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Klassikstar Igor Levit: «Ich bin kein Aktivist – ich bin Bürger»

Literatur & Musik

Klassikstar Igor Levit: «Ich bin kein Aktivist – ich bin Bürger»

Der deutsche Pianist Igor Levit kommt diese Woche mit seinem viertägigen Klavier-Fest nach Luzern sowie im Juni mit einem Dokfilm ins Kino. Ein Gespräch über Twitter, Russland – und Angst.

Der deutsche Pianist Igor Levit ist hochbegabt, sein Repertoire ist riesig, sein Publikum liegt ihm zu Füssen. Das heisst aber nicht, dass er vor Selbstbewusstsein nur so strotzt, wie man im dokumentarischen Porträtfilm «Igor Levit – No Fear», der ab dem 8. Juni 2023 in den Schweizer Kinos läuft, sehen kann. Da spricht Levit darüber, wie er nach Konzerten zweifelt. Da sieht man ihn in fragilen Momenten, in denen er sich nach Trost und Halt zu sehnen scheint.

1987 als Sohn einer Musikpädagogin und eines Bauingenieurs im russischen Nischni Nowgorod geboren, übersiedelte Levit 1995 mit seiner Familie nach Deutschland, wo er mit 13 Jahren eine Ausbildung für musikalisch Hochbegabte an der Hochschule für Musik in Hannover begann. Der 36-Jährige liebt neben der Musik aber auch die politische Einmischung, die er lange insbesondere auf Twitter suchte – und fand.

Wichtiger als Kontroverse sei ihm allerdings «Wärme und Miteinander und Herz», wie Levit in einem intensiven, halbstündigen Telefonat erzählt. Der Pianist hat auch deshalb im Rahmen des Lucerne Festival ein viertägiges Klavier-Fest im KKL in Luzern kuratiert, das am kommenden Donnerstag beginnt. Vier Abende, an denen die beteiligten Künstler:innen nicht nur zum flüchtigen Soloauftritt bleiben. Sondern für die Begegnung – untereinander und mit dem Publikum.

annabelle: Igor Levit, Ihr Klavier-Fest endet mit einem «Finale für Vier», zu dem sie drei weitere Pianist:innen auf die Bühne bitten. Auf Werke von Beethoven und Schumann wird dabei mit Improvisation geantwortet. Haben Sie so etwas schon mal gemacht?
Igor Levit: Dass ein Teil des Programms festgelegt, der andere hingegen noch offen ist, ist eine Premiere. Wir schauen einfach, was passiert. Vielleicht passiert ja auch nichts? Ich weiss selbst nicht genau, was uns und das Publikum erwartet, bin aber sehr gespannt.

Ein Begleittext spricht in diesem Zusammenhang von der Kultur des Battle im Hip-Hop, in der Rapper:innen miteinander im Wettstreit sind – und dass es solche Battles auch in der Klassik bereits gab.
Das hat es wirklich alles schon gegeben, der Rap hat das nicht neu erfunden. Es ist mir aber sehr wichtig zu sagen, dass ich im Kontext dieses Finales überhaupt nicht an einen Wettstreit denke. Sondern dass das einfach eine wunderschöne Begegnung und eine gemeinsame Verabschiedung vom Publikum sein soll.

Fred Hersch, einer der von Ihnen eingeladenen Pianisten, kommt aus dem Jazz. Würden Sie sagen, die Klassikwelt kann ein bisschen Crossover gut gebrauchen?
So hermetisch ist die Klassikwelt eigentlich gar nicht – jedenfalls nicht mehr. Die Genres öffnen sich, neue Formate entstehen, gerade die junge Generation von Künstler:innen ist sehr offen. Ich selbst bin es. Es passiert viel.

In der Dokumentation «Igor Levit – No Fear», die auch am Klavier-Fest gezeigt wird, sprechen Sie darüber, dass Sie nach dem Hören des Blues-Gitarristen Muddy Waters an Ihrem eigenen Instrument, dem Klavier, beinahe verzweifelt seien. Ist das immer noch so?
Was die Begegnung mit der Kunst von Muddy Waters mit mir gemacht hat, war enorm wichtig für mich und prägt mich bis heute. Ich bin aber nicht mehr in dem umwälzenden Schockzustand, in dem ich in diesem Moment war.

Wie kam es zu diesem Schock? Durch den Kontakt mit der Musik? Oder hatte das andere Gründe?
Es war die Begegnung mit dieser Stimme, diesem Gitarrenspiel. Die Intensität war für mich erst einmal einfach unfassbar.

Gibt es in Ihrer Karriere andere Beispiele für solche Erschütterungen?
Da gab es immer wieder welche. Die Begegnung mit der Musik des italienischen Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni. Als ich das erste Mal die Missa solemnis von Beethoven gehört habe. Aber auch Hendrix, der frühe US-amerikanische Hip-Hop: Das waren alles schockierende Begegnungen in einem ganz und gar positiven Sinn: erfüllend, beeindruckend. Verändernd.

