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«Auch ich wurde schon diskriminiert»

Leben

«Auch ich wurde schon diskriminiert»

  • Interview: Barbara Achermann und Silvia Binggeli; Foto: Vera Hartmann; Video: Johanna Hullár

Bundesrätin Simonetta Sommaruga kämpft seit Jahren für die Rechte der Frauen. Dabei setzt die frühere Konsumentenschützerin auf die Politik der leisen Töne. Obwohl sie manchmal am liebsten auf den Tisch hauen möchte, wie sie im Interview erzählt. Zudem: Was kann die Bundesrätin anderen Schweizer Macherinnen mit auf den Weg geben? Sehen Sie ihre Tipps in der exklusiven Videobotschaft.

Der Himmel über dem Bundeshaus ist an diesem Dezembermorgen von einem kühlen Grau. Eisiger Regen fällt auf die eben noch verschneite Stadt. «Leider sieht man heute die Alpen nicht», sagt Bundesrätin Simonetta Sommaruga (57) und empfängt uns in ihrem Büro. Ihr Händedruck ist nicht zu sanft, nicht zu fest. Man spürt Kraft und Feingefühl in den Fingern der ehemaligen Pianistin. Simonetta Sommaruga setzt sich auf die vordere Stuhlkante, überschlägt die Beine und lächelt freundlich. Eine zurückhaltende Pose. Die Justiz- und Polizeiministerin ist keine breitschultrige Angela Merkel und auch keine breitbeinige Magdalena Martullo-Blocher, sondern ein anderer Typ Frau, explizit feminin – und, wie sie selber sagt, – «bewusst verletzlich». Die Sorte Frau, die man nur ganz selten an der Spitze antrifft. Und eine der wenigen, die ihr Frau-Sein reflektiert, darüber redet. Nach einem Jahr, das geprägt war von weltweiten Frauenprotesten, von Stimmen, die riefen «this girl is on fire», «so nicht» und «me too», wollen wir von der Bundesrätin wissen, weshalb in unserem Land noch immer vorwiegend Männer das Sagen haben und wie sie sich im männlich dominierten Bundesbern dennoch durchsetzt.

annabelle: Wir haben uns eben im Gang darüber unterhalten, wie wir Sie anreden sollen. Was mögen Sie lieber, Frau Bundesrätin oder Frau Sommaruga?
Simonetta Sommaruga: Sie können es machen, wie Sie möchten. Ich bin häufig im Bus unterwegs, da nennen mich die Leute Frau Sommaruga, und das ist schön so.

Da wir nicht im Bus sitzen: Frau Bundesrätin Sommaruga. Das vergangene Jahr hat mit dem Women’s March angefangen und ist mit den Beschuldigungen gegen Filmmogul Harvey Weinstein ausgeklungen. Millionen von Frauen sprachen weltweit öffentlich über sexuelle Belästigung, auch Politikerinnen in Bern. Wie erleben Sie die Proteste?
Für viele Frauen war letztes Jahr wichtig, weil sie zum ersten Mal offen über das Thema sexuelle Belästigung reden konnten. Es sind Erfahrungen, welche die allermeisten Frauen im Verlaufe ihres Lebens machen. Aber häufig reden wir nicht darüber: sei es aus Scham, weil wir uns fragen, warum wir nicht sofort auf die Belästigung reagiert haben, sei es aus Angst, weil wir in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen und um unseren Posten fürchten.

Die Debatte um #metoo hat vielen Frauen Mut gemacht.
Ja, ich merke das auch, wenn ich mich mit Freundinnen oder meinen Nichten darüber austausche, was wir erlebt haben und wie wir damit umgehen. Über sexuelle Belästigung zu reden, ist ein wichtiger erster Schritt. Aber es ist nur ein erster Schritt.

