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Schriftstellerin Zadie Smith: «Literatur ist im Vergleich zu den Büchern, die sich wirklich verkaufen, ein Witz»

Literatur & Musik

Schriftstellerin Zadie Smith: «Literatur ist im Vergleich zu den Büchern, die sich wirklich verkaufen, ein Witz»

Ihr neues Buch «Betrug» spielt mit der Frage nach Wahrhaftigkeit. Wir wollten herausfinden, wer Zadie Smith ist. Protokoll von erfrischend trockenen dreissig Minuten.

Zadie Smiths neuer Roman beginnt mit einem Loch im Boden: Im Haus des britischen Schriftstellers William Ainsworth ist das Obergeschoss durchgebrochen, weil er zu viele Bücher besitzt.

Zadie Smith sagt, das könne schon mal passieren. Das sei auch passiert. Alles in ihrem im 19. Jahrhundert spielenden, aber die Gegenwart spiegelnden Roman sei wahr. Sie erzählt einen Gerichtsfall nach: Ein rätselhafter Mann taucht auf, angeblich ein verschollener Adliger, und erhebt Anspruch auf das Familienerbe. Er entpuppt sich als Hochstapler, geniesst aber breite Unterstützung in der Arbeiterklasse.

Ich schaue Smith an. Sage ihr, dass ich den Einstieg in ihren Roman, der zur Hälfte unter Schriftstellern spielt, weniger als Fakt denn als eine Metapher gelesen habe. Als Metapher für den Beginn eines jeden Schreibprozesses, den Moment, in dem man sich selbst davon überzeugen muss, dass es dieses Buch, diesen einen Text wirklich noch braucht.

«Alle haben die Einstiegsszene als Metapher gelesen», sagt die 48-Jährige achselzuckend. Aber sie sei eben wahr.

Sammelt sie selbst auch Bücher?

Nein.

Um die Decken und Böden des Londoner Hauses, das sie von ihrem ersten Vorschuss kaufte, muss man sich also keine Sorgen machen. Auch Erstausgaben besitze sie keine. Sie lese einfach nur gern.

Kein Smartphone

Meine Fragen beantwortet Smith auf eine so korrekte wie knappe Art, die das Fragen an sich seltsam blossstellt. Keine These wird zur Schanze. Wir fliegen nicht gemeinsam. Wir nehmen Hürden. Vielleicht ist der Grund dafür banal:

Zadie Smith hat Hunger.

Wir sitzen im Foyer eines Hotels in Köln. Es ist November, draussen ist es grau und stürmisch. Smith legt ihre Sonnenbrille auf einen kleinen Tisch. Sie wollte gerade etwas zu essen bestellen, ist aber gescheitert. Sie hätte dafür einen QR-Code scannen müssen, aber – sie winkt ab, will darüber nicht reden, legt ihr Handy, ein kleines Gerät mit Tasten, kein Smartphone, neben ihre Sonnenbrille.

Der Illusion entfliehen

Zadie Smith ist eine der bekanntesten zeitgenössischen Schriftstellerinnen. Noch als Cambridge-Studentin schrieb sie «Zähne zeigen». Der 2000 veröffentlichte Roman wurde ein internationaler Bestseller, verfilmt und erhielt etliche Preise. Es folgten Essays, Kurzgeschichten und die Romane «NW», «Von der Schönheit» und «Swing Time».

Die Tochter eines Briten und einer Jamaikanerin galt als «multikulturelles Wunderkind». Ein Titel, dem sie entfliehen wollte, indem sie nach New York zog, schreibt sie 2023 in ihrem Essay «On Killing Charles Dickens». Hatte sie jemals das Gefühl, die in der Öffentlichkeit beschriebene Person sei sie selbst?

