
Luna Wedler über «22 Bahnen»: «Ich trage eine Wut in mir, die wohl viele Frauen kennen»
In der Verfilmung des Romans «22 Bahnen» spielt Luna Wedler die Hauptfigur Tilda. Wir haben mit der Schweizer Schauspielerin über Geschwisterliebe, Alkoholismus und Wut als Antrieb gesprochen.
- Von: Sandra Brun
- Bild: Constantin Film
annabelle: Tildas Alltag ist komplett durchgetaktet: Studium, Supermarkt, Schwimmen, Sorgen für ihre Schwester, Stress wegen ihrer alkoholkranken Mutter. Doch sehr vieles in Tildas Leben entzieht sich ihrer Kontrolle. Deshalb mag sie Mathe, weil sie Mathe unter Kontrolle hat. Können Sie nachempfinden, wie wichtig Bereiche in ihrem Leben sind, in denen sie alles überblicken und steuern kann?
Luna Wedler: Absolut. Mathe ist ihre Leidenschaft, ihre Liebe. Dort macht alles Sinn. Dort ist alles logisch, alles geht auf. Das hält sie auch am Leben. Das ist ihr Antrieb – wie für mich das Schauspiel. Genauso macht das Schwimmen Sinn, dieser Ruhepol, der für sie wie Therapie ist. Ich kenne dieses Gefühl, weil ich auch sehr gerne im Wasser bin. Ich kenne das Meditative, das Abtauchen, wo für einmal einfach Stille ist. Was auch optisch so umgesetzt wurde, dass man sie wirklich in diese Bubble abtauchen sieht, in der sie sich Zeit für sich rausnehmen kann.
Man hört oft, mit Kindern und Tieren zu drehen sei das Schwierigste. Aber die Verbindung zwischen Ihnen und Ihrer Filmschwester Ida, gespielt von Zoë Baier, berührt sehr. Wie war es, mit ihr zu drehen?
Wunderschön. Wir haben uns kennengelernt und es hat von Anfang an geklickt. Am ersten Tag gingen wir zusammen in die Badi, waren schwimmen, assen Glacé, hatten viel Spass. Und wurden sofort Freundinnen. Ich bin sehr dankbar, dass ich das mit ihr machen durfte, weil wir uns schnell vertraut waren und diesen Film auf Augenhöhe zusammen als Team gespielt haben. Es ist ein sehr emotionaler Film mit schwierigen Szenen, Zoë hat das grossartig gemacht. Mit Kindern zu drehen ist für mich immer etwas Magisches, sie bringen viel Frische rein, sind noch nicht so verkopft und erinnern einen dran, selbst nicht zu viel nachzudenken, im Jetzt zu sein. Erwachsene Schauspielende neigen dazu, eher analytisch zu sein, über alles reden zu wollen – deshalb finde ich es fantastisch, ganz im Moment präsent sein zu können.
Wie zentral ist die Schwesternliebe für Sie in dieser Geschichte?
Für mich ist es in erster Linie ein Film über Geschwisterliebe. Das ist einer der Gründe, warum ich den Film machen wollte. Ich habe auch eine kleine Schwester. Und ich beobachte auch die Geschwister in meinem Umfeld sehr gerne. Dieses Band ist so wertvoll, man hat eine Verbundenheit, ob man will oder nicht – sie ist einfach da. Und wenn man es hoffentlich gut hat mit seinen Geschwistern, ist das etwas unglaublich Schönes, weil man sich nicht erklären muss, nicht verurteilt wird, sich einfach anschauen kann und weiss, wie es der anderen Person gerade geht. Eine absolut bedingungslose Liebe – so fühle ich das zumindest. Und bei Tilda kommt noch eine Art Mutterrolle dazu, die beiden Schwestern machen viel zusammen durch, das verbindet sicher nochmals stärker.
"Ich entspreche schon dem Bild vom Sandwich-Kind"
Können Sie als grosse Schwester diesem Beschützerinneninstinkt nachempfinden?
Total, das fühle ich sehr. Ich kenne auch das Gefühl: «Habe ich genug gemacht?» Doch, das kann ich sehr gut nachvollziehen.
Es gibt die Theorie, welches Geschwisterkind man ist – das älteste, das Sandwich-Kind oder jüngste – sage viel über die eigene Persönlichkeit aus. Was denken Sie darüber?
Ich habe auch schon öfter darüber nachgedacht und mich gefragt, ob es nicht stereotypische gesellschaftliche Klischees sind. Aber ich glaube, da ist schon was dran. Wir sind drei Schwestern, ich bin die mittlere, und ich glaube, ich entspreche schon dem Bild vom Sandwich-Kind.