Welchen zweiten Schritt erhoffen Sie sich?
Übergriffe, sexuelle Belästigung und Sexismus sind Ausdruck tiefer liegender Probleme, auch in der Schweiz: Häusliche Gewalt ist hier verbreitet. Täglich muss die Polizei vierzig Mal ausrücken deswegen, und es kommt zu zwanzig Anzeigen gegen Männer. Und die Fallzahlen steigen sogar. Frauen verdienen durchschnittlich 600 Franken weniger im Monat als Männer, nur weil sie Frauen sind. In Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten sind sie kaum vertreten. Wo es um Macht und um Geld geht, sind die Frauen überall in der Minderheit. Das sind die Gründe hinter #metoo. Ignoriert man sie, kann man die Debatte über sexuelle Belästigung nicht richtig einordnen. Oder man zieht die Aussagen der Frauen gar ins Lächerliche.

Zum Beispiel?
Ein Mann fragt dann etwa: «Ich darf dir also nicht mehr in den Mantel helfen? Okay, dann ziehe ihn eben alleine an.»

Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker Ihnen vor zwei Jahren nonchalant einen Kuss auf die Wange gedrückt hat?
Auf dem Foto, das damals in Brüssel entstanden ist, sieht man, dass ich das mässig spannend fand. (Bundesrätin Simonetta Sommaruga hält inne, wie sie das während des Gesprächs immer wieder tut. Die Politikerin antwortet diplomatisch, auch wenn unterschwellig zu spüren ist, dass sie das Herz gern auf der Zunge trägt.) Wahrscheinlich führt auch hier die Mann-Frau-Thematik dazu, dass das Bild so enorm interessiert. Aber an sich ist ein Kuss als Begrüssung unter Ministern nichts Aussergewöhnliches. Ich bin beispielsweise häufig in Brüssel an Treffen von europäischen Ministern und stelle fest, dass sich dort Männer sehr oft berühren: am Arm, an der Schulter, am Rücken. Hingegen würde es seltsam anmuten, wenn ich einem Kollegen den Arm um die Schulter legen würde.

Im Schweizer Parlament scheint es ein Sexismusproblem zu geben. War Ihnen das bewusst?
Klar, sexistische Sprüche hört man auch im Parlament, aber nicht nur dort. Sexismus ist praktisch überall präsent, warum also sollte das Parlament eine Ausnahme sein? Die Gründe liegen tiefer – da müssen wir ansetzen. Sie haben acht Buchhalter in einer Firma und eine Buchhalterin. Die Frau hat die gleiche Aufgabe, den gleichen Leistungsausweis, aber am Ende des Jahres hat sie 7000 Franken weniger verdient. Das heisst doch einfach: Sie ist weniger wert. Das steckt tief in unseren Köpfen drin und führt dazu, dass man Frauen abwertet, denn Sexismus ist nichts anderes als eine Abwertung.

Wurden auch Sie schon diskriminiert?
Selbstverständlich. Als ich eine meiner ersten Stellen antrat, verdiente ich massiv weniger als mein männlicher Vorgänger.

Wie haben Sie das herausgefunden?
Ich habe seine Lohnabrechnung gesehen. Daraufhin reagierte ich typisch weiblich: Ich schwieg, weil ich mich freute, dass ich die Stelle bekommen hatte, und sie nicht aufs Spiel setzen wollte. Aber immerhin, nach zwei Jahren ging ich zu meinen Vorgesetzten und sagte, dass ich meine Kompetenz unterdessen wohl bewiesen und jetzt gerne den gleichen Lohn hätte. Es brauchte aber Zeit und kostete mich viel Überwindung, das einzufordern.

Konnten Sie überzeugen?
Ich bekam dann deutlich mehr Lohn, aber immer noch etwas weniger als mein Vorgänger. Man wirft den Frauen oft vor, sie würden den Lohn nicht gut verhandeln. Dieser Vorwurf bringt aber nur eines zum Ausdruck: Man erwartet, dass eine Frau verhandeln muss, um gleich entlöhnt zu werden wie ein Mann. Das ist doch absurd.