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«Nur der Journalismus interessiert sich für Schreibende. Für 99 Prozent der Menschen sind Schreibende niemand»

Zadie Smith

Smith kneift die Augen zusammen. Ob es denn Menschen gäbe, die das wollten? Dass ein von fremden Menschen geführter Diskurs dem entspreche, wie man sich selbst definiere, welches Bild man von sich selbst habe, also das scheine ihr doch Wahnsinn zu sein. «Ich habe kein Interesse daran, wahrheitsgemäss porträtiert zu werden. Das Einzige, was für mich zählt, sind die Menschen, die ich kenne. Und», fügt sie hinzu, «natürlich liebe ich es, Leser:innen zu treffen. Aber die haben eine Beziehung zu meinen Büchern, nicht zu mir.»

Sie sieht mich an.

Prüfend.

«Sage ich etwas Verrücktes?», fragt sie und beugt sich vor. Sie sei eben ein Mensch, der zehn Jahre in einem Zimmer sitze und schreibe, dann für ein paar Wochen herauskomme. Sie sei weder Schauspielerin noch Musikerin. Ihr Leben in der Öffentlichkeit sei winzig.

Schreibende unter dem Radar

«Die meisten Menschen lesen doch gar keine Bücher. Und selbst wenn. Literatur ist im Vergleich zu den Büchern, die sich wirklich verkaufen, ein Witz. Es ist nicht so, als wäre ich auf der Strasse draussen in Gefahr. Nur der Journalismus interessiert sich für Schreibende. Für 99 Prozent der Menschen sind Schreibende niemand.»

Niemand. 2016 gab Zadie Smith dem Magazin «The Gentlewoman» ein Interview, in dem sie sagte, sie sei sowohl in einem Roman von Jonathan Safran Foer als auch in einem von Daniel Kehlmann an der gleichen Zeile hängengeblieben:

«Ich bin niemand.»

Das, sagte sie damals, sei der Zustand des Romanschreibens überhaupt. Man schlüpfe in verschiedene Identitäten. Andere bewunderten Schreibende für diese Flexibilität, aber glückliche Menschen würden das gar nicht machen wollen. Machen müssen.

Elterlicher Einfluss

Schreiben, sagte Smith damals, sei ein Geisteszustand, der durch eine bestimmte Art von Eltern entstehe.

Welche Art von Eltern? Smith atmet hörbar aus.

«Narzisstische Eltern», antwortet sie. Schauspieler:innen und Schriftsteller: innen erginge es da ähnlich. Der englische Kinderpsychiater Donald Winnicott habe darüber geschrieben, da könne ich es nachlesen, wenn es mich interessiere: Kinder inkonsistenter Mütter lernten schnell, welches falsche Selbst sie ihren Müttern geben müssten, um gesehen zu werden.

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«Gute Partys bestehen aus einer Mischung von Schriftsteller:innen, Comedians und Schauspieler:innen, weil die gegenseitig aneinander interessiert sind»

Zadie Smith

Smith wuchs in Willesden auf, einem Arbeiterbezirk im Nordwesten Londons. Ihre Mutter war Sozialarbeiterin, dann Kindertherapeutin, ihr Vater Verkäufer. Später lebte sie mit ihrem Mann, dem nordirischen Dichter Nick Laird in Rom und New York, unterrichtete Kreatives Schreiben an der N. Y. U., feierte Partys in London und New York, zu denen Gäste wie Ian McEwan, Daniel Kehlmann, Martin Amis, Philip Roth und Lena Dunham kamen.

Wodka Martini und interessante Gäste

«In New York», sagt Smith, «bestehen gute Partys aus einer Mischung von Schriftsteller:innen, Comedians und Schauspieler:innen, weil die gegenseitig aneinander interessiert sind.» Musiker:innen brauche man nicht einzuladen, sagt Smith. «Die sind zwar nett, aber es ist nicht besonders interessant, sich mit ihnen zu unterhalten.» Man brauche auch keinen ungewöhnlichen Ort für eine solche Party, man solle die Menschen einfach zu sich nach Hause einladen.

Einladen, zu was?

Sie selbst trinke immer Wodka Martini. Für ihre Gäste kaufe sie Wein.

