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Historikerin Brigitte Studer: «Der 8. März ist aus dem feministischen Klassenkampf entstanden»

Politik

Historikerin Brigitte Studer: «Der 8. März ist aus dem feministischen Klassenkampf entstanden»

Welche historische Entwicklung hinter dem Internationalen Frauentag steckt und weshalb das Kämpferische an diesem Tag heute wieder relevanter ist, erklärt die Schweizer Historikerin Brigitte Studer im Interview.

annabelle: Brigitte Studer, wie kam es dazu, dass wir am 8. März den Internationalen Frauentag feiern?
Brigitte Studer: Die Geschichte erstreckt sich auf über 150 Jahre. Sein Ursprung wird manchmal auf einen Textilarbeiterinnenstreik in den USA am 8. März 1857 zurückgeführt. Je nach Quelle fand dann entweder 1908 in Chicago oder ein Jahr später in New York ein erster «National Women’s Day» statt, ausgerufen durch die sozialistische Partei. Ein Jahr später übernahmen die europäischen Sozialistinnen die Idee. Nach dem internationalen Jahr der Frau 1975 machten schliesslich die Vereinten Nationen den Tag zum Weltfrauentag.

Was waren die ursprünglichen Forderungen?
Im Vordergrund stand 1910 das Frauenstimmrecht, aber nicht nur. Es ging auch um den Schutz der Arbeiterinnen, also um Schutz vor Ausbeutung, langen und gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Aber auch die soziale Fürsorge für Mutter und Kind, Kinderkrippen sowie die Gleichbehandlung von ledigen Müttern wurde gefordert – also schon damals die bessere Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie für Frauen. Gewisse Forderungen, die uns heute noch beschäftigen, sind also sehr alt. Im Zentrum stand stets die internationale Solidarität aller Frauen. In der Schweiz fanden am 19. März 1911 erstmals öffentliche Veranstaltungen zu diesem Tag statt.

Der Internationale Frauentag fand also nicht von Anfang an am 8. März statt?
Tatsächlich entstand diese Festschreibung erst nach dem Ersten Weltkrieg. Sie geht auf die Russische Revolution und die Demonstration der Textilarbeiterinnen am 8. März 1917 in St. Petersburg zurück. Die Frauen gingen unter dem Motto «Frieden und Brot» auf die Strasse – die damaligen Hauptanliegen der arbeitenden Bevölkerung. Das hat eine riesige Streikwelle ausgelöst und schliesslich zur Abdankung des Zaren geführt. Mit der Gründung der Kommunistischen Internationale entstand auch eine kommunistische Frauenbewegung. An ihrer zweiten internationalen Frauenkonferenz im Juni 1921 in Moskau haben die bulgarischen Delegierten den Vorschlag gemacht, dass von nun an der 8. März zum Internationalen Frauentag erklärt werden sollte. Und zwar eben mit Bezug auf die Textilarbeiterinnen in St. Petersburg.

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«Viele Frauen haben heute wieder das Gefühl: Jetzt ist genug, jetzt müssen wir uns wehren»

Der 8. März wird auch immer wieder als «feministischer Kampftag» bezeichnet. Weshalb?
Weil der Tag aus dem feministischen Klassenkampf heraus entstanden ist. Später erhielt er aber auch andere Bedeutungen. Während der Krisen- und Kriegszeit nahm die kämpferische Energie ab. Im nationalsozialistischen Deutschland nach 1933 sowieso, da feierte das Regime den Muttertag. Aber auch in demokratischen Staaten änderten sich die Anliegen. Seitens der Frauenbewegungen standen damals eher allgemeine Forderungen auf der Agenda, insbesondere nach Frieden. Frauen wurden mehr als Mütter repräsentiert und angesprochen und dazu aufgerufen, sich für ihre Kinder, für die Familie zu wehren. Auch nach 1945 und mit dem Kalten Krieg blieb der kämpferische Elan der ersten Jahre weg. Das änderte sich in den 1970er-Jahren, als die Neue Frauenbewegung den Tag wieder für sich entdeckte.

Zeitsprung: Weshalb ist der Tag heute wieder relevanter geworden?
Das hat meines Erachtens mit dem rechtskonservativen, teilweise rechtsextremen Backlash zu tun, den man momentan in grossen Teilen der Welt beobachtet: Denken wir beispielsweise an die USA, wo aktuell das Recht auf Abtreibung oder auf gewisse Formen von Verhütung für Frauen rückgängig gemacht wird. Auch die #MeToo-Bewegung dürfte viel dazu beigetragen haben: Die Frauen wussten natürlich schon lange, dass sexuelle Belästigung auf beruflicher Ebene sozusagen normal war. Aber durch diese Bewegung wurde es sagbar und folglich legitim, sich dagegen zu wehren. Dass der 8. März zum einen wieder gesellschaftlich relevanter und zum anderen wieder kämpferischer geworden ist, hat zweifellos mit diesen beiden Entwicklungen zu tun. Viele Frauen haben heute wieder das Gefühl: Jetzt ist genug, jetzt müssen wir uns wehren.

Auch Blumenhändler:innen haben den Tag heute für sich entdeckt. Sind wir wirklich wieder kämpferischer geworden?
Es ist lustig, dass Sie dieses Beispiel bringen: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Frauentag in der Sowjetunion, in der DDR und anderen osteuropäischen Staaten völlig seinen kämpferischen Touch verloren und ist zu einem Ehrentag der Frauen geworden. Man überreichte ihnen im Betrieb Blumen und Kaffee, vielleicht noch eine Medaille. Der Tag wurde somit zu einem leeren Ritual. Im Prinzip machen diese Blumenläden also heute dasselbe. Aber das eine schliesst das andere heute ja nicht mehr aus: Man kann gerne Blumen erhalten und trotzdem kämpferisch sein.

Welche Themen werden die feministischen Bewegungen in den nächsten Jahren beschäftigen?
Neben der sozialen Sicherheit das Recht auf körperliche Unversehrtheit: Schwangerschaftsabbruch, Verhütung, aber auch physische und psychische Gewalt gegen Frauen. Die feministischen Bewegungen sind definitiv wieder erstarkt. Auch, leider, weil es wieder bitter nötig ist.

Brigitte Studer ist Historikerin und ehemalige Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte am Historischen Institut an der Universität Bern.

Auf dem Aufmacherbild oben ist die Demonstration am 12. März 1977 in Basel zum Internationalen Frauentag zu sehen.

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