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Autorin Virginie Despentes: «Meine Wut war oft so stark, dass sie vieles zerstört hat»

Literatur & Musik

Autorin Virginie Despentes: «Meine Wut war oft so stark, dass sie vieles zerstört hat»

Die französische Autorin Virginie Despentes über Machtmissbrauch, Drogen, Hass im Netz – und ihr zartes Buch.

Punk, Prostituierte, Feministin, Klassenkämpferin, Reinigungskraft, Intellektuelle, Skandalautorin oder der weibliche Balzac unserer Zeit: Virginie Despentes (54) hatte in ihrem Leben viele Rollen inne und passt darum in keine Schublade.

Wobei, auf eines können sich seit der Veröffentlichung ihrer Romantrilogie «Das Leben des Vernon Subutex» (2015–2017) alle einigen: Virginie Despentes ist ein Superstar der französischen Literatur. Oder besser: ein Rockstar. Despentes nimmt kein Blatt vor den Mund, ist furchtlos und wütend, so viel war lange sicher. Bis letzten Herbst der Briefroman «Liebes Arschloch» erschien.

Das Arschloch heisst Oscar, ist Schriftsteller und wird von einer jungen Verlagsangestellten öffentlich der sexuellen Gewalt bezichtigt. Im Briefwechsel mit einer alternden Filmdiva wird sich Oscar allmählich seiner Taten bewusst und der Rolle, die die Drogen in seinem Leben spielen. Nun kommt «Liebes Arschloch» auf die Bühne, inszeniert von Yana Ross. Wir sprachen mit Virginie Despentes vor der Uraufführung im Schauspielhaus Zürich.

annabelle: Virginie Despentes, als «Liebes Arschloch» vor einem Jahr in Frankreich erschien, waren viele überrascht. Der Titel klingt angriffslustig, so wie man es von Ihnen erwartet. Aber das Buch schlägt einen versöhnlichen Ton an. Sie zeigen viel Empathie für einen Mann, der eine Frau sexuell belästigt. Warum so milde?
Virginie Despentes: Weil ich mich selbst nicht immer unschuldig fühle. Besonders als Schriftstellerin verorte ich mich zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit. Ich kenne viele Männer und geniesse ihre Gesellschaft. Ich weiss, wie sie denken. Wenn ich ihnen einen Rat geben könnte, dann den, dass sie über ihre eigene Schuld und Verantwortung nachdenken sollten. Weil ein Eingeständnis der Anfang eines interessanten Gesprächs sein könnte. Nur wenn wir unsere Fehler zugeben, können wir Probleme lösen.

Was meinen Sie damit, dass Sie sich als Schriftstellerin zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit situieren?
Ich schreibe, nutze die Sprache, baue Welten, veröffentliche Bücher, die andere lesen. Das ist eine Position der Macht, traditionell also eine männliche Position. Ich bin als Schriftstellerin erfolgreich und das lange genug, um mir über meine eigene Macht und meinen Umgang mit ihr klar zu werden. Wenn man nicht über seine Privilegien nachdenkt, ist es schnell passiert, dass man diese Macht missbraucht. Ich bin cholerisch und oft nicht einfach für die Menschen in meinem Umfeld.

Was brauchte es, damit Sie zur Einsicht kamen, dass auch Sie Ihre Macht missbrauchen?
Ich musste lernen zuzuhören. Ich wünsche mir von den Mächtigen, dass sie zuhören und dass sie verstehen, warum die Leute wütend sind. Dass sie sagen: «Ich kann nicht ungeschehen machen, was ich getan habe, aber ich höre zu. Ich höre, ich höre, ich höre.» Es ist interessant, zuzuhören.

Als erfolgreiche Schriftstellerin hört man Ihnen zu, wenn Sie sprechen …
Leider nicht genug. (lacht)

Ist es Zufall, dass auch Oscar Schriftsteller ist?
Ich fühle mich mit Oscar verbunden. Er stammt aus demselben Vorort von Nancy wie ich. Das ist kein Ort, der Schriftsteller:innen hervorbringt. Wir wurden nicht dazu erzogen, einmal eine Machtposition einzunehmen. Wenn man in diesem Arbeitermilieu aufgewachsen ist, fühlt man sich selbst dann nicht gehört und respektiert, wenn man einen gewissen Einfluss hat. Es brauchte viel Zeit, bis ich verstand, dass ich diese Macht besitze. Und dass ich für mein Handeln Verantwortung übernehmen muss. Es geht also um Klasse. Ich fühle mich einer reichen Frau nicht unbedingt nah, selbst wenn sie Feministin ist. Mich verbindet mehr mit einem Mann, der aus demselben Milieu stammt wie ich und ähnliche Kindheitserinnerungen hat.