Und zu essen?

Immer etwas Einfaches, was man nicht kochen müsse. In New York bestelle man Take-out. Einen Balkon zum Rauchen brauche man noch. Das sei alles.

Und ich sehe sie da sitzen:

Die hypothetische Niemands-Runde aus Kehlmann, Amis, Roth und Dunham bei Wein über dampfenden Nudeln vom Chinesen. In ihrem neuen Roman «Betrug» kommen die Schriftsteller nicht gut weg. Lesend amüsiert man sich über deren Selbstgefälligkeit.

Nicht romantisiert

Bringe ihre Herkunft es denn mit sich, dass sie Menschen, die sich herausnehmen, nur Kunst zu machen, immer auch ein Stück weit verachte?

Nein. Ihr Vater hätte zwar bestimmt gesagt, Schreiben sei kein Job wie im Kohlenbergwerk zu schuften, aber – sie winkt ab. Sie verachte Schriftsteller und Schriftstellerinnen nicht, sie habe aber auch keine romantisierte Sichtweise auf sie. Keine romantisierte Sichtweise auf sich selbst.

Während der Pandemie zog Smith zurück nach London, dorthin, wo sie aufgewachsen ist und wo viele ihrer Romane spielen, auch «Betrug»: der Nordwesten Londons. Um in Stimmung zu kommen, habe sie manchmal «Industry Baby» von Lil Nas X gehört. Sie schrieb im Park, während ihre Kinder spielten, schrieb zuhause, während sie in der Schule waren. Solange sie Noise-Cancelling-Kopfhörer trage, könne sie überall schreiben.

Jahrelange Recherche

Gleiches muss auch für Daniel Kehlmann gelten, über den sie im Essay «On Killing Charles Dickens» schrieb, er habe auf dem Spielplatz der N. Y. U. für seinen historischen Roman «Tyll» recherchiert. Fünf Jahre lang. Tags. Nachts. «Immer, wenn ich ihn fragte, wie es lief, sagte er, es sei anstrengend und das Schwierigste, was er je in seinem Leben getan habe», schreibt Smith. «Als würde man doktorieren und gleichzeitig einen Roman schreiben.»

War es eine grosse Hürde, sich erstmals einen historischen Stoff vorzunehmen?

Sie winkt ab. Das Essay sei scherzhaft gemeint gewesen.

Fühlt sich das Schreiben eines historischen Romans, also das Füllen eines Lebensraums, den man selbst nicht beobachten konnte, anders an? Hinterfragt man sich mehr, fühlt es sich mitunter an wie Betrug?

Nein, sagt Smith. Immerhin habe sie zwölf Jahre lang recherchiert, habe also von einem sehr festen Grund aus geschrieben. Wenn sich überhaupt etwas anders anfühle, dann die Dringlichkeit. Sie habe eine wahre Geschichte aus der Vergangenheit rekonstruiert, weil die ihr etwas über die Gegenwart sage.

Smiths Romane erzählen, wie Gesellschaft funktioniert, decken Zusammenhänge auf, lassen Gewissheiten wie in «Betrug» durch sicher geglaubte Decken krachen. Im ersten Teil des Romans bewegen wir uns in gutsituierten, bürgerlichen Kreisen, im zweiten Teil erfahren wir, worauf der Wohlstand fusst: auf Sklavenhandel.

Klare Sprache

Smiths Sprache ist nicht die eines klassischen viktorianischen Romans. Da sind keine Schal-langen Sätze, die sich um die Leser:innen wickeln. Im Gegenteil, kurze Kapitel erzählen eine vor- und zurückspringende Geschichte in sehr gegenwärtigen Fragmenten. «Die Sprache von ‹Betrug› ist die gleiche, die ich jetzt auch im Gespräch verwende. Die gleiche, die ich in meinen anderen Romanen verwendet habe», sagt sie. Metaphern, figurative Sprache, auf all das verzichte sie, um die Ereignisse so klar wie möglich zu schildern.