Simone de Beauvoir sagte: Man wird nicht als Frau geboren. Man wird zur Frau gemacht.
Stimmt, wir alle können uns den gesellschaftlichen Einflüssen nicht entziehen. Aber die Diskussion, inwiefern unser Geschlecht biologisch oder gesellschaftlich bestimmt ist, hat nicht mehr dieselbe Bedeutung wie vor sechzig Jahren. Damals kam dieser Satz einer Revolution gleich. Trotzdem gibt es immer noch Muster und Denkweisen, die bereits Mädchen mitgegeben werden. Ich bin selber unter solchen Einflüssen aufgewachsen. Man sagte es mir nie direkt, aber implizit: Lerne einen schönen Beruf, bei dem du «gäbig» Teilzeit arbeiten kannst, wenn du dann mal Kinder hast.

Und das haben Sie befolgt?
Sicher, ich habe das verinnerlicht. Es war ein langer Weg, bis ich erkannte, dass es auch andere Möglichkeiten gibt. Manchmal macht einem das Leben einen Strich durch die Rechnung, Türen gehen anderswo auf. Ich habe einen Mann kennen gelernt, der bereits drei Kinder hatte. Der Entscheid, selber auf Kinder zu verzichten, war nicht leicht. Doch ich hatte das Glück, die Kinder meines Partners eng zu begleiten. Obwohl sie nicht bei uns gelebt haben, konnte ich das Mutter-Sein so ein Stück weit ausleben und mich trotzdem beruflich entfalten. Eigentlich sollte das für alle möglich sein, für Frauen und Männer, für Mütter und Väter. Aber leider müssen sich in der Schweiz immer noch viel häufiger Frauen entscheiden, ob sie auf die Familie setzen oder auf die berufliche Entwicklung.

Als wir uns vor drei Jahren zum Interview trafen, sprachen wir bereits über Vereinbarkeit von Beruf und Familie, über Lohngleichheit und Frauen in Führungspositionen. Seither hat sich im Alltag der Frauen wenig verändert. Sie haben es selber gesagt: Die häusliche Gewalt nimmt zu, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch immer schwierig, in Politik und Wirtschaft steigt der Frauenanteil kaum an. Weshalb bewegt sich die Schweiz so langsam in Sachen Gleichstellung?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer davon ist, dass in unserem Land gesellschaftliche Veränderungen breit mitgetragen werden müssen, bevor sich etwas bewegt. Direkte Demokratie und Föderalismus bedeuten, dass Entscheidungen nicht von oben herab beschlossen werden. Manchmal braucht es sogar mehrere Anläufe, wie etwa bei der Mutterschaftsversicherung oder beim Frauenstimmrecht.

Das Frauenstimmrecht wurde erst 1971 durchgesetzt. Können Sie dem tatsächlich etwas Positives abgewinnen?
Glauben Sie mir: Ich möchte auch, dass es schneller vorangeht. Aber immerhin sind jetzt zwei konkrete Gesetzesvorlagen im Parlament – eine zur Lohngleichheit und eine zur Frauenquote (siehe unten). Die Forderung von annabelle für eine befristete Quote hat 2012 die Diskussion ins Rollen gebracht. In Ihrem Magazin haben sich damals zahlreiche Frauen und Männer für eine Quote in Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen ausgesprochen. Ich würde also nicht sagen, dass es gar nicht vorwärtsgeht. Aber es dauert lange. Wahrscheinlich hat das tatsächlich auch damit zu tun, dass die Schweizerinnen bis 1971 politisch unmündig waren.

Wie meinen Sie das?
Wir spüren bis jetzt, dass eine angemessene Präsenz von Frauen nicht in der DNA dieses Landes verankert ist.

