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Musikerin Corin Tucker von Sleater-Kinney: «Trauer ist eine sehr seltsame Emotion»

Literatur & Musik

Musikerin Corin Tucker von Sleater-Kinney: «Trauer ist eine sehr seltsame Emotion»

Corin Tucker und Carrie Brownstein prägen mit Sleater-Kinney seit den 90ern die Riot-Grrrl-Bewegung. Leadsängerin und Gitarristin Corin Tucker über das neue Album ihrer Band und den anhaltenden Kampf für Gleichberechtigung.

Es begann an einem Ort namens Olympia im US-Bundesstaat Washington. Corin Tucker und Carrie Brownstein besuchten dort dieselbe liberale Kunsthochschule, spielten in Bands und waren in der Riot-Grrrl-Bewegung aktiv. Nebenher gründeten die Freundinnen, die kurzzeitig auch romantisch verbandelt waren, eine weitere Band: Sleater-Kinney, benannt nach der Strasse, an der ihr damaliger Proberaum lag.

Um 1997 hob das einstige Nebenprojekt ab: «Dig Me Out» – der Song wie auch das gleichnamige dritte Album der Formation – machte die Band weit über die feministische DIY-Punk-Szene hinaus bekannt. Bereits in den Nullerjahren bezeichnete das Musikmagazin «Rolling Stone» Sleater-Kinney als «beste US-Rockband aller Zeiten». Auch nach einer mehrjährigen Pause ab 2007 brachen die Lobeshymnen nicht ab.

«Beste Rockband, die den letzten zwei Dekaden entsprungen ist»

Als 2015 das Comeback-Album «No Cities To Love» erschien, kommentierte Musikkritiker Tom Breihan: «zweifelsohne die beste Rockband, die den letzten zwei Dekaden entsprungen ist». Trotz erfolgreichen Solo-Projekten und Carrie Brownsteins Karriere in Film- und Fernsehen – gemeinsam mit Fred Armisen entwickelte sie etwa die Comedy-Serie «Portlandia» – sowie ihrer viel beachteten Biografie «Modern Girl» veröffentlichten Sleater-Kinney weiterhin erfolgreich Musik.

Seit 2019, als die langjährige Schlagzeugerin Janet Weiss die Band verliess, besteht die Band erneut aus den Gründungsmitgliedern Brownstein und Tucker. Letztere schaltet sich an einem Freitagmorgen im Dezember aus ihrer Heimat Portland über Zoom zu, um über das neue Album, seine tragischen Entstehungshintergründe und hoffnungsvolle Verbindungen zu sprechen.

annabelle: «Little Rope» ist ein äusserst persönliches Album. Es wurde von einem Schicksalsschlag geprägt: Im Oktober 2022 starben die Mutter und der Stiefvater Ihrer Bandkollegin Carrie Brownstein in einem Autounfall – ein Szenario, das man sich nicht vorstellen mag. Sie befanden sich damals mitten in der Arbeit am neuen Album. Wie blicken Sie heute auf diese Zeit zurück? Und inwiefern hat sie die Musik beeinflusst?
Corin Tucker: Wir hatten damals die meiste Musik fürs Album schon geschrieben, aber ich denke, der Unfall hat den Einsatz erhöht. Diese Tragödie zu erleben, war wahnsinnig hart für Carrie und höchst emotional. Nachdem sie ein wenig Zeit für so etwas wie Trauer hatte, wollte sie unbedingt weiter an der Musik arbeiten. Sie wollte sich der Sache voll hingeben, um etwas zu tun zu haben, ihre Tage zu füllen, irgendwo sein zu müssen. Zu wissen, dass die Arbeit ihr Halt und auch eine Art Mission gab, schuf eine sehr bewusste, zweckgerichtete Atmosphäre.

Wann haben Sie das Album fertiggestellt?
Ich würde sagen, im Januar 2023. Es hat eine Weile gedauert, weil wir einige Songs abänderten und uns Zeit für die Produktion und das Mastering nahmen. Wir sind sehr stolz auf dieses Album, denn es ist – wie Sie bereits sagten – sehr persönlich, wir gaben sehr viel von uns hinein.

Sie waren indirekt betroffen, aber doch ganz nah dran: Können Sie schon begreifen, was diese Trauer, die Sie mit Carrie durchlebten, mit Ihnen gemacht hat?
Es war sehr traurig, schockierend und auch schwierig, mitanzusehen, wie eine meiner besten Freundinnen diese Sache erlitt, die auch einfach so unfair schien. Gleichzeitig hatte ich die Möglichkeit, für Carrie da zu sein, als sie es brauchte. Manchmal vergisst man in solchen Situationen, dass es das Wichtigste ist, einfach anwesend zu sein und zu fragen, wie es geht – und in unserem Fall: weiter an dieser Sache zu arbeiten, die wir sowieso fertig machen mussten. Ich glaube auch, dass wir beide alt genug waren und genug gemeinsam durchgemacht hatten, um zu wissen, dass wir mehr als alles andere einfach aufkreuzen und weitermachen müssen.

