
"Lilianas unvergänglicher Sommer": Cristina Rivera Garza schreibt über den Femizid an ihrer Schwester
Die Autorin Cristina Rivera Garza verarbeitet in ihrem Buch "Lilianas unvergänglicher Sommer" den Femizid an ihrer Schwester und gewann dafür den Pulitzer-Preis. Ein Gespräch über die Macht der Sprache, einen neuen Blick und verschiedene Formen der Gerechtigkeit.
- Von: Sandra Brun
- Bild: Mariso Cid
Inhaltshinweis: Geschlechtsspezifische Gewalt
Ihre Schwester Liliana wurde 1990 im Alter von 20 Jahren von ihrem ehemaligen Partner getötet. Sie lebte in Mexiko-Stadt, war kurz vor Ende ihres Architektur-Studiums, stand am Anfang ihres Lebens. Der Täter wurde nie verurteilt. Sie schreiben, lange Zeit nicht die Sprache gefunden zu haben, um über den Femizid an ihrer Schwester überhaupt zu sprechen.
Wir als Gesellschaft haben erst in den letzten Jahren ein Vokabular für Gewalt an Frauen entwickelt. Diese neue Sprache entstand aus der Konfrontation, dem Kampf auf der Strasse, besonders der feministischen Bewegungen in ganz Lateinamerika, die patriarchale Narrative hinterfragen und unterlaufen. Noch vor wenigen Jahren wurden Femizide als «Verbrechen aus Leidenschaft» betitelt und als Einzelfälle abgetan, was sie auch ein Stück weit unsichtbar machte.
Wie hat Ihnen diese Sprache dabei geholfen, mit Ihren Eltern über den Mord an Ihrer Schwester zu sprechen?
Wir neigten dazu, uns in uns selbst zu verkriechen und haben lange Zeit geschwiegen, was sehr quälend war. Das Buch half, Lilianas Geschichte umzuschreiben und uns mit der Zeit immer mehr auch von Schuld und Scham zu entwirren, die uns lange begleitet haben. Unser Trauerprozess als Familie hat sich ausserdem dramatisch verändert durch die Rückmeldungen von Leser:innen, durch ihre Geschichten, durch das Wissen, nicht allein zu sein mit diesem Verlust. Ich beobachtete eine enorme Veränderung in der Fähigkeit meiner Eltern, über Liliana zu sprechen, sie liebevoll und behutsam nach und nach in unsere Gespräche zurückzuholen.
Die Schuldgefühle und Scham Ihrer Familie thematisieren Sie im Buch an verschiedenen Stellen. Woher kam diese?
Zur Zeit des Femizids an meiner Schwester war das einzige gesellschaftliche Narrativ das, mir und meiner Familie die Schuld dafür zu geben. Das resultierte aus Fragen wie: Warum hat sie in der Grossstadt gelebt? Wieso habt ihr sie allein leben lassen? Weshalb hatte sie schon so früh in ihrem Leben einen Freund? Der vorherrschende Diskurs zu dieser Zeit rief viel Schuld und Scham hervor – bei uns und anderen von Femiziden betroffenen Familien. Unsere Gefühle waren tief mit dieser Art zu denken verbunden. Wir hatten das Gefühl, nicht genug getan zu haben, um sie zu schützen; Warnzeichen nicht erkannt zu haben. Erst später begannen wir, die Dynamik von geschlechtsspezifischer Gewalt zu verstehen.
Sie schreiben in Ihrem Buch den Satz «Der einzige Unterschied zwischen meiner Schwester und mir ist, dass ich nie einem Mörder über den Weg gelaufen bin.»
Diese Verbrechen betreffen uns alle. Femizide sind ein weltweites Problem – Frauen werden überall auf der Welt ohne Rücksicht auf geopolitische Grenzen, soziale Schichten, Ethnien oder Alter aus geschlechtsspezifischen Gründen getötet.
