
Anna Rosenwassers neues Buch "Herz": "Ich weiss jeden Tag, warum es sich lohnt, sich zu exponieren"
In ihrem neuen Buch "Herz – Feministische Strategien und queere Hoffnung" widmet sich Autorin und SP-Nationalrätin Anna Rosenwasser den Fragen, die ihr als Aktivistin häufig gestellt werden. Eine davon: Wie können wir uns mit der Realität von Gewalt beschäftigen, ohne unsere Zuversicht zu verlieren? Einen Auszug aus dem Buch könnt ihr hier lesen.
- Von: Anna Rosenwasser
- Bild: Lea Reutimann
Ich weiss jeden Tag, warum es sich lohnt, sich zu exponieren. Jedes Mal, wenn eine Person, die nicht der Mehrheitsgesellschaft angehört, ihre Stimme erhebt, sorgt sie damit für mehr Vielfalt im Diskurs. Sie drängt sich damit mit der nötigen Unerschrockenheit in einen Raum, der mit Sicherheit mehr Perspektiven vertragen kann. Sie ist damit eine Bereicherung für eine oft an Vielfalt arme Diskussion. Nur schon deshalb lohnt es sich: Wenn nicht aus Euphorie, dann aus feministischem Trotz.
In dem Moment, in dem wir uns überwinden, uns Platz zu schaffen, geben wir uns zumindest die Möglichkeit, mitzubestimmen, worüber geredet wird, wie geredet wird und wer überhaupt redet. Es ist ein Ausdruck von Selbstbestimmung, den Raum einzufordern, der einem nicht zugestanden wird. Ihn sich zu nehmen. Ihn zu gestalten.
Zum ersten Jubiläum meiner Wahl erschien in einer eher bürgerlichen Sonntagszeitung ein seitenlanges Porträt über mich. Die Journalistin beschreibt darin, dass ich eine liebevolle Politik anstrebe, und stellte die These auf, dass ich mit dieser solidarischen Art nicht ins Bundeshaus gehöre. Der Artikel endete mit der Frage, ob ich in diesem Politikspiel überhaupt mitspielen muss. Es ist der Klassiker: Die Mehrheitsgesellschaft stellt die Spielregeln auf, und wer sich den Raum auf eine andere Art nimmt, soll halt nicht mitspielen.
"Indem ich auf die patriarchal geprägte Härte verzichte, stelle ich die Spielregeln infrage"
Die Journalistin hätte auch eine andere Position einnehmen können. Indem ich auf die patriarchal geprägte Härte verzichte, indem ich bewusst progressive, queerfeministische Werte ins Bundeshaus mitbringe – beziehungsweise mich zu den anderen solidarischen Politiker:innen geselle – die gibt es ja schon, sie sind meine Verbündeten –, stelle ich die Spielregeln infrage. Nicht, weil durch mich plötzlich alle Politiker erkennen würden, dass Verletzlichkeit gut ist; so mächtig bin ich nicht.
Sondern indem ich zusammen mit anderen allein durch unsere Präsenz an diesem zutiefst patriarchalen Ort eine Gegenthese bilde. Das ändert die Spielregeln nicht, aber es stellt sie infrage. Indem ich meine Stimme einbringe – indem 92 000 Menschen entschieden haben, dass ich meine Stimme einbringen darf –, sorge ich dafür, dass das Bundeshaus vielfältiger wird. Zusammen mit Verbündeten.
Raum einnehmen ist keine Einzelaufgabe. Es ist eine Form des kollektiven Widerstands, sofern wir das nicht nur für uns alleine tun, sondern uns mit allen, die dasselbe wollen wie wir, vernetzen. Raum einnehmen, das heisst auch, anderen die Möglichkeit zu geben, sich wiederzuerkennen. Es heisst, den eigenen Raum nicht nur einzunehmen, sondern Platz zu machen für weitere.
