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Fatshaming: Warum «The Whale» keine Oscars verdient

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Fatshaming: Warum «The Whale» keine Oscars verdient

Gerade gewann Brendan Fraser einen Oscar für seine Rolle als mehrgewichtiger Englischlehrer in «The Whale» – dank Fatsuit. Der Film ist kein Meisterwerk der Repräsentation, sondern reproduziert gefährliche Vorurteile über dicke Menschen, findet Redaktorin Sandra Huwiler.

Inhaltshinweis: Fettphobie und Homophobie 

Schauspieler Brendan Fraser feiert zurzeit ein triumphales Comeback, das letztes Wochenende in einer Oscar-Auszeichnung gipfelte. In «The Whale» spielt er den mehrgewichtigen, traumatisierten Englischlehrer Charlie, der seine Schüler:innen via Zoom unterrichtet, wo er sich hinter einer schwarzen Kachel versteckt und vorgibt, seine Kamera funktioniere nicht, um sein Gesicht nicht zeigen zu müssen. Unsichtbar für die Aussenwelt. Und die Filmkamera hält drauf, auf eine Person, von der genau dieser Eindruck vermittelt werden soll: dass sie versteckt gehört.

Ein einsamer schwuler Mann, der seine Zeit hauptsächlich mit dem Herunterschlingen von riesigen Mengen Junkfood verbringt, an denen er regelmässig zu ersticken droht. Der deprimiert und lebensmüde ist. Der körperlich beeinträchtigt ist. Der also gleich mehrere gefährliche Vorurteile über mehrgewichtige Personen in sich vereint: unglücklich, ungesund, unbeholfen.

Wohlwollend und doch überlegen

Die amerikanische Drehbuchautorin und Fett-Aktivistin Lindy West (Autorin der Hulu-Serie «Shrill») schreibt dazu im «Guardian»: «Zuschauer:innen reagieren so begeistert auf den Film, weil er bestätigt, was sie darüber denken, wie dicke Menschen sind (abstossend, traurig) und wieso sie dick sind (Traumata, Junkfood). Und das erlaubt ihnen, sich wohlwollend und doch überlegen zu fühlen.» Genau hier liegt für mich das Problem des Films.

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«Ich wollte die Geschichte einer Person erzählen, die so leicht ich hätte sein können»

Drehbuchautor Samuel D. Hunter

Denn Samuel D. Hunter, ein dünner Mann, schrieb das Drehbuch basierend auf eigenen Erfahrungen mit ungeoutetem Schwulsein, religiös bedingter Homophobie und Depression. Die Geschichte von Charlie sei inspiriert von seinem persönlichen Schmerz. «Ich wollte die Geschichte einer Person erzählen, die so leicht ich hätte sein können», sagte er am Toronto International Film Festival.

Eine Parodie dicker Menschen mit Gehbehinderung

Nur ist er keine mehrgewichtige Person mit körperlicher Beeinträchtigung. Genauso wenig wie Regisseur Darren Aronofsky. Oder Hauptdarsteller Brendan Fraser. Es hätte also problemlos eine tiefgreifende Geschichte basierend auf den tatsächlichen Erlebnissen von Hunter sein können. Über eine vereinsamte Person, die unter dem Verlust eines geliebten Menschen leidet, die komplett abgeschottet lebt, ihrem Ende entgegensieht. Und die Geschichte hätte trotzdem sehr viele Menschen berührt. Dafür musste der Hauptdarsteller nicht in einen Fatsuit gesteckt und es musste keine Parodie dicker Menschen mit Gehbehinderung daraus fabriziert werden.

