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Sängerin und Schauspielerin Fatoumata Diawara: «Musik zu machen, ist meine Art zu überleben»

Popkultur

Sängerin und Schauspielerin Fatoumata Diawara: «Musik zu machen, ist meine Art zu überleben»

Fatoumata Diawara floh aus ihrem Filmstar-Leben in Mali, um zur Musikikone und Kämpferin für Menschenrechte zu werden: Im Interview erzählte uns die Künstlerin, wie sie mit 19 Jahren aus ihrer Heimat flüchtete, wie wichtig die Bindung zum Publikum ist und welche Freiheit und Heilung sie durch die Musik erfährt.

In manchen Welten ist Fatoumata Diawara längst ein Star. Im globalen Norden sind es tendenziell noch eher die Nischen – zuletzt performte die 41-Jährige etwa in der Oper «Le vol du boli» in Paris, vertont von Britpop-Veteran Damon Albarn, oder als Gast auf Tour mit dessen Alt-Pop-Phänomen Gorillaz.

In ihrer Heimat Mali kennt man die Künstlerin seit der Jahrtausendwende als Titelheldin aus Filmen wie «Sia, le rêve du python» von Dani Kouyaté oder später Abderrahmane Sissakos «Timbuktu», der unter anderem an den Césars und am Filmfestival in Cannes ausgezeichnet wurde und heute als einer der international angesehensten afrikanischen Filme gilt.

Die Musik helfe ihr zu heilen

Der Musik verfiel Diawara, nachdem sie mit 19 Jahren nach Paris floh, um einer arrangierten Ehe zu entkommen. Es folgte ein Bruch mit der Familie, nachdem sie sich intensiv ihrer Kunst widmete, sich ins Gitarrespielen und schliesslich in einen italienischen Mann verliebte. Ihr Instrument spielt sie inzwischen virtuos, voller Leidenschaft und intuitiv.

Ähnliches könnte man über ihre Musik sagen, in der traditionelle westafrikanische Wassoulou-Elemente in modernen Pop- und Folk-Klängen, immer wieder auch in Jazz, Funk und Blues aufgehen. Die Wogen ihres oft turbulenten Lebens haben sich geglättet – die Musik helfe ihr zu heilen, betont Fatoumata Diawara immer wieder. So auch an diesem kühlen Apriltag, als wir telefonieren, während im Mailänder Zuhause der Künstlerin im Hintergrund die Saiten klimpern.

annabelle: Fatoumata Diawara, Ihr neues Album «London Ko» beschäftigt sich mit der Rolle der Familie und den teils dramatischen Ungerechtigkeiten, die Sie als Frau erlebten. Kein leichter Stoff.
Fatoumata Diawara:
Es stimmt, auf «London Ko» hört man viele Geschichten, die von familiären Problemen handeln. Das ist aber normal, immerhin bin ich eine Mutter von zwei jungen Buben, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Ich versuche, eine Balance zu finden, darüber zu sprechen, wie ich selber aufgewachsen bin und wie ich meinen Jungs eine bessere Mutter sein will. «London Ko» ist das Album einer Mama und das Album einer Frau, die eine heftige Vorgeschichte hat und um ihre Existenz kämpft; für ihre Stimme, für ihre Freiheit und dafür, als starke Frau Teil der Gesellschaft zu sein. Das Album repräsentiert, wer ich heute bin, musikalisch, aber auch als Person.

Sie sagen es: Ihr Weg war sehr steinig. Mit 19 Jahren flohen Sie aus Ihrer Heimat Mali, weil Ihre Tante, bei der Sie damals lebten, Sie verheiraten wollte. Damals waren Sie dank Filmen wie «La Genèse» oder «Sia, le rêve du python» bereits über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Können Sie Revue passieren lassen, was passierte?
In Mali ist es Tradition, dass Töchter heiraten müssen. Als ich 19 war, wäre es für mich an der Zeit gewesen. Aber ich hatte bereits seit zehn Jahren eine Karriere und die wollte ich nicht aufgeben. Also floh ich.

Wie erging es Ihnen damals?
Das war alles sehr, sehr kompliziert. Ich tauchte unter …

Sie fanden aber Zuflucht in Paris?
Ja, ich versuchte, weiter zu singen, zu tanzen und mehr über die Film- und Theaterwelt zu lernen. Ich wollte, dass alles wieder gut wird. Ich wollte auch einfach weiter meine Arbeit machen können.

Heute gehören Sie zu den wenigen internationalen Künstlerinnen aus Mali. In den letzten zehn Jahren widmeten Sie sich verstärkt Ihrer Musik. Wie kam es zu diesem Fokus?
Musik zu machen, ist meine Art zu überleben. Über die Dinge zu singen, die Frauen und Kinder in Afrika und überall auf der Welt betreffen, hilft mir, zu heilen.