"Das Problem bei Femiziden ist, dass die Sprache der Kontrolle und der Gewalt sehr eng mit der Sprache der romantischen Liebe verbunden ist"
Wieso scheint es so schwierig, Femizide als solche zu benennen, zu erfassen, zu bekämpfen? Auch in Mexiko selbst, wo jeden Tag zehn Femizide verübt werden, sind sie erst seit 2012 offizieller Tatbestand.
Das Problem bei Femiziden ist, dass die Sprache der Kontrolle und der Gewalt sehr eng mit der Sprache der romantischen Liebe verbunden ist. Ausserdem wurden Gespräche über Femizide lange Zeit damit zum Schweigen gebracht, dass sie als Privatsache angesehen wurden; als etwas, das fernab der Öffentlichkeit passiert. Auch Victim Blaming, also den getöteten Frauen die Schuld an der Gewalt zu geben, die sie schliesslich getötet hat, war – und ist – weit verbreitet.
Liliana kämpfte gegen die Gewalt an, die sie in ihrer Beziehung erlebt hatte. Sie trennte sich von ihrem Partner. Sie sprach mit ihrem Umfeld darüber. Trotzdem hatte sie immer wieder Kontakt mit ihm, wie konnte es dazu kommen?
Häusliche Gewalt kann tödlich enden, das wissen wir. Oft wird aber die falsche Frage gestellt: Warum bleibt sie bei ihm? Warum geht sie zurück zu ihm? Die Autorin Rachel Snyder kehrt in ihrem Buch «No Visible Bruises. What We Don’t Know About Domestic Violence Can Kill Us» die Fragestellung um: Wieso geht er zurück zu ihr? Wieso hat er es auf sie abgesehen?
Das verändert auch den Blick auf die Opfer.
Diese Frauen sind eben nicht naiv oder leichtfertig, sie tragen keine Verantwortung für die Verbrechen, die ihnen widerfahren. Sie sind Zielpersonen. Indem wir dies anerkennen, können wir auch anders über diese Beziehungen sprechen: Es geht hier nicht um toxische Beziehungen. Es geht darum, dass eine Person eine andere ins Visier nimmt – in einer Gesellschaft, in der die Geschlechterbeziehungen strukturell ungleich sind.
"Dieses Buch zu schreiben hat mir verschiedene Versionen meiner Schwester geschenkt"
Sie erzählen Lilianas Geschichte unter anderem durch Briefe, Notizen, Gespräche mit Freund:innen von ihr. Darin kommt immer wieder vor, dass sie sich Gedanken gemacht hat über die für sie richtige Art romantischer Liebe, über ihr Streben nach Freiheit. Haben Sie damals mit ihr über diese Themen gesprochen?
Dieses Buch zu schreiben hat mir verschiedene Versionen meiner Schwester geschenkt. Ich kannte sie als meine kleine Schwester, aber ich war nicht ihre beste Freundin an der Uni oder ein Junge, der in sie verliebt war. Ich habe also viel über sie gelernt. Wir diskutierten damals über Fragen der Liebe und ich hielt Liliana für konservativ. Durch ihre Aufzeichnungen habe ich gesehen, wie sehr sie sich für eine Liebe eingesetzt hat, die gleichzeitig Freiheit bedeutete, Autonomie.
Ihre erste grosse Liebe hat Liliana ihr Leben gekostet.
Das hätte nicht passieren dürfen.
Lilianas Exfreund war eingeschüchtert davon, dass sie in der Stadt lebt, studiert, viel Zeit mit Freund:innen verbringt, dieses erfüllte Leben führt. Offensichtlich war auch eine Menge Frauenfeindlichkeit in ihm verwurzelt.
