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Musikerin Feist: «Vor #Me-Too schien für viele von uns Missbrauch beinahe normal zu sein»

Literatur & Musik

Musikerin Feist: «Vor #Me-Too schien für viele von uns Missbrauch beinahe normal zu sein»

Die Tochter wird geboren, der Vater stirbt – Leslie Feist hatte viel zu verarbeiten auf ihrem neuen Album.

In Los Angeles hat es den ganzen Tag geregnet, aber Leslie Feist ist kalifornisch braungebrannt und gutgelaunt, als wir sie per Zoom erreichen. Eben hat sie dem Regen getrotzt und ein paar Bahnen im Pool gezogen. «Nass werde ich beim Schwimmen ja sowieso», sagt sie.

Die 47-jährige Sängerin und Songschreiberin mag es generell unkonventionell: Statt zuerst Songs zu schreiben, diese dann aufzunehmen und später bei Konzerten zu spielen, hat die Kanadierin es vor ihrem sechsten und neuen Album genau andersherum gemacht. «Multitudes» war zunächst ein besonderes Konzept zur Rückeroberung der Bühne während der Pandemie gewesen, das Feist im Sommer 2021 auf Einladung des Internationalen Sommerfestivals in Hamburg mit dem Produktionsdesigner Rob Sinclair umgesetzt hatte.

Statt bei diesen intimen Konzerten ihre Hits wie «Mushaboom» oder «1234» zu spielen, wollte sie die Auftritte unbedingt mit neuen Songs bestreiten. Zwei Jahre später ist daraus nun ein Album geworden. Feist hat es in einem nordkalifornischen Studio im Schatten der gigantischen Mammutbäume des Redwood-Nationalparks aufgenommen. Geboren wurde die Musik aus Trauer, Verlust und der Freude über ein neues Leben, wie sie im Interview erzählt.

annabelle: Leslie Feist, im Vorfeld von «Multitudes» sind Sie zunächst Mutter einer Tochter geworden, bald darauf ist Ihr Vater verstorben, der kanadische Künstler Harold Feist. Das muss ein ziemliches Wechselbad der Gefühle für Sie gewesen sein.
Leslie Feist: Traurigkeit hat leider die Eigenschaft, alle anderen Emotionen zu überschatten. Ich war voller Vorfreude und hatte mein Herz für die Ankunft meiner Tochter geöffnet, als mein Vater krank wurde. Die Sorge um ihn hat danach alles andere überlagert. Zum Glück hat er meine Tochter noch kennengelernt. Zu Beginn der Pandemie haben wir bei ihm in Toronto gewohnt, um uns um ihn kümmern zu können. Die Kleine in seinen Armen zu halten, war für ihn wie Medizin. Es war wunderschön, dieses neue Baby in den Armen meines Vaters zu sehen.

Sie hatten ein besonders intensives Verhältnis zu Ihrem Vater, richtig?
Ja, das ist so. Ich habe drei Geschwister, und mit Rücksicht auf ihre Gefühle möchte ich hier nicht zu viel über meinen Vater sprechen, aber es stimmt schon. Wir hatten wirklich ein sehr spezielles Verhältnis, für das ich ewig dankbar sein werde. Als er dann gestorben ist, war meine Tochter die Einzige, die mir Atempausen von der Trauer verschafft hat. Kinder leben ja total im Hier und Jetzt, ein Grashalm, ein Marienkäfer, solche Sachen können sie über alle Massen begeistern, und davon habe ich mich immer wieder anstecken lassen. So hat die Kleine mich für Momente ins Leben zurückgeholt.

Die eigenen Eltern zu verlieren sei unabhängig vom Alter das endgültige Ende der Kindheit, sagt man. Erst danach werde man richtig erwachsen. Kennen Sie den Spruch?
Nein, das habe ich noch nie gehört. Seit ich Mutter bin, erkenne ich mich aber ohnehin kaum wieder. Es fühlt sich an, als hätte ich lang geschlafen, während eine frühere Version meiner Selbst ein vollkommen neues Leben für mich aufgebaut hat. In diesem Leben muss ich meiner Tochter die Geborgenheit vermitteln, die mein Vater mir vermittelt hat, und es ist niemand mehr da, mit dem ich darüber sprechen könnte. Also führe ich diese Gespräche nun innerlich fort und spüre dadurch tatsächlich eine Verbindung zu ihm.

Auf dem Cover des Albums sind Sie gleich sechsfach zu sehen, verschwommen, mit dem Zeitraffer fotografiert – also buchstäblich vervielfältigt, wie es der Albumtitel andeutet.
Um meine neue Rolle als Mutter auszufüllen und gleichzeitig mit der Trauer um meinen Vater klarzukommen, ohne die vielen kleinen Dinge zu vernachlässigen, die das Leben als Mutter mit sich bringt, müsste ich mich eigentlich wirklich vervielfältigen. Es müsste mich zehnfach geben.