Klasse beeinflusst uns also stärker als das Geschlecht?
Klasse und Geschlecht sind gleich wichtig. Es gibt nicht nur einen Feminismus. Und es gibt verschiedene Arten von männlichen Privilegien. Ein reicher Mann hat andere Privilegien als ein Mann aus der Arbeiterklasse. Schwarze Maskulinität in Frankreich ist eine andere Maskulinität als weisse, mit anderen Privilegien und Verletzlichkeiten. Es gibt also nicht nur ein Patriarchat, sondern mehrere.

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«Ich würde wohl unter einem männlichen Namen veröffentlichen, wenn ich heute 23 wäre»

Oscar zeigt sich einsichtig und übernimmt Verantwortung für sein Handeln. Aber Hand aufs Herz, gibt es diese Oscars wirklich? Wie viele von ihnen haben Sie nach Veröffentlichung des Buchs kontaktiert?
Keine. Französische Männer trauen mir nicht, weil ich eine böse Feministin bin. Vielleicht ändert sich gerade etwas bei einer jüngeren Generation von Männern, die darauf vorbereitet sind, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden können. Ich hoffe, dass sie einen anderen Umgang mit ihrer Männlichkeit haben als die Männer in meinem Alter. Aber noch sehe ich wenige Oscars. Männer, die sexueller Übergriffe beschuldigt werden, bestreiten die Vorwürfe und warten, bis der Sturm vorübergezogen ist. Selbst dann, wenn alle Welt weiss, dass sie schuldig sind.

«Liebes Arschloch» ist ein Briefroman. Was altmodisch anmutet, kann als Kritik an den neuen Medien gelesen werden: Zwischen Oscar und der Schauspielerin Rebecca Latté kann eine Freundschaft entstehen, weil sie E-Mails austauschen, anstatt sich in den sozialen Medien einen Schlagabtausch zu liefern. Misstrauen Sie Social Media?
Ich schätze Social Media. Ich verfolge aufmerksam, was die Leute dort erzählen. Social Media hat alles verändert und ich sehe den Wert davon. Aber ich bin auch schockiert über die Gewalt, der man im Netz ausgesetzt ist. Es ist für Frauen sehr gefährlich geworden, sich in den sozialen Medien zu äussern. Wir können nicht so tun, als ob es normal wäre, nur weil die Menschen keinen körperlichen Schaden nehmen. Wir müssen etwas gegen den Hass im Netz unternehmen!

Was schlagen Sie vor?
Es braucht Stellen, an die Betroffene gelangen können. Orte, an denen sie ihre Erfahrungen austauschen können und wo ihnen geholfen wird. Es gibt noch viel zu wenige solche Angebote.

Als Sie 1994 Ihren Debütroman «Fick mich» veröffentlichten, war das Internet noch Neuland. Auch sechs Jahre später gab es noch keine sozialen Medien, als Sie mit der Verfilmung dieser Geschichte zweier Prostituierter, die männermordend durchs Land ziehen, einen Skandal auslösten und der Zensur zum Opfer fielen. Wäre Ihre Karriere anders verlaufen, wenn es damals schon Tiktok oder Instagram gegeben hätte?
Definitiv. Ich empfand es schon ohne neue Medien als gewaltsam, plötzlich in der Öffentlichkeit zu stehen. Aber verglichen damit, was die jungen Frauen heute erleiden müssen, war das gar nichts. Ich hätte nach meinem ersten Buch aufgehört, spätestens nach dem Film. Ich hätte das nicht ertragen.

Oder Sie hätten Ihre Radikalität eingebüsst und sich angepasst.
Es ist doch egal, wie provokativ die eigene Position ist. Als Frau wirst du auf Social Media beleidigt, was immer du auch tust oder sagst. Frauen wie Lana Del Rey oder Billie Eilish schlägt so viel Hass entgegen, dabei sind das nun wirklich keine aggressiven Persönlichkeiten. Sogar die jungen Frauen in Make-up-Tutorials werden angefeindet, wenn sie erfolgreich sind. Wer sich diesem Hass nicht aussetzen will, der kann eigentlich nur verschwinden. Ich würde wahrscheinlich unter einem männlichen Namen veröffentlichen, wenn ich heute 23 Jahre alt wäre.

