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Wie sich der Alltag von Hebammen verändert hat

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Wie sich der Alltag von Hebammen verändert hat

An der Schwelle, wo neues Leben entsteht: Beleghebamme Lucia Mikeler über das Wunder der Geburt – und die teils recht ernüchternden Herausforderungen in ihrem Beruf.

Es ist halb zehn Uhr morgens. Lucia Mikeler schaltet sich direkt nach einer Geburt in unser Video-Interview ein. «Es ist so, Geburten beginnen oft in der Nacht», sagt sie und lacht in die Kamera. Man sieht ihr nicht an, wie wenig sie geschlafen hat. Lucia Mikeler hat den grössten Teil ihres Lebens in diesem Beruf gearbeitet, «an der Schwelle, wo neues Leben entsteht und manchmal Leben vergeht», wie es die Schweizer Regisseurin Leila Kühni beschreibt.

Sie hat den berührenden Dokumentarfilm «Hebammen – Auf die Welt kommen» gedreht, der an den diesjährigen Solothurner Filmtagen Premiere feierte und jetzt in den Kinos läuft. Sie begleitet darin Hebammen bei ihrer Arbeit. Solche, die im Spital angestellt sind, aber auch selbstständig arbeitende Beleghebammen und solche, die Babies bei den Frauen zuhause auf dem Sofa gebären.

Dass es heute diese Vielfalt in der Hebammentätigkeit gibt, ist noch nicht so lang selbstverständlich. Beleghebamme Lucia Mikeler, eine der porträtierten Geburtshelferinnen im Film, geht nächstes Jahr in Pension und erinnert sich gut daran, wie viel Widerstand zu durchbrechen war, um die heutigen Alternativen zur Spitalgeburt zu schaffen.

annabelle: Lucia Mikeler, Sie sind Beleghebamme. Was ist das eigentlich genau?
Lucia Mikeler: Wir sind selbstständig tätige Hebammen, begleiten Frauen schon während der Schwangerschaft, führen Schwangerschaftskontrollen durch und besprechen mit den Frauen, was sie sich für die Geburt wünschen. Ich bin auf Pikett, sobald meine Klientin in die 36. Schwangerschaftswoche kommt. Sagen wir, der Geburtstermin ist auf den 30. Juni festgelegt, bedeutet das für mich, dass ich einplanen muss, von Ende Mai bis Anfang Juli Tag und Nacht bereit zu sein. Für die Niederkunft arbeiten wir mit Spitälern zusammen, wir nutzen die Räume der Gebärabteilung und können, falls nötig, das Geburtshilfeteam oder die Belegärzt:innen hinzuziehen. Und wir sind nach dem Spitalaustritt für die Untersuche im Wochenbett, fürs Stillen und alle weiteren Belange in dieser Zeit zuständig.

Ist die Beleghebamme im Grunde das Urmodell der Geburtshelferin?
Nein, es ist im Gegenteil sogar ein eher neues Konzept. Früher haben alle Frauen zuhause geboren. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verlagerten sich die Geburten dann mehr und mehr in die Kliniken. Ein Dazwischen, wie es heute Beleghebammen oder Geburtshäuser darstellen, gab es nicht. Vor etwa zwanzig Jahren wurde am Kantonsspital Liestal das Beleghebammen-Modell erstmals umgesetzt. Ich arbeitete damals am Universitätsspital Basel und wollte es ebenfalls einführen. Man meinte: Das brauchen wir nicht. Doch das änderte sich bald.

Weshalb?
Im Zuge der Frauenbewegung in den 1980er-Jahren wollten mehr und mehr Frauen eine selbstbestimmte Geburt. Sie wollten nicht mehr nach den Vorstellungen der «Götter in Weiss» – es waren damals noch fast ausschliesslich Männer – gebären. Sie wollten entscheiden, wie sie ihr Kind zur Welt bringen. Wie unerhört solche Forderung waren, äusserte sich unter anderem darin, dass man etwa Hausgeburten, die ich damals anbot, des Teufels fand. Ich war auch bei der ersten Geburtshausgründung Anfang der 1990er-Jahre dabei, wogegen sich die Ärztegesellschaft Baselland wehrte und rechtliche Abklärungen durchführen liess. Doch irgendwann realisierten Spitäler und Ärzteschaft, dass sich die Bedürfnisse von Gebärenden geändert haben und dass sie sich bewegen mussten. Das Beleghebammensystem, das bis heute in etwa sieben Spitälern der Schweiz angeboten wird, war eine Antwort darauf.

