufiger ich das erlebe, desto weniger macht es mir etwas aus. Trotzdem fühlt man sich manchmal auch sehr allein und angegriffen. Aber ich hatte immer einen Drang nach Unabhängigkeit in mir. Ich hinterfrage Dinge, habe nie etwas einfach so hingenommen. Ich mache den Mund auf, wenn ich muss.

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