Der Bundesrat hat kürzlich den Vaterschaftsurlaub abgelehnt, frischgebackene Väter haben in der Schweiz weiterhin nur Anrecht auf einen freien Tag nach der Geburt des Kindes …
(die Bundesrätin verschluckt sich am Wasser)

… Es ist wohl kein Zufall, dass Sie sich gerade jetzt verschlucken?
Zum Glück ist die Fotografin nicht mehr hier. (Simonetta Sommaruga lacht) Schauen wir die hundert grössten Schweizer Firmen an, so sehen wir, dass in elf Verwaltungsräten dieser Firmen keine einzige Frau sitzt. Keine einzige. Wird ein Mann Vater, so heisst es: Gratuliere. Und dann geht es weiter wie zuvor. Das ist die Normalität in unserem Land, und daran hat sich auch kaum etwas geändert.

Wann verlieren Sie die Geduld? Wann hauen Sie auf den Tisch?
Erst kürzlich, als ich jemanden sagen hörte, den Vaterschaftsurlaub brauche es nicht, weil die Kinder in den ersten Monaten sowieso nur schlafen und trinken. Was wolle ein Vater da schon tun? Ich möchte jetzt nicht sagen, wo ich das gehört habe.

Sie haben im Bundesrat 2010 eine Frauenmehrheit erlebt. Im Moment sind Sie zu zweit. Und vielleicht bald allein.
Das will ich nicht hoffen.

Bundesrätin Doris Leuthard hat angekündigt, dass dies ihre letzte Legislatur sei. Diskutiert ein Bundesrat mit einer Frauenmehrheit anders?
Ich kann Ihnen sagen, wie ich meine Kolleginnen im Bundesrat erlebt habe und noch immer erlebe: Sie kennen ihre Dossiers hervorragend und besitzen eine überdurchschnittliche Fähigkeit, zu argumentieren. Wenn Sie 15 Argumente haben und nicht nur eines, wenn Sie fähig sind, Ihrem Gegenüber zuzuhören, und gewillt, gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, so prägt das die Diskussionskultur. Als wir noch etwas mehr Frauen im Bundesrat waren, war diese konstruktive, professionelle Atmosphäre sehr präsent.

Vor acht Jahren posierten Sie mit Eveline Widmer-Schlumpf, Micheline Calmy-Rey und Doris Leuthard für das Cover von annabelle. Die gute Stimmung unter Ihnen war spürbar.
Es gab immer dieses unausgesprochene Einvernehmen, dass wir zusammenhalten – selbst wenn wir politisch selbstverständlich häufig unterschiedlicher Meinung waren. Es war abgesehen davon auch nett, uns abzusprechen, wie wir uns für Staatsempfänge anziehen. Männer können an solchen Anlässen fast nur die Wahl der Krawatte variieren.

Kürzlich sympathisierten Sie in einem Interview mit dem «Migros-Magazin» mit einer Frauenquote für den Bundesrat.
In der Bundesverfassung steht, bei der Wahl der Landesregierung sollen die verschiedenen Regionen und die verschiedenen Sprachen berücksichtigt werden –über die Geschlechter steht nichts. Eigentlich müsste es selbstverständlich sein, dass auch die Geschlechter angemessen abgebildet sind. Die Realität sieht leider anders aus.

Viele Frauen in Führungspositionen erzählen, dass sie in männlich dominierten Runden manchmal ein irritierendes Verhalten erleben: Zunächst wird das Alphatier ausgemacht, vor dem sich alle positionieren. Eine Viertelstunde verstreicht, ohne dass man über Sachthemen gesprochen hat. Dann geht der Wettbewerb los, man entreisst sich gegenseitig das Wort, die Ideen. Wer sich nicht vordrängt, kommt nicht zum Zug. Wie erleben Sie Männergremien?
Wenn Frauen allein sind oder in einer kleinen Minderheit, dann gibt es dieses Verhalten. Sobald das Verhältnis von Mann und Frau ungefähr ausgeglichen ist, wird das Geschlecht zur Nebensache. Männer können dann auch weibliche Kommunikationsmuster annehmen und umgekehrt. Jeder Mensch trägt diese verschiedenen Seiten in sich und lebt sie gerne aus. Das ist die beste Ausgangslage für gute Gespräche.

