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Gossip-Sängerin Beth Ditto: «Im Aktivismus fehlt mir heute das Mitgefühl»

Literatur & Musik

Gossip-Sängerin Beth Ditto: «Im Aktivismus fehlt mir heute das Mitgefühl»

Zwölf Jahre ist es her, seit Punk- und Queer-Ikone Beth Ditto mit ihrer Band Gossip ein Album veröffentlichte. Warum «Real Power» genau jetzt erscheint, wie sich die Bandpause auf ihr Selbstwertgefühl auswirkte und was sie sich vom Aktivismus wünscht.

2012 veröffentlichte Beth Ditto ihre Memoiren «Coal to Diamonds». Die US-amerikanische Musikerin und Aktivistin war damals 31 Jahre alt und hatte zu diesem Zeitpunkt tatsächlich längst Anekdoten für die Geschichtsbücher gesammelt: Aus dem ultrakonservativen White County im Südwesten der USA zog Ditto noch als Teenager nach Olympia, Washington; nicht nur ans andere Ende des Landes, sondern auch mitten in die Riot-Grrrl-Szene.

Mit Jugendfreund:innen gründete sie eine Band, die 1999 im Vorprogramm von Sleater-Kinney tourte. Sieben Jahre später machte das Album «Standing in the Way of Control» Gossip 2006 international bekannt. Ditto wurde mit exzentrischen Looks und Konzertauftritten sowie offenherzigen Statements und Titelseiten im Musikmagazin «NME» und dem damals neu-lancierten Modemagazin «Love» zur Ikone zwischen Gegen- und Popkultur – und eine Vorreiterin der späteren Body-Positivity-Bewegung.

Sie zog weiter ihr Ding durch

Gross Aufhebens machte die heute 43-Jährige um ihre Rolle nie, stattdessen zog sie einfach weiter ihr Ding durch: 2012 heiratete Ditto mit Kristin Ogata eine langjährige enge Freundin, 2016 löste sich Gossip offiziell auf und 2017 veröffentlichte sie ihr erstes Soloalbum «Fake Sugar». Es folgten Schauspielrollen im Film «Don’t Worry, He Won’t Get Far on Foot» und der Serie «Monarch», 2018 der Bruch mit Ogata, die Scheidung und das Bekenntnis zur Beziehung mit Musiker Ted Kwo.

Nun erschien mit «Real Power» das erste Gossip-Album seit zwölf Jahren und Beth Ditto grüsst uns breit grinsend aus dem Skype-Fenster: Sie freue sich über die Sonne in Berlin, den Döner-Kebab, der neben ihr auf sie warte, und darüber, dass wir uns von London aus zuschalten; eine Stadt, die ihre Karriere prägte und in der sie sich dank vielen Freundschaften sehr heimisch fühle.

annabelle: Da wir gerade von Heimatgefühlen sprechen – fühlt es sich mit Gossip auch gerade ein bisschen nach einem Nachhausekommen an?
Beth Ditto: Witzig! (überlegt kurz) Also: witzig, weil Gossip immer schon eine Band war, die die Dinge auf ihre eigene Art tun muss. Wir waren auch nie absichtlich aufmüpfig.

Moment… Wie meinen Sie das genau?
Wir sind einfach nicht die Art Band, die gross plant. Und wenn wir uns nicht danach fühlen, kreativ zu sein oder etwas zu tun, merkt man das sofort. Forcieren funktioniert also nicht. Ich glaube, es gäbe jetzt auch kein neues Gossip-Album, wenn es nicht als Solo-Album gestartet hätte.

Denn das hätte «Real Power» eigentlich werden sollen: Ihr neues Soloalbum.
Ja, ich wollte ein neues Album machen und rief dann Nathan an. Weil ich es liebe, mit ihm Songs zu schreiben. Weil es mit ihm so einfach ist. Ich wollte diese Art Simplizität. Nicht im Sound, aber im Prozess. Ich wollte mich nicht ständig erklären.