Frauenfeindlichkeit ist wohl auch deshalb so weit verbreitet, weil man sie nicht immer auf Anhieb erkennt. In Mexiko gibt es ein Tool, das geschlechtsspezifische Gewalt misst, es heisst «El Violentometro». Wie ein Lineal zeigt es die verschiedensten Arten von Gewalt auf: Von einfachen Formen wie Beschimpfungen steigen die Gefahrenstufen zunehmend bis zuoberst zur tödlichsten Form der Gewalt, dem Femizid. Diese klare Benennung entlarvt Frauenhass – und kann Leben retten.
Inwiefern?
Benennung kann helfen, die Sprache dafür zu finden, was einem widerfährt. Oft durchlaufen Frauen in gewalttätigen Beziehungen Phasen, in denen ihnen die Worte fehlen, um ein gewisses Unbehagen zu erklären. Die eindeutige Identifizierung und objektive Beschreibung von Verhaltensweisen ermöglicht es vielen Frauen zu sagen: Das ist es, was ich an Unsicherheit empfunden habe, was ich nicht genau erkennen konnte.
Sie haben vorher Rachel Snyder erwähnt, an einer Stelle in Ihrem Buch zitieren Sie sie folgendermassen: «Frauen, die Todesdrohungen von Männern erhalten, die behaupten, sie zu lieben, müssen einen riesigen kognitiven Graben überwinden, um diese Drohungen ernst zu nehmen.» Wie gelingt dieses Ernstnehmen?
Indem man als erstes erkennt: Tödliche Gewalt kommt nicht aus dem Nichts. Wenn es einen Femizid gibt, gab es vorher schon Gewalt. Problematisch ist, dass diese Gewalt entweder zum Schweigen gebracht oder systematisch akzeptiert wurde. Diese beiden Dinge verhindern nicht nur, dass man erkennt, in einer toxischen Beziehung zu sein, sondern auch, dass man erkennt, sich tatsächlich in Gefahr zu befinden. Denn das allgegenwärtige Narrativ verwechselt übergriffiges Verhalten oft mit Liebe: «Er liebt sie so sehr, er kann nicht anders», heisst es etwa. Wächst dieses problematische Verhalten, diese Gewalt, stetig weiter, kann es zu einem Femizid führen.
Wird ein Femizid verübt, hört man oft, dass das Umfeld etwas ahnte, vielleicht gewisse Aspekte der Gewalt kannte. Welche Möglichkeiten gibt es, zu helfen, wenn ein:e Freund:in oder ein Familienmitglied in einer Beziehung feststeckt, die immer gewalttätiger wird?
Dafür brauchen Frauen ein Sicherheitsnetz um sich herum, weil sie sehr verletzlich werden. Da zu sein, diese Sicherheit zu bieten, ist ein wichtiger Schritt. Diese einzelnen Geschichten aus dem Privaten raus in öffentliche Gespräche zu bringen ein weiterer. Und es braucht öffentliche Massnahmen; Orte, an die sich Frauen wenden können, wo sie Zuflucht finden.
"Ich fand Liliana in den Orten, die sie besucht hat, den Gegenständen, die sie angefasst hat und den Menschen, mit denen sie ihr Leben geteilt hat"
Sie erzählen Lilianas Geschichte auch, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Wie schaffen wir es, uns an die Opfer von Femiziden zu erinnern, ihnen eine Stimme zu geben?
Ich glaube nicht an das Prinzip, Stimme für die Stimmlosen zu sein. Die Arbeit an meinem Buch zeigte mir deutlich auf: Liliana hatte eine Stimme, deren sie sich sehr bewusst war. So bewusst, dass sie fast alles, was sie je geschrieben hat, aufbewahrte. Ich brauchte nur darin zu stöbern, um ihre Stimme und ihre Realität zu finden. Und so beschloss ich, das Buch quasi mit ihr zusammen zu schreiben. Und ich fand sie in den Orten, die sie besucht hat, den Gegenständen, die sie angefasst hat und den Menschen, mit denen sie ihr Leben geteilt hat. Jeder Gegenstand, den wir berühren und jeder Ort, an dem wir uns aufgehalten haben, hinterlässt einen Abdruck dessen, wer wir sind. Und dadurch können wir die Geschichte jeder einzelnen Frau, die wir durch Gewalt verloren haben, lesen.