"Meistens steht kein leerer, weich gepolsterter Stuhl für uns bereit. Es ist unbequem, Raum einzunehmen"
Meistens steht da natürlich kein leerer, weich gepolsterter Stuhl für uns bereit. (Und wäre es so, wäre er nicht breit genug, und der Raum wäre nicht rollstuhlgängig.) Es ist unbequem, Raum einzunehmen. Unbequem, wenn wir es tun. Wir widersprechen. Werden laut, idealerweise sogar gemeinsam. Wenn wir Raum einnehmen, wehren wir uns gegen die Erwartung, Harmonie herzustellen. Wir leisten Widerstand. […]
Wer sich äussert – in der Diskussion am Küchentisch, mit einem Votum an einer Sitzung, auf einer Bühne, vor einem Mikrofon oder einer Kamera –, nimmt Raum ein, der sonst nur denen gegeben wird, die der Norm entsprechen. Diesen gewonnenen Raum zu erweitern, ist ein radikaler Akt. Er erweitert unser kollektives Verständnis davon, wessen Existenz sichtbar ist, sein kann und sein darf.
Wie geil ist das denn.
Indem wir uns überwinden, Raum einzunehmen, tragen wir zu Vielfalt bei. Dabei ist es nicht primär relevant, ob unsere Inhalte bereits perfekt sind. Es geht erst mal darum, dass wir es tun. Diejenigen, denen seit Jahrzehnten und Jahrhunderten und widerstandslos Raum zugestanden wird, sind auch nicht makellos. Sie sind gelegentlich mittelmässig. Womöglich sogar nicht ganz auf der Höhe.
"Ich wünschte, wir Frauen würden uns auch mal überschätzen"
Wir dürfen Denkfehler machen, labern oder am Punkt vorbeireden. Wir dürfen zu leise, zu laut, zu komplex oder zu salopp reden, genau so wie all die, die mit aller Selbstverständlichkeit genau dafür Raum erhalten, jeden Tag, seit schon immer, und sich deshalb masslos überschätzen. […]
Ich wünschte, wir Frauen würden uns auch mal derart überschätzen. Stattdessen unterschätzen wir uns, und zwar so, wie es uns von Klein auf beigebracht wird. Ich habe es satt, dass die Antwort auf dieses Phänomen "Dann trau dich einfach" heisst. Das klingt, als sei es ein individuelles Problem und eine individuelle Lösung, trotzdem etwas zu sagen. Das stimmt aber nur bedingt.
Ja, auf der individuellen Ebene will ich, dass wir es trotzdem tun. Mit dem Mut zur Mittelmässigkeit, auch wenn wir riskieren, strenger bestraft zu werden dafür, nicht nur von den anderen, sondern auch von uns selbst. Denn während Andreas und Remo sich in Selbstzufriedenheit wälzen, rutschen Frauen oft nach jeder Wortmeldung in eine Spirale der Reue und des Selbsthasses.

"Herz – Feministische Strategien und queere Hoffnung" ist im Rotpunktverlag erschienen und ist im Buchhandel und über den Verlag erhältlich.
HERZnissage mit Anna Rosenwasser: Im Humbug Basel am 29.4.25, im Schüür Luzern am 23.4.25, im Kaufleuten Zürich am 15.4.25, im Gaskessel Bern am 9.4.25
Anna Rosenwasser, 1990 in Schaffhausen geboren, arbeitet als Journalistin und Schriftstellerin. Sie war von 2017 bis 2020 Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz und setzte sich unter anderem für den Diskriminierungsschutz und die Ehe für alle ein. Davor war Rosenwasser im Vorstand der LGBTQ-Organisation Milchjugend aktiv. 2023 wurde sie in den Nationalrat gewählt.
Ich liebe deine Text. Jede Zeile. Deine ehemalige Mathelehrerin.
Und immer noch im Kampfmodus des letzten Jahrhunderts. Frauen sind doch längst weiter!