Sie und Nathan Howdeshell gründeten damals gemeinsam mit Kathy Mendonça die Band. Brauchte es nach den vielen gemeinsamen Jahren einfach mal eine Pause?
Ja, wenn du seit Teenagertagen mit denselben Leuten Musik machst, brauchst du eine Pause. Sonst hast du nicht viel Raum, um zu wachsen. Du musst herausfinden, wie es ist, mit anderen Leuten zu arbeiten und herausfinden, ob du das überhaupt kannst. Du musst auch deinen eigenen Wert entdecken. Ich musste Gossip verlassen, um zu verstehen, wie wichtig ich für die Band war.

Sie dachten nicht, dass Sie als Sängerin für Ihre Band wichtig sind?
Nein, tat ich wirklich nicht. Ich sah mich als Sprachrohr der Band, als jemand, der gerne mit Leuten redet. Ich mag diesen Teil der Arbeit, auch Interviews wie dieses hier. Also dachte ich immer, dass das ist, was ich gut kann. Wenn es um die Musik ging, sah ich mich immer als … okay.

Wissen Sie, woran das lag?
Ich denke, es lag an geringem Selbstwertgefühl. Ich habe eine andere Art von Selbstvertrauen und die Leute verstehen mich oft falsch, weil sie diese Person sehen; meine Masse und – Sie wissen schon. Ich sage meine Meinung und ich sage auch offen, wie es mir geht.

Damit sind Sie vielen Menschen, insbesondere Frauen, ein Vorbild.
Aber ich hatte nie vor, Songwriterin zu werden. Wie kann man als Kind auch glauben, dass das eine Option sein könnte? Wenn die Leute dich fragen, was du werden willst, wenn du gross bist und du «Sängerin» sagst, antwortet man dir: «Nein: Was willst du wirklich werden?» – (zieht fragend die Schultern hoch:) «Ähm … Krankenschwester?»

Wenn man von klein auf hört, dass Sängerin kein richtiger Job ist, entwickelt man keine Wertschätzung für diese Art Arbeit?
Ich hatte das jedenfalls nicht in mir. Und jetzt, wo ich darüber nachdenke: Vielleicht hab ich auch auf andere Art so viel Raum eingenommen, dass ich nicht noch mehr für mich beanspruchen wollte.

Inwiefern?
Ich habe zwar jedes Wort selber geschrieben, jede Melodie selber eingesungen, zucke aber heute noch zusammen, wenn ich nur schon an meine Songs denke. Auch, weil ich die Songs ohne Intention oder Konzept schreibe. Und solche Texte sind extrem verletzlich – Sie kennen das bestimmt als Journalistin – als würde man jemandem seine Gedanken zum Lesen geben: Hier, ein Tagebuch – lies! (lacht) Vielleicht hat es auch mit der Punkrockszene zu tun, aus der ich komme. Dort wird eine gewisse Selbstironie gern verherrlicht; sich selbst und eigene Erfolge – was auch immer die sind – nicht zu ernst nehmen. So ist es nicht immer, aber es sind schon die typischen Marker. Ich erlaubte mir nie, mich zu freuen.

Steckt hinter dem eigenen Kleinmachen auch ein bisschen Selbstschutz?
In gewisser Weise ist es einfacher, sich selber zu sagen, dass man etwas nicht gut kann – auf lange Sicht ist es das nicht. Ich bin aber auch abergläubisch und sage mir selbst immer: Freu dich bloss nicht zu sehr! Mach bloss nichts anders wie bisher, sonst machst du dir alles kaputt.