Wie bringen Sie unter Männern Ihre Argumente vor?
Sich als Frau alleine durchzusetzen, ist wirklich schwierig. Man wird automatisch ein Stück weit auf das Geschlecht reduziert. Allein schon stimmlich bringt man eine andere Tonlage rein. Und bei der Begrüssung heisst es «Grüezi, Frau Sommaruga, meine Herren» – und schon ist klar, dass man nicht richtig dazu gehört.

Manchmal hat es auch Vorteile, die einzige Frau zu sein.
Kann schon sein. Es sind ja alle nett zu einem. Und doch: Eine solche Konstellation ist sehr anspruchsvoll. Ich sage nicht, dass es einem dann schlecht geht. Aber es gibt eine Differenzierung, die falsch ist. Die Frau, die sich allein unter Männern behaupten muss, hat per se eine andere Ausgangslage, wenn sie sich in eine Sachdiskussion einbringt.

Viele Coaches raten Frauen, die an die Spitze wollen, sie sollten männliche Verhaltensformen annehmen. Tief und laut sprechen, bloss nicht lächeln oder die Beine überkreuzen. Wie sehen Sie das?
Besteht die Gruppe fast nur aus Männern, passiert es schnell, dass Frauen Männer kopieren, um nicht aus dem Rahmen zu fallen. Ich höre allerdings auch von Männern, dass sie beispielsweise im Militärdienst unter Druck geraten, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen, das ihnen eigentlich nicht entspricht.

Was raten Sie anderen Frauen, um sich unter Männern zu behaupten?
Idealerweise verfügen sie über verschiedene Verhaltensmöglichkeiten, die sie je nach Situation anwenden können: Einmal schweigt man, ein anderes Mal ist man aggressiv, dann wieder vermittelnd oder man spricht sein Gegenüber auf der Metaebene an: «Seid ihr euch eigentlich bewusst, was hier gerade abläuft?» Da kommt dann halt vielleicht auch mal eine schroffe Antwort zurück. Ganz wichtig zudem: Man muss Verbündete suchen, und zwar am besten bereits vor der Sitzung.

Hatten Sie ein Coaching, um diese verschiedenen Strategien zu entwickeln, oder haben Sie sich diese selber angeeignet?
Bei den verschiedenen Führungspositionen, die ich innehatte, liess ich mich zunächst stets von einem Coach begleiten. Das empfehle ich nicht nur Frauen, sondern auch Männern. Führungsarbeit ist auch Arbeit an der eigenen Persönlichkeit.

In einem Interview mit der «Rundschau» sagten Sie, dass Sie verletzlich bleiben wollen. Das ist mutig. Aber können Sie sich das in Ihrer Position leisten?
Unbedingt. (Sie überlegt) Eine Verletzung kann im Moment, in dem sie passiert, schwierig sein. Aber danach kann sie auch Kraft geben.

Inwiefern?
Ich bin eine Kämpfernatur. Wenn ich verletzt werde, denke ich oft: Jetzt erst recht. Zudem arbeite ich in einem Departement, in dem es um Menschen geht: um minderjährige Flüchtlinge, Häftlinge, geschlagene Frauen. Ich will meine Sensibilität, meine Durchlässigkeit bewahren, auch wenn es manchmal schwierig ist. Das macht doch letztlich den Menschen aus.