Inwiefern?
Man sagt, es seien die, die etwas rebellieren. Ich mag zwar das Wort «rebellisch» nicht so, ich würde mich selbst nicht so bezeichnen. Aber klar, ich bin einen anderen Weg gegangen als die Norm – gerade in der Schweiz. Mein Anspruch war nie, es den anderen zu beweisen, sondern eher mir selbst – okay, das wird jetzt ein bisschen deep. Aber ich wollte schon ausbrechen, raus aus diesem Sandwich.
Hat das einen Einfluss auf die anderen Beziehungen in Ihrem Leben?
Ich glaube schon, ja. Da ist oft ein stillschweigendes Verständnis, was das für eine Rolle man als Kind hatte, was ich spannend finde.
"Ich gebe ganz offen zu, dass ich immer noch sehr grosse Unsicherheiten habe"
Zurück zu der Geschwistergeschichte in «22 Bahnen»: Ida wird sich im Verlauf der Geschichte ihrer eigenen Stärke immer mehr bewusst. Auch dank Tilda. Gab es für Sie auch Schlüsselfiguren in Ihrem Leben, die Ihnen Ihre Stärke aufzeigten?
Als ich anfing zu schauspielern, wusste ich nicht, auf was ich mich einlasse. Da gab es immer wieder Menschen in meinem Leben, die mich unterstützt haben, an mich glaubten und mich bestätigt haben, als ich mich nicht gesehen fühlte. Ich gebe aber ganz offen zu, dass ich immer noch sehr grosse Unsicherheiten habe. Da fehlt mir manchmal diese Stärke. Aber ich bin Schauspielerin, seit ich 16 bin, und darf mir auch eingestehen, dass das kein einfacher Beruf ist: Man ist sehr einsam manchmal, reist sehr viel herum, lernt extrem viele Leute kennen, muss immer sehr präsent sein. Natürlich habe ich viele Menschen um mich herum, ohne die ich es nicht schaffen könnte. Aber ich weiss auch, dass ich viel Kraft aus mir selbst schöpfe, einen ganz gesunden Antrieb habe. Ich trage eine Wut in mir, die wohl viele Frauen kennen. So ein Feuer, das brodelt, das uns glaube ich auch verbindet.
Wut ist auch ein Thema, das ich im Film sehr spannend finde. Dass man merkt, Tilda trägt auch so ein Feuer in sich, eine Wut auf die Ungerechtigkeiten in ihrem Leben.
Das spüre ich auch sehr. Aber es ist eine gute Wut.
Das passt gerade zu meiner Frage, was Sie an Tilda bewundern.
Ihre Stärke und das Kämpferische, aber auch der Witz, den sie hat. Was sie alles stemmt, ist heavy, das hat mich sehr beeindruckt. Ich durfte in meiner Recherche vor dem Film mit Leuten sprechen, die wissen, wie es sich anfühlt, als Kind von alkoholkranken Eltern aufzuwachsen: Man hat immer das Gefühl, man sei schuld daran, dass es der eigenen Mutter so geht, weil man noch nicht versteht, dass es eine Krankheit ist, auf die man keinen Einfluss nehmen kann. Das vermindert zunehmend den eigenen Selbstwert – was man auch im Film sieht bei Tilda. Und dann kommt plötzlich eine Chance, die ihr aufzeigt: Doch, ich bin etwas wert. Ich darf einen Traum haben und mich für mein Leben entscheiden.
Was fanden Sie am herausforderndsten an der Rolle?
Die extreme Ruhe, die Tilda hat. Was mich sehr gechallenged, aber auch angezogen hat an der Rolle: Wie ich diesen inneren Monolog nach aussen spürbar spielen kann. Das machte mich auch etwas nervös, weil ich selbst ein sehr hibbeliger Mensch bin und Stille nicht so gut aushalten kann. Es war dann aber sehr schön, am ersten Drehtag zu merken, dass ich ganz bei ihr bin und mich auch wohlfühle in dieser Ruhe. In diesem Gefühl, sich nicht konstant beweisen zu müssen. Das hat mich auch als Luna weitergebracht.
"Es ist erschreckend, wie unhinterfragt Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft ist"
Wie wichtig ist Ihnen, dass man über das Thema Alkoholismus spricht, das die Geschichte ja sehr stark prägt?