In «No Fear» sieht man die Konzerte, die Sie während Corona über Ihren Twitter-Kanal gegeben haben. Im Bild ist Ihr Handy, das Sie am Klavier sitzend streamt – und sofort läuft jede Menge Feedback rein. Wer antwortete da?
Alle. Jüngere, Ältere, aus allen Ländern. Es waren ja auch beinahe überall auf der Welt alle in der gleichen Situation. Die Menschen schrieben mir, teilten ihre Geschichten, unendlich viele. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, überwältigt mich das noch immer.

Sie haben Twitter auch für die politische Auseinandersetzung genutzt, schrieben über Antisemitismus, über Angriffe auf Juden in Deutschland. Seit 2022 sind Sie nicht mehr auf Twitter aktiv. Warum nicht?
Da gab es viele Gründe. Ich werde Ihnen hier nur den schönsten nennen, nämlich die erwähnten Konzerte. Sie sind ein Höhepunkt meines Lebens. Ich meine das ernst. Da war einfach Wärme und Miteinander und Herz, eine unglaubliche Zuneigung. Ich habe Twitter dann noch anderthalb Jahre weiter genutzt. Aber schöner wurde es dort für mich nicht mehr.

«Russische Menschen haben nur dieses Land, in dem sie leben»

Wikipedia schreibt, Sie seien Pianist und politischer Aktivist. Stimmen Sie zu?
Ich habe den Begriff Aktivist früher tatsächlich selbst für mich benutzt. Das ist aber einige Jahre her. Aktivist:innen leben ein ganz anderes Leben, zeigen eine ganz andere Form von Einsatz. Ich kann mich damit nicht vergleichen und mich so auch nicht beschreiben. Ich bin kein Aktivist. Ich bin Bürger. Ein politisch auf unterschiedlichen Ebenen sehr aktiver Bürger.

Seit wann?
Seit dem Ausbruch der grossen Wirtschaftskrise, die durch das Banken- und Versicherungswesen und einen aus meiner Sicht mit voller politischer Absicht deregulierten Finanzmarkt ausgelöst wurde. Das machte mich damals ungeheuer wütend. Aus der Bankenkrise wurde dann die Eurokrise; es gab Ressentiments gegen vermeintlich faule Südeuropäer. In Deutschland entstand eine faschistoide Partei, die jetzt im Parlament sitzt (Levit meint die AfD, Anm.d.Red.). Diese Kettenreaktion hat mich extrem intensiv beschäftigt und mich politisiert.

Zum Klavier-Fest haben Sie Ihre russischen Kolleg:innen Anna Vinnitskaya und Alexei Volodin eingeladen. Ist das neben dem künstlerischen auch ein politisches Statement?
Nein. Ganz eindeutig nein. Das ist kein Wink mit dem Zaunpfahl. Für mich sind Vinnitskaya, die in Hamburg lebt, und Volodin, der in Spanien lebt, einfach herausragende Kunstschaffende, die ich gerne dabei haben wollte. Je mehr Menschen sie hören können, desto mehr Menschen werden glücklich.

Im Sport wurden russische Athlet:innen ausgeschlossen. Macht es Sinn, sie für die Politik ihres Landes zu bestrafen?
Das Klavier-Fest gibt dazu keinerlei Statement. Wenn Sie mich hier persönlich fragen: Der Krieg in der Ukraine, dieser Angriffskrieg, ist durch nichts zu rechtfertigen, durch keine Vorgeschichte. Und es gibt im russischen Sport und auch in der russischen Musik durchaus Menschen, die seit Jahren Putins Propagandisten sind, laut und deutlich. Was die grosse Mehrheit der Russen angeht, lautet meine Antwort, in aller Verzweiflung: Ich habe keine. Diese Menschen haben nun einmal nur dieses Land, in dem sie leben. Zu sagen, russische Künstler:innen, die von Staatsgeldern finanziert werden, dürfen nicht mehr eingeladen werden? Ich weiss es einfach nicht. Es gibt ja nichts anderes als diese Staatsgelder.

Das «No Fear» im Titel der Dokumentation über Sie – bezieht sich das auf den politischen Igor Levit oder auch auf den musikalischen? Gibt es zum Beispiel eine ängstliche und eine angstfreie Weise, Beethoven zu spielen?
(lacht) Es bezieht sich auf mich. Ich habe Ängste und dann wieder keine, ich bin ein Mensch, wie Sie. «No Fear» ist ein Zitat von Nina Simone, die sagte, Freiheit sei für sie Freiheit von Angst. Das ist natürlich ein Ideal – aber ich versuche, es Tag für Tag anzustreben.

Das Lucerne Festival findet ab dem 18.5. in Luzern statt; hier gibts mehr Infos. Der Dokumentarfilm «Igor Levit – No Fear» feiert am Dienstag, 6.6., im Rahmen des jüdischen Filmfestivals Yesh! in Zürich im Kino Arthouse Uto Vorpremiere. Am 8.6. startet der Film im Kino.

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