Denn das tut der Film. Unter dem Deckmantel einer empathischen menschlichen Geschichte zeigt er – wie es oft der Fall ist, wenn in einer Hollywood-Produktion mehrgewichtige Menschen vorkommen, von Courteney Cox als Monica in «Friends» bis zu Gwyneth Paltrows Charakter in «Schwer verliebt» – eine Person, die konstant unter ihrem Gewicht leidet. Die sich zurückzieht, sich selbst abstossend findet und der das auch von anderen vermittelt wird. Eine bemitleidenswerte Person, deren Leben als nicht lebenswert dargestellt wird. Deren grosser Körper ausschliesslich problematisch ist. Ich finde, das raubt dem Hauptprotagonisten sämtliche Vielschichtigkeit.

Fehlende Menschlichkeit

«The Whale» sei keine reale dicke Person, die ihre eigene Geschichte erzählt – mit allen Komplexitäten und Widersprüchen einer erlebten Erfahrung, schreibt Lindy West dazu. Und kritisiert weiter, dass eine dicke Person – auch eine mit ähnlichen Lebensumständen wie der fiktionale Charakter Charlie – niemals diesen Film geschrieben hätte. Zu absurd zahlreiche Szenen, zu abwertend der Grundtenor.

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«Ein Fatsuit ist immer eine Verkleidung»

Brendan Frasers Leistung als Schauspieler stelle ich hier gar nicht allzu sehr infrage. Wenn die Hauptfigur zumindest Züge von Menschlichkeit aufweist, liegt das an seiner Performance. Doch dafür mit dem wichtigsten Schauspielpreis ausgezeichnet zu werden, finde ich problematisch. Denn genau besagte Menschlichkeit fehlt der Figur grösstenteils.

Und ein Fatsuit – ein Anzug, der einen mehrgewichtigen Körper an einer schlanken Person suggeriert – ist immer eine Verkleidung. Zeigt also keine reale dicke Person. Man kann sich fragen, ob das zwingend so sein müsste – dazu später mehr. Doch der Hauptprotagonist in «The Whale» wirkt mit seinen Prothesen, dem Fettanzug und den computergenerierten Bildern gekünstelt. Deshalb ist für mich auch die Oscar-Auszeichnung für «Best Makeup and Hairstyling» für den Film fragwürdig. Denn Charlie wirkt wie die entmenschlichte Karikatur eines dicken Menschen.

Ein fingerzeigender, schockierter Blick von aussen

So wirkt der Film auch für Zuschauende wahnsinnig voyeuristisch – und viele Bilder sind meiner Meinung nach kaum anzusehen. Wie Charlie etwa zu Beginn des Films fast einen Herzinfarkt erleidet, weil er zu einem Schwulenporno masturbiert. Wie er sein Essen (natürlich) nicht kaut und deswegen stecken gebliebene Fleischbällchen-Sandwiches mit aller Kraft aus ihm rausgeschlagen werden müssen. Wie seine Tochter ihn erbärmlich findet, als er es nicht schafft, ohne Rollator (den sie wegkickt) quer durch den Raum zu laufen. Wie seine Pflegerin ihm sagt, sie ersteche ihn, wenn er sich noch einmal entschuldige – und er entgegnet: «Mach doch, meine lebenswichtigen Organe liegen eh einen halben Meter unter der Oberfläche!»

Das gleicht einem fingerzeigenden, schockierten Blick von aussen, auf «das Andere», «das Fremde». Und diese Distanz bleibt. Während des ganzen Films. Dies sei – zumindest zu Beginn – gewollt, erklärte Drehbuchautor Hunter in einem Gespräch mit «Concord Theatricals» seine Motivation, Charlie dick sein zu lassen.

Die Distanz begründet für ihn darin, dass wir als Gesellschaft dazu erzogen seien, fettfeindlich zu sein. Und genau da wolle er zum Denken anregen. Nur befeuert er meiner Meinung nach diese Fettfeindlichkeit mit seiner Geschichte so viel mehr, als dass er sie infrage stellt. Und genau das zielt doch daneben, wenn es um Repräsentation geht, oder nicht?

Die Diskriminierung mehrgewichtiger Menschen ist real

Denn die Diskriminierung mehrgewichtiger Menschen ist real. Die gefährlichen Vorurteile medizinischer Fachpersonen. Die ungleiche Behandlung in Bewerbungsprozessen. Die schlechtere Bezahlung. Bodyshaming, Beleidigungen, Ausgrenzung.