Können Sie das etwas genauer erklären?
Ich habe eine sehr humanistische Beziehung zur Musik. Ich will meine Emotionen und meine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen. Dabei geht es mir vor allem darum, den Schmerz von Menschen meines Hintergrunds zu lindern. Ich spreche von mir selber auch als Überlebende.

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«Wenn ich es nicht tue, wer tut es dann? Wer singt für uns?»

Eines der Themen, das Sie bereits auf Ihrem ersten Album «Fatou» aufgegriffen haben und jetzt wieder auf «London Ko», ist weibliche Genitalverstümmelung; eine brutale, menschenrechtsverletzende Praxis, die in Mali immer noch verbreitet ist. Geht es beim Überleben, das Sie ansprechen, konkret darum?
Ich singe von den Dingen, die mich betreffen. Aber ich singe auch konkret über diese Probleme, weil: Wenn ich es nicht tue, wer tut es dann? Wer singt für uns? Zu viele dieser Frauen können nicht überleben, weil sie Traditionen folgen und tun, was ihre Eltern für richtig halten. Oft ist es für sie extrem schwierig, sich zu befreien, für sich einzustehen und zu der Person zu werden, die sie sein möchten. Ich komme selber aus einer sehr konservativen Familie – und wissen Sie, ich schreibe alles selber, aber das hat mir keine Schule beigebracht. Es gab auch nicht wirklich ein Vorbild, dem ich hätte folgen können, um dahin zu kommen, wo ich heute bin. Also habe ich meine eigene Geschichte geschrieben, das tu ich bis heute. Diese Freiheit – ich glaube, man kann sie in meiner Musik spüren.

Da ich Sie schon live erlebte, kann ich zustimmen. Sie versprühten pure Lebensenergie, am Ende lag sich gefühlt der gesamte Saal in den Armen. Dabei versteht wohl selten jemand im Publikum ein Wort von dem, was Sie singen. Zumindest nicht im europäischen und nordamerikanischen Raum, wo die meisten Ihrer Tourneen stattfinden.
Ich werde oft gefragt, warum ich nicht auf Englisch oder Französisch singe, aber ich glaube einfach nicht, dass das nötig ist. Worauf es viel eher ankommt, ist die Emotion, die ich vermittle, dass ich eine Verbindung zu den Menschen im Publikum und in der Welt aufbaue. Das ist am Allerwichtigsten.

Eine Szene aus der Dokumentation «Mali Blues», die Ihnen und einer Gruppe lokaler Musiker:innen folgt, will mir nicht mehr aus dem Kopf. Darin sieht man, wie Sie das Dorf Ihrer Familie besuchen und den Frauen eines Ihrer Lieder über weibliche Genitalverstümmelung vorsingen. Die Älteren reagieren grossteils mit so etwas wie Dankbarkeit und Erleichterung, die Gesichter der jungen Mädchen sind voller Angst. Ist es Ihnen auch wichtig, dass Sie mit Texten in Ihrer Muttersprache Bambara direkt zu ihnen singen können?
Absolut, das ist ein extrem wichtiger Punkt für mich. Durch meinen Beruf kann ich ein wenig von der Welt sehen und das hilft mir zu verstehen, dass wir in Afrika noch sehr viel zu tun haben. Also will ich, dass möglichst viele Menschen in Mali meine Message verstehen können. Ich kann das alles aufschreiben, aber viele Frauen dort können nicht lesen, weil sie nicht zur Schule gingen. Also singe ich für sie in ihrer Sprache, dadurch kann ich sie direkt berühren. Oder ich erzähle ihnen, wovon ich singe. Es ist mir wirklich sehr wichtig, dass ich weitreichende Verbindungen schaffen kann. Zudem fühlen sich meine Emotionen in meiner Sprache einfach wahrer an.

Im Sinne, dass die Muttersprache für die meisten Menschen immer das intuitivste Ausdrucksmittel bleibt?
Ich spüre dabei etwas, eine Vibration, die sehr aufrichtig ist. Und Aufrichtigkeit ist etwas sehr Wichtiges in der Musik. Es geht nicht nur um die technischen Dinge, es geht um eine Energie, die ausgedrückt werden muss.