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«Der generelle Hebammenmangel tritt bei uns Beleghebammen zutage, genauso wie in den Geburtshäusern und in den Spitälern»

Auf den Wunsch der natürlichen, selbstbestimmten Geburt folgte in den 2000er-Jahren so etwas wie das Gegenstück dazu: der Kaiserschnitt-Hype.
Genau, der Wunsch nach der geplanten, möglichst schmerzlosen Geburt schwappte von den USA und Brasilien herüber nach Europa und in die Schweiz. Die Kaiserschnittrate schnellte in die Höhe. Es hiess damals, der Kaiserschnitt garantiere die absolute Sicherheit für Mutter und Kind. Dabei wurde ausgeblendet, dass auch ein Kaiserschnitt gewisse Risiken birgt. Aber es waren ja auch nicht nur Sicherheitsgedanken, sondern auch ökonomische und logistische Überlegungen, die zum Kaiserschnitt-Hype führten. Denn dieser Eingriff ist gut planbar, für Eltern, Spitäler und Ärzt:innen. Die Folge davon war jedoch, dass der Kaiserschnitttermin zu früh angesetzt wurde und deswegen bei den Neugeborenen gehäuft Atemschwierigkeiten auftraten. Das alarmierte dann die Pädiater:innen und Neonatolog:innen, die sich gemeinsam mit dem Hebammenverband gegen den Kaiserschnitt als Norm auflehnten. Es kam zu einer Gegenbewegung und die Kaiserschnittrate stabilisierte sich wieder.

Heute sind Beleghebammen sehr gefragt.
Ja. Wir haben jede Woche bis zu fünf Anfragen. Den Grossteil davon muss ich ablehnen. Ich betreue derzeit etwa sieben bis zehn Frauen pro Monat.

Warum gibt es nicht mehr Hebammen wie Sie?
Ein wichtiger Grund ist der ständige Pikettdienst, auch nachts, der schwer vereinbar ist mit einer Familie mit kleinen Kindern. Hinzukommt die Verantwortung, die man als Beleghebamme für zwei Leben trägt. Viele trauen sich das nicht zu. Nicht zuletzt tritt der generelle Hebammenmangel schlicht auch hier zutage, genauso wie in den Geburtshäusern und in den Spitälern.

Wie überall in der Pflege mangelt es auch im Bereich der Geburtshelferinnen?
Viele angestellte Hebammen kommen aus dem Ausland. Im Spital, mit dem ich zusammenarbeite, machen sie zirka einen Viertel aus. In der Schweiz geschieht die Ausbildung seit zehn Jahren nur auf Fachhochschulniveau, wo die Student:innenzahlen – es sind fast nur Frauen – stark begrenzt sind. Die Gründe sind ähnlich wie beim Medizinstudium: Es gibt nicht genügend Ausbildungsplätze. Das hängt auch damit zusammen, dass im Zuge der neuen Spitalfinanzierung viele kleinere Spitäler schlossen. Einen wichtigen Schritt hat kürzlich der Kanton Zürich unternommen und die Ausbildungsplätze um einen Drittel erhöht. Das allein reicht aber nicht: Wir steuern weiterhin auf einen Notstand bei den Hebammen zu.

Die grossen Gefühle der Geburt

Der Film «Hebammen – auf die Welt kommen» der Schweizer Regisseurin Leila Kühni zeigt verschiedene Geburtshelferinnen, die Frauen und auch ihre Partner während Schwangerschaft und Geburt begleiten. Er beleuchtet die Gratwanderung, die Paare zwischen einer idealen und einer sicheren Niederkunft suchen. Und er zeigt die grossen Gefühle, die mit dem Wunder der Geburt einhergehen.

Jetzt im Kino: «Hebammen – auf die Welt kommen»

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