Hat diese Erfahrung verändert, wie Sie über Trauer denken? Und vielleicht auch, wie Sie Musik machen?
Ja, ich denke, Trauer ist eine sehr seltsame Emotion. Sie ist nicht wirklich linear, nicht im Sinne, dass man nach einer bestimmten Zeit damit fertig wäre. Sie zeigt sich auf ganz verschiedene Weisen und ist ziemlich unvorhersehbar. Was das Musikmachen angeht: Wir haben schon genug Songs zusammen geschrieben, um zu wissen, dass wir Geduld brauchen, um sie so gut wie möglich zu machen. Manchmal bedeutet das, aktiv an etwas zu arbeiten, manchmal bedeutet das, verschiedene Dinge auszuprobieren. Ich denke, Geduld, Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit sowie das Austesten verschiedener Methoden haben uns dabei geholfen, dieses Album zu schreiben.

Da Sie und Carrie sich seit Teenagertagen kennen und seit 30 Jahren gemeinsam mit Sleater-Kinney Musik veröffentlichen: Haben Sie noch immer dieselben Beweggründe wie damals oder hat sich Ihre Beziehung zur Musik seither gewandelt?
Musikmachen ist noch immer eine Sache, die ich sehr geniesse. Es fühlt sich auch nach einem sinnvollen Beruf an. (lacht und hält kurz inne) Ich meine damit auch: Es ist ein Job. Wir arbeiten wirklich hart. Heute wahrscheinlich disziplinierter als früher. Als wir angefangen haben, hatten wir viel Enthusiasmus, aber nicht wirklich die Mittel, uns richtig auszudrücken. Wir kamen einfach in einem Proberaum zusammen, wo auch immer das war, warfen Ideen ein, feilten nicht allzu lange an den Songs. Ich glaube, der Unterschied ist wirklich die Disziplin, was Feinarbeit angeht. Dass wir alles daran setzen, die Songs so stark und wirkungsvoll zu machen, wie wir nur können.

Es klingt, als sei das Bedürfnis, mit Ihrer Musik etwas zu verändern, über die Jahre sogar noch gewachsen.
Oh ja, definitiv! Wir wollen etwas tun, das kraftvoll ist, aus unserem Leben erzählt, aber auch zur Welt und zur aktuellen Zeit spricht und unser Publikum bestmöglich erreicht – auch in Hinsicht auf Live-Konzerte.

Wie stehen Sie zur öffentlichen Repräsentation von Frauen Ihres Alters und älter? Sie sind 51 Jahre alt, Carrie Brownstein ist 49. In Ihren aktuellen Musikvideos sind Miranda July, ebenfalls 49, und J. Smith-Cameron, 66, zu sehen. Das ist kaum ein Zufall, oder?
Wir wählen die Bilder, die wir mit unserer Musik schaffen, definitiv sehr bewusst. Ich denke, es mangelt noch immer an Repräsentation von Frauen mittleren Alters oder älter, die einfach ihr Leben leben, samt grossen Karrieren, Liebe, Herzschmerz und all diesen Dingen.

Hatten Sie selbst solche Vorbilder, als Sie jünger waren?
Ich würde sagen, Repräsentationen von Frauen eines gewissen Alters waren dünn gesät. (lacht trocken) Vermutlich waren sie im US-amerikanischen Fernsehen und Film auch einfach nicht sehr populär oder weit verbreitet. Das gibt uns Gelegenheit, unsere eigenen Geschichten zu erzählen.

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«Es ist herzzerreissend, diesen Frauen dabei zuzusehen, wie sie für ihr Recht, den Zugang zu Gesundheitsversorgung, kämpfen müssen»

Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf den gegenwärtigen Stand in Sachen Gleichberechtigung?
Weil wir mit Roe vs. Wade den Schutz des Abtreibungsrechts verloren haben, fliesst in den USA derzeit ein grosser Teil der Arbeit in die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung für Frauen sowie – je nach Staat – den Zugang zu Abtreibungen. Es ist ein sehr spezifisches Thema, aber die Lage ist einfach kritisch! Es gibt Frauen, deren Leben in Gefahr sind. Aktuell gibt es etwa diesen Fall in Texas, in dem eine schwangere Frau, deren Fötus todkrank ist, also mit hundertprozentiger Sicherheit keine Überlebenschancen hat, vor Gericht ziehen muss, um das Recht auf eine Abtreibung zu erhalten (Anm. d. Red: Nach einem schockierenden Rechtsthriller, der in der Ablehnung ihres Gesuchs endete, entschloss sich Kate Cox dazu, die Abtreibung ausserhalb von Texas vornehmen zu lassen). Es ist herzzerreissend, diesen Frauen dabei zuzusehen, wie sie in aller Öffentlichkeit für ihr Recht, den Zugang zu Gesundheitsversorgung, kämpfen müssen.