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«Wäre es ein anderer Film geworden, wäre der Hauptdarsteller selbst mehrgewichtig? Der Drehbuchautor, der Regisseur?»

Hauptdarsteller Brendan Fraser sagte dazu in der Talkshow von Graham Norton, er habe dank der Dreharbeiten eine grosse Bewunderung für dicke Menschen gewonnen. Für ihre körperliche und psychische Stärke. Was eigentlich schön wäre. Wäre der Hauptgrund nicht, einen Fatsuit getragen zu haben. Und wäre da nicht das Resultat: Dieser Film, der genau diese Stärke kein einziges Mal zeigt. Der es auch verpasst, Essstörungen und Essanfälle adäquat zu thematisieren. Der den Fokus stattdessen auf das Elend richtet.

Wäre es ein anderer Film geworden, wäre der Hauptdarsteller selbst mehrgewichtig? Der Drehbuchautor, der Regisseur? Dann hätte wohl zumindest eine Person im Raum kritisch hinterfragt, welche negativen Bilder reproduziert werden. Rat holten sich die Filmemacher zwar bei der «Obesity Action Coalition», diese medikalisieren Mehrgewicht jedoch, statt sich für Körpervielfalt einzusetzen. Ein Film, der Dicksein auf schockierende Weise darstelle, sei also klar im Interesse der Organisation, erklärt Melanie Dellenbach vom Verein «Body Respect Schweiz».

Die Schweizer Aktivistin fügt weiter an: «Wenn die Filmemacher:innen Fettaktivist:innen hinzugezogen hätten, um den geplanten Film zu besprechen, würde es den Film wohl nicht geben. Der Fatsuit ist das kleinste Übel. Schockierend und verletzend ist die Stigmatisierung und Fettfeindlichkeit des Films, die eine reale Auswirkung auf dicke Menschen im Hier und Jetzt hat.»

Wer darf welche Rollen spielen?

Der Film entfacht erneut die wichtige Debatte, welche Eigenschaften ein:e Schauspieler:in mitbringen muss, um eine Rolle spielen zu können. Spielen zu dürfen. Mit Bezug auf «The Whale» geht es also um folgende Fragen: Muss jemand homosexuell sein, um eine homosexuelle Person darzustellen? Muss jemand dick sein, um eine dicke Person spielen zu können? Muss jemand einer Minderheit angehören, um ein Mitglied dieser Minderheit spielen zu dürfen? Und wer darf welche Geschichten schreiben und verfilmen?

Diese Fragen sind berechtigt und über die Antwort darf debattiert werden. Denn natürlich spielen Schauspieler:innen oft eine ihren persönlichen Erfahrungen fremde Realität – und das soll auch weiterhin möglich sein. Für mich kommt es aber durchaus darauf an, in welchem Kontext. Gerade wenn es um stigmatisierte, unterrepräsentierte Minderheiten geht.

Denn in einer homophoben, fettfeindlichen Industrie – und Gesellschaft – sind meiner Meinung nach die oben aufgeworfenen Fragen einfach zu beantworten: Die Rollen queerer und mehrgewichtiger Personen sollen von ebensolchen gespielt werden. Und Menschen, die diese Erfahrung teilen, sollen mitschreiben, gehört werden. Genau da üben auch queere Schauspieler:innen und Fett-Aktivist:innen Kritik an «The Whale» – gerade in Zeiten immer noch fehlender Repräsentation. Denn diese wäre bitternötig.

«The Whale» läuft ab heute im Kino

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Curtis

Nein: Die Rollen queerer und übergewichtiger (was soll die alberne Wortkreation “Mehrgewichtig”?!) müssen nicht zwingend von ebensolchen gespielt werden. Der Beruf des Schauspielers besteht gerade darin, jemanden zu verkörpern, der man nicht ist.