Wie war es für Sie, mit Lilianas Freund:innen zu sprechen?
Es war ein zutiefst emotionaler Prozess; schmerzhaft, aber auch geprägt von vielen freudigen Entdeckungen. Keine:r ihrer Freund:innen hat gezögert, zutiefst persönliche Erinnerungen an sie mit mir zu teilen. Und es war schön zu sehen, wie wichtig Liliana für jede:n von ihnen war, auf unterschiedliche Art und Weise. Ich wollte so viele Geschichten sammeln, wie ich auftreiben konnte. Um für die Leser:innen ein komplexes, breitgefächertes Porträt zu schreiben, das auch widersprüchlich sein durfte. Ich wollte keine Heldin kreieren, sie hätte das gehasst.
Der Titel des Buchs basiert auf einem Zitat von Albert Camus: «Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer ist.»
Liliana hat dieses Zitat mehrmals in ihren Tagebüchern und Notizen geschrieben. Sie tröstete sich in schwierigen Momenten oft selbst mit diesen Worten. Und sie tröstete damit eine Freundin, die in Not war. In vielerlei Hinsicht sind wir diese Freund:innen in Not, wenn wir jemanden verlieren.
Sie schreiben, in all den Jahren hätten Sie Lilianas Präsenz immer gespürt. Hat sich dieses Gefühl verändert, jetzt wo sie so viel Zeit mit ihr verbracht haben, mit ihrer Geschichte?
Ich unterhalte mich immer noch jeden Tag mit ihr, sie hat mich nie verlassen – ich habe ihr nie erlaubt, mich zu verlassen. Ein wichtiger Teil meines Trauerprozesses war, den Verlust meiner Schwester anzuerkennen, ihr aber zugleich Raum zu geben, weiter Teil meines Lebens zu sein. Die grösste Veränderung ist, dass ich sie jetzt mit vielen Menschen teile. Und jetzt, wo ich ihren Namen an Hauswände gesprayt sehe, auf Transparenten an Demonstrationen und in Nachrichten von Leser:innen, bin ich umso glücklicher, dass sie nun Teil des Lebens vieler weiterer Menschen sein darf.
Hat das Sichtbar- und Hörbarmachen der Geschichte Ihrer Schwester Ihnen auch ein Gefühl von Gerechtigkeit gegeben?
Ich dachte, dass die Arbeit an diesem Buch helfen würde, Ángel González Ramos endlich vor Gericht zu bringen. Leider ist das nicht gelungen. Nicht einmal mit einem Buch, das den Pulitzer-Preis gewonnen hat. Das macht mich wütend und ist frustrierend. Aber nebst dem rechtlichen Aspekt der Gerechtigkeit, der Straflosigkeit für so viele Täter, gibt es andere Formen: die Gerechtigkeit, die durch das kollektive Gedächtnis und die Wahrheit entsteht.

«Lilianas unvergänglicher Sommer» von Cristina Rivera Garza ist am 12. Juli 2025 erstmals auf Deutsch erschienen. Die Autorin hat für dieses Werk 2024 den Pulitzer-Preis gewonnen.
Informationen und Hilfsangebote zum Thema (sexualisierte) Gewalt findest du hier:
143 – Die Dargebotene Hand (Crisis support in English: heart2heart.143.ch)
BIF – Beratungsstelle für Frauen
Beratungsstellen für Gewaltvorfälle
Für Männer, die Gewalt einsetzen und/oder sich in einer sonstigen Konflikt-und Krisensituation befinden, bietet das Mannebüro Beratungen an, auch telefonisch.
danke für diesen wunderbaren, bewegenden text!