Das führt mich zurück zu Ihrer Musik: Was hat den Song «Untidy Creature» inspiriert?
Das war tatsächlich der erste Song, den wir fürs Album geschrieben haben. Wir waren uns lange nicht sicher, ob er aufs Album passt, und arbeiteten weiter an vielen verschiedenen Sachen – wie schon erwähnt, ist während der Entstehung dieses Albums so einiges passiert, eben auch die Aufhebung von Roe vs. Wade. Im Song geht es um eine persönliche Beziehung und darum, sich als unzulänglich gesehen zu fühlen, aber ich denke, es spricht auch zur Beziehung, die Frauen in den USA derzeit zu ihrem Land haben; sich unerwünscht und vernachlässigt fühlen. Es ist ein sehr roher Song und die Performance ist das ebenfalls – ziemlich intensiv. Es hat eine Weile gedauert, bis ich realisierte, dass das etwas ist, das aufs Album passt. Dass dieses Album einfach sehr emotional und roh ist.

Warum wählten Sie genau dieses Lied als letzten Song für das Album?
Es ist ein persönliches Album, das mit Verlust und Versagen sowie Traurigkeit und Frustration kämpft, und «Untidy Creature» schien die Kehrseite all der Trauer und Hilflosigkeit irgendwie einzufangen. In diesem Lied steckt noch immer das Gefühl von Widerstand. Etwas, das sagt, man kann noch immer durch diese Welt gehen, um etwas verändern zu wollen. Es ist auch ein Album über Liebe und das Durchringen und ich hoffe, dass sich die Leute selbst darin sehen können. Dass wir durch das Teilen unserer düsteren Gedanken – und auch der leichteren – auf eine Art gemeinsame Reise gehen.

Sie erwähnten die Live-Konzerte: Hoffen Sie auf eine Art Katharsis gemeinsam mit dem Publikum?
Ja, ich glaube, das ist irgendwie immer die Belohnung, wenn wir in der Lage sind, unsere Musik live zu performen. Es ist sehr aufregend, diesen Moment mit Leuten zu teilen und etwas sehr Besonderes, wenn du etwas kreierst, das bei den Menschen ankommt.

Können Sie sich an das letzte Mal erinnern, dass Sie selbst so eine Art kollektive Katharsis erlebten? Vielleicht ebenfalls an einem Konzert, vielleicht aber auch in einem ganz anderen Kontext?
Auf alle Fälle! Bei unserem letzten Besuch in London sahen wir ein Konzert der Band Thee Sacred Souls und es gab uns so viel Energie, auf der Publikumsseite zu sein und die persönlichen Geschichten von gebrochenen Herzen und anderen Dingen zu hören, die die Band durchmachte. So etwas kann sehr tröstlich sein; eine gemeinsame Verbindung, eine menschliche Erfahrung. Live-Musik zu sehen – ich glaube, es gibt wirklich nichts Vergleichbares.

Gibt es eine Sache, von der Sie sich als Frau, Musikerin, Mutter zweier Kinder oder auch einfach als Mensch besonders wünschen, dass sie sich ändert?
Das wäre eine sehr lange Liste! (lacht) Aber ich antworte Mal aus der Sicht der Musikerin. Da müssten wir wirklich dringend die Unterstützungsstrukturen anschauen. In den USA gibt es kein Auffangnetz für Musikschaffende und so wie es mit den Streaming-Royalties läuft, können die Leute wirklich kein Geld verdienen. Wenn ich sehe, wie sich die Film- und TV-Industrie zur Gewerkschaft verbunden hat und in der Lage war, bessere Löhne für sich auszuhandeln, denke ich, dass sich die Musikindustrie organisieren und für bessere Streaming-Entlohnung und ein besseres Unterstützungssystem hinsichtlich Live-Musik einsetzen muss. In diesem Land (Anm. d. Red: USA) ist die Situation wirklich bedenklich und wir müssten ein besseres Fördersystem haben.

Entschuldigen Sie die Frage, aber sie drängt sich auf: Reicht es denn bei Ihnen selbst für ein Leben von der Musik?
(schüttelt schweigend den Kopf)

Nein?!
(lacht) – Mit einem Wort: Nein.

Uff … auch das ist ziemlich herzzerreissend.
Ja, es ist ein Problem. Ich bin privilegiert, weil mein Arbeitgeber sehr wohlwollend ist, was meine künstlerische Arbeit angeht. Das zeigt aber auch, dass man als Künstler:in in dieser Welt auf Privilegien angewiesen ist und das sollte nicht so sein. Die Leute sollten Ressourcen haben, damit wir viele, möglichst diverse kreative Stimmen hören können.

Sleater-Kinney: Little Rope (Loma Vista)

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