Wie wichtig waren in dieser Situation Freunde? Der kanadische Musiker Chilly Gonzales tritt nicht mehr als Mitproduzent Ihrer Alben in Erscheinung, aber auf «Multitudes» ist er zu Gast. Sie beide verbindet eine lange Freundschaft.
Das ist richtig. Auch wenn wir vor zwei Alben mit ihm als Produzent meiner Musik an ein natürliches Ende gekommen sind. Aber ich bin mir natürlich seiner Musikalität und besonderen Herangehensweise bewusst. Wenn ich an einem Song arbeite, der von Chilly profitieren könnte, ist er stets nur einen Anruf entfernt. Es ist ein grosses Glück für uns, einander zu haben. Es ist nur ein bisschen doof, dass wir inzwischen auf entgegensetzen Seiten des Planeten wohnen.

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Zu Beginn der Nullerjahre bildeten Sie mit Gonzales, Peaches, Mocky und anderen eine Berliner Künstler-Community aus kanadischen Expats. Berlin hat sich seitdem verändert, wie erleben Sie die Stadt, wenn Sie heute dort sind?
Peaches wohnt noch da, Taylor Savvy ebenfalls, die kanadische Dependance ist durchaus intakt. Wenn ich in Berlin bin, gibt es immer einen French Toast für mich in irgendeiner Küche und einen Milchkaffee in der «Ankerklause». Und Peaches wohnt stets bei mir, wenn sie in L. A. zu Besuch ist.

Damals kam eine ganze Reihe von kanadischen Indie-Kollektiven auf. Arcade Fire, Stars, ihre alte Band Broken Social Scene… Diese Bands haben sich als achtsam, kollektivistisch verstanden. Wie sehr haben Sie die aktuellen Vorwürfe gegen Win Butler, den Sänger von Arcade Fire, wegen Machtmissbrauchs, Manipulation jugendlicher Fans und sexuellen Fehlverhaltens vor diesem Hintergrund überrascht?
Sehr. Das hat uns alle eiskalt erwischt. Ich weiss nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich habe einige Tage gebraucht, um zu realisieren, was für weitreichende Konsequenzen diese Vorwürfe haben. Nicht zuletzt brauchte ich diese Zeit auch, um mir meiner eigenen Verantwortung bewusst zu werden.

Sie waren als Vorband für die laufende Arcade-Fire-Tour gebucht und hatten bereits zwei Konzerte mit der Band gespielt. Danach haben Sie ein Statement veröffentlicht und die Tour verlassen.
So ist es. Ich habe lang überlegt, wie ich dieses Statement formulieren soll. Ich hatte nicht das Gefühl, es sei meine Aufgabe, Win Butler zu be- oder gar entschuldigen. Ich war auf dieser Tour, um meine Songs zu spielen, und es fühlte sich für mich danach einfach an wie der falsche Ort, die falsche Zeit, um das zu tun. Ich musste eine vertretbare Lösung finden – nicht nur für mich, auch für meine Band, meine Crew, meine Familie.

Ich habe Arcade Fire vor ein paar Jahren einige Tage begleitet und mein Eindruck war genau der, den man allgemein von der Band hat: dass sie sehr liebevoll und umsichtig miteinander und mit allen anderen umgehen. Von Win Butler hatte man so etwas einfach nicht erwartet.
Das liegt an unserer Doppelmoral. Wir haben eine sehr klischeehafte Vorstellung von solchen Dingen. Diese Art von übergriffigem Verhalten kommt in allen Szenen vor, aber wir setzen automatisch unterschiedliche Standards. Nur weil Win Butler emotionale Musik macht, bedeutet das noch lang nicht, dass er diesbezüglich ein besserer Mensch ist als jemand, der, sagen wir, bei Mötley Crüe spielt.

Haben Sie selbst in Ihrer Karriere #MeToo-Erfahrungen gemacht?
Durchaus, aber das war lang, bevor es eine Bewegung wie #MeToo überhaupt gegeben hat. Wir hatten damals noch kein Wort dafür. Es ist wunderbar, dass es das jetzt gibt: ein Gemeinschaftsgefühl und ein Forum, wo dir zugehört wird und du Unterstützung erfährst in Dingen, die derart privat, beschämend und unangenehm sind. #MeToo ist wie ein Polarstern für Frauen, die solche Erfahrungen machen. Was mich angeht: Ich habe für mich einen Weg gefunden, meinen Frieden mit diesen Erfahrungen zu machen. Ich bin dankbar für meine Tochter, meine Nichten und jede Frau auf der Welt, dass es #MeToo gibt. Viele Frauen in meinem Alter realisieren dadurch überhaupt erst, dass es nicht okay war, was sie erlebt haben. Für viele von uns schien Missbrauch beinahe normal zu sein, als gehöre das für Frauen irgendwie dazu. Frauen, die ich kenne, schauen jetzt zwanzig Jahre zurück und erkennen: Das war es nicht! Es war absolut nicht normal. Wie bei so vielen anderen Dingen kann man diesbezüglich eine ganze Menge von der jungen Generation lernen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Feist: Multitudes, jetzt erhältlich.

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