Im Film begrüsst eine der Frauen Sie mit den Worten «Griot Daughter» – Griots werden als eine Art Vermittler in der Gesellschaft beschrieben. Können Sie sich damit identifizieren?
Die Griots sind in Mali enorm wichtig. Sie helfen der Gesellschaft, mit ihrer Ahnengeschichte in Verbindung zu treten, denn in Mali haben wir keine Geschichtsschreibung, wir haben keine Bücher, die uns daran erinnern, wo wir herkommen und was die Geschichte unseres Landes ist. Es sind die Griots, die alles zusammenhalten. Wenn du ihnen deinen Namen sagst, werden sie dir erklären, wer du bist, auf Jahrhunderte zurück. Aber was mich angeht: Nein, ich bin keine Griot. Als Griot wird man geboren, das Blut der Eltern, des Vaters oder der Mutter, macht dich dazu. Ich bin einfach eine Sängerin. Die Tradition der Griots, das ist eine sehr spirituelle Sache.

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«Musik ist wirklich sehr, sehr wichtig für die Menschen in Mali. Und sie funktioniert»

Man hört oft, dass Musik in Afrika generell einen höheren Stellenwert hat als etwa in Europa. Wie würden Sie das Verhältnis der Menschen in Mali zur Musik beschreiben?
Wir wachsen alle mit Musik auf und haben ein grosses Bewusstsein und Verständnis dafür. Musik ist wirklich sehr, sehr wichtig für die Menschen in Mali. Und sie funktioniert.

Wie meinen Sie das?
Wir nutzen Musik auch, um Spannungen abzubauen. Das Lied «Mali-ko» ist in Mali inzwischen eine Hymne für den Frieden.

Der Song, den Sie 2013 mit einer Gruppe Musiker:innen aus Mali – darunter Amadou & Mariam, Oumou Sangaré oder Vieux Farka Touré – gegen den Einmarsch radikalislamistischer Rebellen aufgenommen hatten?
Genau.

Was passierte seither mit dem Lied – und in Mali überhaupt?
Als ich damals nach Bamako kam, um den Song zu schreiben, litt Mali enorm. Die junge Generation war total durch den Wind – wir erlebten einen Genozid. In Bamako begannen die Menschen aus dem Norden, mit den Menschen aus dem Süden zu kämpfen. Die Situation erinnerte mich daran, was einige Jahre zuvor in Ruanda geschehen war, und da sagte ich mir: Nein, nein, nein – diese Manipulation darf nicht andauern. Wir müssen die Menschen wachrütteln und ihnen bewusst machen, dass jetzt nicht der Moment ist, abzuwarten und nichts zu tun.

Einfacher gesagt als getan …
Ja. Es ist auch einfach, sich gegenseitig umzubringen, aber niemand weiss, wie man einen Krieg beendet. Im Lied sprachen alle beteiligten Künstler:innen aus ihren Herzen. Niemand nahm Geld für seine Arbeit, wir alle waren einfach nur glücklich, Teil dieser Sache zu sein. Und tatsächlich spielen die Leute bis heute dieses Lied, um Konflikte zwischen den Communitys zu beheben.

«Mali-ko» stand damals für die Verbundenheit der Communitys in Mali. Ihr neues Album «London Ko» steht nun für eine Verbindung zwischen Afrika und London, dem Westen im weiteren Sinne, und konkret für Ihre langjährige Freundschaft mit Damon Albarn, der auf dem Album als Gastsänger und Produzent zu hören ist. Was schätzen Sie aneinander und an Kollaborationen generell? Albarn ist ja bei Weitem nicht Ihr einziger langjähriger musikalischer Partner.
Das Teilen. Musik ist in erster Linie Energie, weil man die Person, mit der man arbeitet, spüren muss – sonst funktioniert es nicht. Du kannst niemandem, mit dem du gemeinsam etwas schaffen willst, etwas aufdrücken, das fake ist – du musst echt sein. Und in diese Realness haben wir uns verliebt. Deswegen halten wir immer Ausschau nacheinander: weil wir wissen, dass wir teilen wollen, wenn wir uns sehen.

Sehen Sie sich denn häufig?
Wir sind sehr beschäftigt, aber wir organisieren uns. Wenn Damon Gelegenheit hat, lädt er mich ein. Dasselbe mit Matthieu Chedid, Roberto Fonseca – all diese Beziehungen sind extrem wichtig für mich. Allein, wenn ich an meine Karriere denke, meine Kollaborationen waren wie eine grosse Schule für mich. Ich lernte, wie ich meine traditionelle Musik moderner Musik anpassen kann. Den Jazz lernte ich von Roberto und Dee Dee Bridgewater, den Pop von Damon und den Gorillaz, von Matthieu bekam ich den French Pop mit. Es sind all diese kleinen, wichtigen Momente, die mich zur Person geformt haben, die ich heute bin.

Aktuelles Album: «London Ko». Live: 17. 11., Festival Les Créatives, Genf

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