Bei Ihnen kommt dazu, dass Sie mit sechs Geschwistern und ihrer Mutter in einem sehr konservativen Teil der USA aufgewachsen sind. Ein Pop- oder Rockstar zu werden, stand da aus offensichtlichen Gründen nicht zuoberst auf der Wunschliste. Ihnen ist aber sicher bewusst, dass Sie heute beides erreicht haben, oder?
Ja, aber man fühlt sich trotzdem nicht danach, richtig? Und wenn ich nach Hause in die USA gehe, interessiert sich niemand für mich oder das, was ich tue – das ist grossartig! (lacht) Ich sehe die Dinge bewusst ein bisschen anders. Meine Mutter sagte mir immer: Du bist arm, nicht dumm. Das war ihr Ding und es war sehr wichtig. Ich fühlte mich auch auf viele Arten richtig schlau, etwa, indem ich erfinderisch bin und mit wenig auskomme.

Das bringt mich zum neuen Gossip-Album: «Real Power», was bedeuten diese Worte für Sie persönlich? Und wann ist Macht vielleicht auch mehr Schein als Sein?
Eine Sache, die sich nicht sonderlich mächtig oder stark anfühlt, ist, andere Menschen als dumm oder schlecht hinzustellen. Im Moment passiert in der Welt so einiges, das ich versuche zu verstehen und wofür ich noch immer nach Worten suche. Etwas vom Besten an Riot Grrrl war, dass es akademischen Feminismus auf eine Sprache herunterbrach, die vielen Leuten zugänglich war.

Wie meinen Sie das?
Im Aktivismus fehlt mir derzeit das Mitgefühl: dass wir einander Dinge beibringen, statt uns gegenseitig anzuschreien, weil wir etwas nicht wissen. Ich kenne das von mir selber: Ich fühle mich manchmal nicht schlau oder gebildet genug, um nur schon die richtigen Fragen zu stellen. Und ich habe Angst, weil ich schlichtweg nicht weiss, wo ich ansetzen soll. Ich wünschte mir einfach Orientierungshilfe. Und die gibt es, aber ich hasse, dass wir so furchtbar zueinander sind. Ernsthaft: nicht nur die Menschheit als Ganzes, sondern auch die Menschen, die das Richtige tun wollen und nicht die Unterstützung unterhalten, die wir voneinander brauchen – wissen Sie, was ich meine?

Durchaus.
Real Power bedeutet für mich also verletzlich, mitfühlend und hilfreich zu sein. Gute Informationen zu teilen. Damit meine ich nicht nur gute Nachrichten – die sind grossartig, bitte ebenfalls teilen! –, sondern vertrauenswürdige Informationen, die dir das Gefühl geben, Teil einer Community zu sein. Statt sich allein und schlecht zu fühlen, weil man nicht weiss, was man tun soll. Real Power ist für mich People Power. Fake Power? Wer weiss! Manchmal ist vielleicht das Beste, was du tun kannst, andere davon zu überzeugen, dass du dich stark und mächtig fühlst. Das reicht.

Apropos Macht: Wer oder was hatte in Ihrem bisherigen Leben den grössten Einfluss auf Sie?
Auf meine Jugend beschränkt: meine Mum. Ich wuchs im konservativen Süden auf, der auch sehr unverhohlen rassistisch ist. Wir hatten nicht viel, aber es gab Leute, die weit weniger hatten und mir wurde in sehr jungen Jahren beigebracht, dass Empathie das Allerwichtigste ist. Alles, was du tun musst, ist versuchen, dir vorzustellen, wie es ist, in der Position von jemand anderem zu sein. Versuchen, wirklich zu spüren, wie sich das anfühlt. Ich erinnere mich auch gerade daran, wie ich einmal zu meiner Mutter sagte – ich war vielleicht zehn Jahre alt: «Wir sind ja White Trash.» Sie sagte dann: «Ähm, du bist das vielleicht, ich bin es nicht.» Damn! Ich war damals nur ein Kind, aber verstand da, dass alles davon abhängt, was ich selber von mir denke. Lass dich nicht von anderen definieren. Weil – Fuck you! Auch das verstand ich damals zum ersten Mal.

Aktuelles Album: Gossip – Real Power (Sony), Live: 9. Juli, Volkshaus, Zürich. Tickets gibts hier.

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