Stimmt es, dass Sie dafür gesorgt haben, dass Ihre Bücher nur Ihren Nachnamen auf dem Cover tragen?
Ja, und ich bin überzeugt davon, dass dies entscheidend war für den Erfolg von «Das Leben des Vernon Subutex». Es ist nicht so, dass die Leser:innen etwas gegen Frauen hätten. Aber sie misstrauen der Arbeit von Frauen unbewusst. Abgesehen davon, finde ich, dass es rein grafisch schöner aussieht. Irgendwie wahrer.

Bei aller Kritik; Social Media stiftet doch auch Gemeinschaft. MeToo ist eine Bewegung, die auf einen Hashtag zurückgeht. Sie und eine Freundin sind im Alter von 17 Jahren beim Trampen brutal vergewaltigt worden. Wären Sie anders damit umgegangen, hätte es zu dieser Zeit Social Media gegeben?
Definitiv, wir hatten damals einfach keine Wahl. Heute würden wir darüber reden, würden gehört werden. Wir wüssten, dass wir nicht die einzigen sind, denen so etwas widerfahren ist. Und dass es nicht unsere Schuld ist. Wir würden uns wehren. Der Feminismus hat viel verändert in den letzten Jahren. Wir Feministinnen haben die Welt verändert.

Der Feminismus ist aber auch ein Minenfeld geworden. Schlagwörter wie Cancel Culture oder Wokeness sind Ausdruck von tiefen Gräben, die nicht selten zwischen den Generationen verlaufen.
Es gibt viele Konflikte im Feminismus. Und es ist gut, dass es sie gibt. Schliesslich betrifft er die Hälfte der Menschheit. Wir haben nicht alle dieselben Erfahrungen gemacht, wir teilen nicht immer dieselben Ansichten. Auseinandersetzungen führen zu neuen Ideen. Ich bin selbst auch nicht mit jeder Ausprägung des Feminismus einverstanden. Ich lehne etwa die Nähe zu Behörden und der Polizei ab. Gerade die Polizei in Frankreich ist nach rechts gerückt und derart brutal geworden. Darüber sollten wir diskutieren. Und ich interessiere mich für die Kritik am weissen Feminismus. Wir müssen Wege finden, um Konflikte auszutragen, ohne dass die Gespräche abbrechen. So war meine Generation. Wir haben Kämpfe gekämpft, das war Teil davon, eine Feministin zu sein.

Ist uns die Fähigkeit zur Debatte abhanden gekommen?
Ja, ich denke, wir haben die Lust am Konflikt verloren. Die Lust an Auseinandersetzungen, die vielleicht sogar die eigenen Ansichten ins Wanken bringen können. Ich finde es wichtig, dass man nach einem guten Gespräch seinen Standpunkt überdenken kann, weil man merkt, «Fuck, die oder der hat ja recht». Ich denke, dass es einfacher war, diese Gespräche im echten Leben zu führen, nicht im Internet. Wir waren uns früher in den feministischen Kreisen in vielen Dingen nicht einig, aber die Tatsache, dass wir alle physisch im selben Raum waren, ermöglichte es, dass die Konversation immer weiterging. Du hast damals nie gedroht, jemanden umzubringen, so wie das heute im Netz oft passiert.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zur Wut verändert?
«Liebes Arschloch» habe ich gleich nach der Pandemie geschrieben. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich ein Buch schreiben, das sich gut anfühlt. Ein Buch, das nicht wütend ist. Denn ich habe die Menschen in meinem Umfeld nie als so verletzlich empfunden wie in jener Zeit. Ich wollte ihnen etwas Süsses und Zartes geben, was sonst so gar nicht nach mir klingt. Und dann gibt es auch eine persönliche Ebene.

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«Ich habe etwas Aggressives in meinem Schreiben»

Welche?
Meine Wut war oft so stark, dass sie vieles zerstört hat. Insbesondere die Menschen, die mit mir lebten und arbeiteten. Aber das heisst nicht, dass ich ab jetzt nur noch zarte Bücher schreiben werde. Womöglich bin ich bald wieder so wütend wie früher, denn das war mein Sound. Ich habe etwas Aggressives in meinem Schreiben.