Sommarugas Agenda für die Gleichberechtigung

1. Mehr Schutz für geschlagene Frauen:
Täglich rückt die Polizei in der Schweiz vierzig Mal wegen häuslicher Gewalt aus. Tendenz steigend. In den allermeisten Fällen sind die Opfer weiblich. 18 Frauen und ein Mann sind im Jahr 2016 getötet worden. Bundesrätin Sommaruga erarbeitete ein ganzes Paket an Massnahmen, um die Opfer von häuslicher Gewalt und Stalking künftig besser zu schützen. Neu sollen Opfer, die deswegen vor Gericht gehen, keine Gerichtskosten mehr zahlen. Die Beschuldigten würden zur Kasse gebeten. Weiter soll ein Strafverfahren nicht mehr allein auf Wunsch des Opfers eingestellt werden können. Damit will man verhindern, dass Opfer auf Druck des Täters ihre Klagen zurückziehen. Die wichtigste Gesetzesänderung betrifft bei Stalking den Einsatz elektronischer Fuss- oder Armfesseln für Täter, um sie zu überwachen, nachdem ein Gericht sie mit einem Rayon- oder Kontaktverbot belegt hat.

2. Eine Frauenquote für Spitzenpositionen:
Lange hoffte man, der Markt werde es schon richten und die Frauen kämen von selber an die Spitze der Unternehmen. Doch (fast) nichts geschah. «Wir haben ausgerechnet, dass, wenn der Frauenanteil in den obersten Gremien weiterhin so langsam steigt, wir dann dort erst im Jahr 2150 gleich viele Frauen wie Männer haben werden», sagt Simonetta Sommaruga. «Das dauert uns zu lange.» Seit vier Jahren beschäftigt sie sich mit einer Frauenquote. Weil sie damit beim Bundesrat im ersten Anlauf nicht durchkam, musste sie den Vorschlag abschwächen. Man benutzt nun auch nicht mehr das Reizwort «Quote», sondern redet von «Richtwert». Angepeilt werden dreissig Prozent Frauen sommarugain Verwaltungsräten und zwanzig Prozent in Geschäftsleitungen börsenkotierter Unternehmen. Schafft ein Unternehmen diese Vorgabe nicht, dann gibt es keine Strafe. Es muss sich einzig in einem Bericht der Öffentlichkeit erklären.

3. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit:
Bundesrätin Sommaruga hat es am eigenen Leib erfahren: Als sie ihren ersten Job annahm, erhielt sie «massiv weniger» Lohn als ihr männlicher Vorgänger, der die gleichen Qualifikationen hatte. Im Schnitt verdienen Frauen in der Schweiz rund 18 Prozent weniger als Männer. Etwa zwei Fünftel dieser Differenz und damit im Schnitt rund 600 Franken im Monat sind laut einer statistischen Analyse nicht durch klar messbare Faktoren wie Ausbildung, Branche und berufliche Stellung zu erklären. Deshalb, so der Vorschlag des Bundesrats, sollen Unternehmen mit mindestens fünfzig Mitarbeitenden alle vier Jahre analysiert werden. Stellt man unerklärbare Unterschiede zwischen Frauen- und Männerlöhnen fest, muss das Unternehmen schriftlich Stellung nehmen. Ist ein Unternehmen börsenkotiert, muss es den Bericht veröffentlichen. Auch hier: Strafen gibt es keine. Als Nächstes wird das Parlament die Entwürfe zu häuslicher Gewalt, Frauenquote und Lohngleichheit diskutieren.

4. Väter sollen bei einer Scheidung nicht nur zahlen: 
Damit der Elternteil mit dem höheren Einkommen nicht in die Rolle des alleinigen Ernährers gezwängt wird, muss das Gericht die Möglichkeit einer alternierenden Obhut prüfen. Bei diesem Modell kommen beide Elternteile für die Pflege und Betreuung des Kindes auf. Zudem sollen Kinder von unverheirateten Eltern rechtlich dem Nachwuchs von Verheirateten gleichgestellt werden.

Die Schweizer Macherinnen

annabelle feiert ihren 80. Geburtstag. Und was wäre das grösste Schweizer Frauenmagazin ohne die Frauen, die dieses Land geprägt und vorwärtsgebracht haben? Aus diesem Grund werden wir im Laufe des Jahres achtzig Frauen vorstellen, die heute Pionierarbeit leisten: «Schweizer Macherinnen».