Faktisch.

Gegenwärtig gibt es eine grosse Nachfrage nach dem Faktischen, ausgerechnet in der Kunst. Vielleicht als Gegenbewegung zu Social Media. Dem Ort, wo wir einander anschreien. Für Romane wird ein Sensibilitäts-Lektorat angeboten, damit sich von den Texten niemand angeschrien fühlen muss. Während wir online durch ausgedachte Fakten waten, soll in der Kunst alles faktisch richtig sein.

«Wir wissen doch, dass es verschiedene Arten von Wahrhaftigkeit geben kann»

Zadie Smith

Ich schildere Smith die Diskussion, die sich in Deutschland um Charlotte Gneuss’ Debüt «Gittersee» entspann: Der Roman war 2023 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dann wurde der Jury eine Liste zugespielt mit kleineren historischen Inkorrektheiten. Daraufhin diskutierte das Feuilleton, ob man in der DDR 1976 in der Elbe habe schwimmen können. Ob wirklich alle «Plastebeutel» und nie «Plastiktüte» gesagt hätten. Inwiefern haben solche Inkorrektheiten Einfluss auf die Qualität eines Romans?

Im Auge der Lesenden

Smith lacht auf. Was das denn für eine Diskussion sei? Wenn einem etwas falsch vorkomme, dann wende man sich von einem Buch ab. So einfach. Das sei es doch, was jeder Leser und jede Leserin seit dem Anbeginn der Literatur gemacht habe. Da könne man doch keine verallgemeinernden Richtlinien aufstellen. Ein Buch finde im Auge eines jeden Lesenden immer wieder seine eigene Qualität. Darüber hinaus: «Sind wir Vierjährige?», fragt Smith. «Wir wissen doch, dass es verschiedene Arten von Wahrhaftigkeit geben kann. Wir wissen, dass auch Aschenputtel einen wahrhaftigen Kern hat, genauso wie ein Geschichtsbuch über China wahrhaftig sein kann. Es gibt unterschiedliche Formen von Wahrheit: dem Text innewohnende Wahrheit, innerliche Wahrheit sowie faktische und äusserliche Wahrheit.»

Mit einem Wisch ist die Debatte vom Tisch. Vielleicht liegt Smiths Befremden auch daran, dass sie kein Smartphone besitzt, nicht jeden Tag in Debatten wie dieser schwimmt.

Sie ist «nüchtern auf der Party zum Ende der Welt», wie sie sagt.

2008 habe sie einmal ein Smartphone gehabt. Damit habe sie dann aber so viel Zeit verbracht, dass sie seitdem keines mehr habe. «Ich möchte so nicht leben», sagt sie. «Ich möchte meine Zeit so nicht verschwenden.»

Und ich sage danke.

Halte das Band an.

Lasse sie gehen.

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Barakash

“Nur der Journalismus interessiert sich für Schreibende. Für 99 Prozent der Menschen sind Schreibende niemand.»”

Scheint so als würde es sie doch ein wenig kratzen, dass der Erfolg ihrer anderen Bücher eher ausbleibt, im vergleich zu “White Teeth”. Trotz allem schreibt sie ja sicherlich gut, ich hoffe sie findet zu ihrem Glück

Frank Joussen

Ich finde dieses Interview großartig, weil man in ihm mehr über den Menschen Zadie Smith erfährt als über das Buch. Man erfährt genug über das Buch, um es zu kaufen. Das habe ich im übrigen schon getan. Aber als Leser dieses Interviews hatte ich ein Gefühl, das ich bei persönlichen Begegnungen mit vielen Autor:innen hatte: Hier sagt mir ein interessanter Mensch die subjektive Wahrheit zu den angesprochenen Themen. Das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit – ja, gibt es die denn überhaupt? -, aber hier steckt genug Wahrheit drin, um mich schon auf die nächsten Interviews von Mariam Schaghaghi und mit Zadie Smith zu freueen. Dankeschön!