Unglaublich wichtig. Wir kennen alle die Gefahren, aber es ist erschreckend, wie unhinterfragt Alkoholkonsum in unserer Gesellschaft ist – vor allem in Europa. Es wird einfach als normal angesehen, dass alle immer so viel trinken. Deswegen finde ich es extrem wichtig, darüber zu sprechen und wenn jemand nicht trinkt, eben keine doofen Nachfragen zu stellen.
Alkoholkonsum steigt aktuell bei jungen Frauen und betrifft besonders oft auch junge Mütter. Können Sie dem nachempfinden, dass man ein Ventil sucht, um aus dem Alltags- und Erwartungsdruck herauszukommen?
Ich kann das sehr nachvollziehen. Laura Tonke, die Tildas Mutter spielt, ist die Rolle unglaublich vielschichtig und krass angegangen, man sieht genau diesen Faktor: Dieses alles vergessen wollen. Man sieht in dieser Mutter die Frau, den Menschen hinter der alkoholkranken Person – manchmal auch das kleine Kind, das sie mal war. Und man sieht die Liebe für ihre Töchter. Auch wenn das schwerfällt, bei allem, was sie ihnen antut. Das ist auch das ewige Dilemma, das Tilda umtreibt; sie liebt ihre Mama sehr, hasst sie aber gleichermassen. Es war heftig, diese Konflikte zu spielen, oft mussten wir uns nach den Takes schnell in den Arm nehmen.
Wie kann ich mir das vorstellen? Haben Sie während des Drehs auch im Team über das Thema gesprochen?
Zoë, Laura, die Regisseurin Mia Maariel Meyer und ich haben viel darüber gesprochen – gerade auch für Zoë, auf jeden Fall. Sie ist zehn, das sind teils heftige Szenen, die man nicht so leicht von einem Kind erwarten kann. Zwischen den Takes haben wir viel gespielt, sind bewusst weg vom Set, oft wollte sie nicht gleich wieder da rein und weiterdrehen. Ich habe auch gemerkt, wie aufgeregt sie war, sie suchte oft meine Nähe. Uns war allen jeweils bewusst, wann schwierige Szenen anstehen, und das versuchten wir vorab mit Zoë aufzufangen, mit ihr darüber zu sprechen, was gerade geschieht. Uns war sehr wichtig, als Filmfamilie mit der Regisseurin zusammen für sie da zu sein.
Trauer ist für mich ebenfalls eins der zentralen Themen dieses Films: Trauer um den verstorbenen Freund, Trauer um die schwierige Familiensituation, Trauer um fehlende Zukunftsperspektiven. Wie lernen wir, mit Trauer umzugehen?
Ich bin da immer vorsichtig, weil ich zum Glück in meinem Leben noch keinen schweren Verlust habe. Deshalb glaube ich, wäre es fies zu sagen, ich weiss, wie sich das anfühlt. Es muss überwältigend sein. Ich habe aber schon viele Filme gedreht, in denen meine Figur jemand verliert. Deshalb habe ich mich recht stark mit Verlusten und Trauer befasst; damit, dass unser Verstand das gar nicht verarbeiten kann, dass eine Person einfach nicht mehr da ist. Ich glaube, man lernt damit leben, die Trauer geht nie komplett weg. Und jede:r trauert anders. Dafür gibt es kein Rezept, sondern man muss versuchen, grosszügig mit sich zu sein, diese Gefühle zuzulassen, sich Zeit zu lassen und Hilfe zu holen. Gerade weil rund um einen herum das Leben einfach weitergeht, was überfordernd sein kann. Und wir müssten viel mehr über den Tod reden, wir sterben schliesslich alle. Seit ich diese Rollen gespielt habe, rede ich viel offener mit meiner Familie darüber, damit wir alle weniger Angst haben und das Thema enttabuisieren.
Wie geht es Ihnen jetzt am Ende dieses Filmprojekts?
Ich bin extrem stolz. Wir hatten gestern Premiere, und in diesem Film steckt so viel Liebe, was glaube ich auch die vielen Fans des Buchs spüren. Für mich ist es vor allem auch ein Film, der Mut machen soll. Mut, etwas ins Rollen zu bringen. Etwas zu verändern. Und seinen eigenen Wert zu sehen. Ich hoffe, dass es den Zuschauer:innen vielleicht diesen Anstoss geben kann. Und für mich leben meine Rollen immer ein bisschen weiter und ich hoffe, dass es Tilda und Ida gut geht.
«22 Bahnen» läuft jetzt im Kino
Ein lesenswertes Interview, absolut aufschlussreich zu lesen, ein grosses Kompliment an die Journalistin, die ideale Ergänzung, nachdem ich den Film gleich beim Kinostart gesehen habe.