Ihr Buch ist in allen Lagern gut angekommen. Es scheint fast so, als ob jede Position etwas darin finden konnte, das sie bestärkt. Eine angenehme Erfahrung, für einmal nicht anzuecken, oder?
Nein, es ist viel schwieriger mit Komplimenten umzugehen als mit Feindseligkeit. Man schreibt keine guten Bücher, wenn man geliebt werden will. Ich habe nicht den Anspruch, alle zufriedenzustellen. Mir ist bewusst, dass ich nicht Coca Cola oder sonst etwas im Angebot habe, das von der gesamten Menschheit gekauft werden muss. Ich kandidiere auch nicht für das Amt der Präsidentin. Ich schreibe immer das Buch, das ich lesen will. Und dieses Buch war weniger für die Feminist: innen geschrieben, als für Menschen wie mich, die ein Suchtproblem haben.

Welche Erkenntnis ziehen Sie aus Ihrer Drogensucht?
Ich habe irgendwann verstanden, dass es das ist, was wir alle die ganze Zeit machen. Wir tun Dinge, die uns Erleichterung verschaffen. Wir suchen nach Trost, indem wir uns zerstören. Das ist es auch, was wir mit unseren Bildschirmen tun. Und genauso funktioniert der Kapitalismus im Alltag. Du tust bei der Arbeit Dinge, die du nicht tun willst – im Wissen darum, dass sie dir nicht guttun.

Aber sind Drogen nicht unproduktiv?
Nein, Drogen waren schon immer kompatibel mit der Ökonomie. Die Wirtschaft baut auf Drogengeschäften auf. Ausserdem sind Drogen in Kriegen von zentraler Bedeutung. Es braucht aber nicht nur Drogen, um zu töten, sondern auch, um die harte Arbeit zu überstehen. Frankreich ist beim Konsum von angstlösenden Medikamenten ganz vorne mit dabei. Drogen sind wie Pornografie. Wir sprechen nicht darüber, aber sie sind im Kern unserer Gesellschaft.

Gegen die Sucht, so lässt es sich aus Ihrem Buch schliessen, helfen nur andere Süchtige.
Ich mag die Idee von Gemeinschaften von Menschen, die unterschiedlich sind. Freundschaften geben dir den Raum, um ehrlich mit dir selbst zu sein. So war es auch mit der #MeToo-Bewegung: Wenn dir jemand zuhört, kannst du reden und etwas über dich selbst herausfinden.

Kann man wirklich Gemeinschaften mit Aussenseiter:innen bilden?
Ja, genau das mag ich an den Gemeinschaften von Drogenabhängigen. Ich denke, es ist wichtig, mit den kaputten und den schwierigen Menschen eine Gemeinschaft einzugehen.

Es sind gemeinsame Erfahrungen, die Freundschaften wahrscheinlich machen. Wie steht es um die Chancen, Gemeinschaften zu bilden, in einer Gesellschaft wie der französischen, die von Migration und sozialer Segregation geprägt ist?
Ich bin da sehr optimistisch. Wenn ich in Paris bin, dann lebe ich im Osten der Stadt, in einem durchmischten Quartier. Wir leben dort schon seit Jahrzehnten zusammen. Es funktioniert. Ich habe genug von all den Dystopien. Lasst uns etwas künstlichen Optimismus verbreiten, um zu sehen, was daraus entstehen kann. Denn es ist wichtig, auch ein wenig Hoffnung in die Welt zu setzen. Wir sind ja noch nicht tot. Also lasst mal der Vorstellung Raum, dass wir nicht morgen sterben!

annabelle x Schauspielhaus Zürich

«Liebes Arschloch» feiert in der Inszenierung von Yana Ross am 25. 11. im Pfauen Premiere. Am 8. 12. laden annabelle und das Schauspielhaus zu einer nuit spéciale – mit Apéro, Einführung, Theater, Meet the Artists und Afterparty in der Kunsthaus Bar. Infos und vergünstigte Tickets findet ihr hier.

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Henry Edwards

Sehr interessant. Mein Franzözisch ist nicht gut, doch finde ich die Übersetzungen der Buchtitel ins Deutsche weder provokativ noch gefällig; eher vulgär und einfaltslos.
In meiner Muttersprache (englisch) versucht man gerade, diese ‘Vulgarität’ zu entkommen. Es ist nicht mehr zeitgemäß, jedoch schwer zu entgegnen. Gleiches gilt fuer das Schubladendenken, das Despentes anspricht. Auch sie spricht von Dystopie und Optimismus, als würde man ‘nur’ in einem ‘Gefühl’ passen. Leider ist die moderne Sprache voll mit Antonymen, irgendwo findet man Unterschlupf, und dann bleibt man erstmal dort…
Danke schön fuer das Interview.