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Ganz bei Trost: Was einem nach der Diagnose Krebs durch den Kopf geht

Zeitgeist

Ganz bei Trost: Was einem nach der Diagnose Krebs durch den Kopf geht

Lang war der Sensemann für Brigitte Zaugg ein problemloser Zeitgenosse. Angst – Todesangst – bekam die pensionierte annabelle-Mitarbeiterin (67) erst durch eine Krebsdiagnose. Zeit für ein paar Gedanken wider die Panik vor dem Unvermeidlichen.

Was war ich doch mein Leben lang für ein glückseliger Einfaltspinsel! Unbeschwerte Kindheitstage zwischen Kühen und Bergen in einem Clan von festfreudigen Walliser:innen, wilde Jugendjahre zwischen Uni, Studi-Jobs und Anti-AKW-Demos mit meiner WG-Clique, spannende Berufsjahrzehnte mit ordentlich bezahlten Redaktionsstellen, einträglichen Werbeaufträgen und brotlosen Ghostwritings – was wollte ich mehr? Die Welt war gross, und sie gehörte mir.

Glücklich sein

Mit dem Tod hatte ich es mein Leben lang nie so richtig. Und das, obwohl er mir bereits ein täglicher Begleiter war, noch bevor ich lesen und schreiben konnte. Der allabendliche Gang mit meiner Grossmutter und einer Kerze hinauf in die Kapelle unseres Weilers endete stets mit einem Mantra, das mir heute – zumindest hie und da – den Trost gibt, von dem ich nie geglaubt hätte, dass ich ihn dereinst selbst brauchen würde: «Gott», so lautete Grossmutters erlösendes Sprüchlein nach der nie enden wollenden Fünf-Wunden-Beterei, «Gott gäbe iisch alle ä glickhaftigi Nacht, zum Läbu und zum Stärbu!»

Wen wunderts, dass mein sonniges Gemüt in seiner ganzen Unbedarftheit daraus nur den einen Schluss ziehen konnte: Leben oder Sterben, das ist Hans was Heiri, wirklich wichtig ist nur, dass man dabei glücklich ist. Woher auch sollte ich wissen, wie ich mich fühlen würde, wenn der Tod in ferner, sehr, sehr ferner Zukunft unvermittelt an meine eigene Türe klopfen wird?

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«Ich, meine Seele, mein Geist und mein Körper – alles wird untergehen. Meine Energie aber wird auf ewig irgendwie da sein»

Brigitte Zaugg

Grossmutters Stossgebet

Vor zwei Jahren war es so weit. Als bösartiger Krebs maskiert hat er sich in meiner Lunge eingenistet, wo er allerdings dank der modernen Medizin vorerst noch gemütlich vor sich hin zu dösen scheint. Tagsüber jedenfalls. Nachts weckt er mich immer mal wieder und lässt mich nicht selten bis zum Morgengrauen wach liegen, dann drehen sich die Gedanken im Kreis und setzen eine Abwärtsspirale von Mutlosigkeit, Angst und Verzweiflung in Gang.

Wie nah ist das Ende? Wie lang bezahlt die Krankenkasse? Werde ich Schmerzen haben? Wie schlimm werde ich aussehen? Werden mich meine Lieben noch lieben? Was mache ich mit den Leichen im Keller meines Lebens? Kann ich alles rechtzeitig erledigen, was ich noch erledigen muss? Was muss ich überhaupt erledigen? Und was kommt danach? Licht? Dunkel? Nichts?

Bisher half in solchen Stunden manchmal Grossmutters Stossgebet, und ich schaffte es mit Gottes Hilfe, gutem Willen und etwas Geduld, mich mit Erinnerungen an Glücksmomente einzulullen. Meist aber scheint Gott gerade anderweitig beschäftigt, dann muss ich im Dunkel der Nacht selber schauen, wie ich wieder zum Schlafen komme. Natürlich könnte ich jetzt einfach das Licht einschalten und lesen. Nur: Verdrängt habe ich in meinem Leben auch so schon genug.

Das Universum tröstet

Trost finde ich inzwischen immer dann, wenn in meinem Kopf das Wissen über den Glauben siegt. Schluss mit Himmel, Hölle und Fegefeuer! Es lebe der Energieerhaltungssatz, den ich einst am Gymnasium bei Physiklehrer Saurer gelernt habe und in seiner Bedeutung zumindest ansatzweise zu erahnen glaube: Ich, meine Seele, mein Geist und mein Körper – alles wird untergehen. Meine Energie aber wird auf ewig irgendwie da sein. Was für ein schöner Gedanke!

Noch viel tröstlicher ist der Gedanke ans Weltall. Das ist vermutlich so riesig, dass ich darin ohnehin längst verschwunden bin. Wie man hört, soll unser Universum noch immer weiterwachsen, ja, es soll noch nicht mal das einzige seiner Art sein da draussen. Und trotzdem spiele ich darin eine Rolle. Eine winzig kleine Nebenrolle zwar. Doch als unzerstörbares Energiebündelchen im Verein mit all den anderen bereits verstorbenen Menschen, Tieren, Bäumen, Blumen, Gletschern und Seen bin ich jedenfalls nicht nichts. Sondern vielmehr eine wahrlich explosive Mischung, jederzeit bereit für einen neuen Urknall.

Von solch farbenfrohen Träumereien bis zum Wegdämmern ist es dann nur noch ein Katzensprung.

Die Welt ist eine Scheibe

Und so ist die Welt, in der ich derzeit noch lebe, heute zwar grösser denn je, mir aber gehört sie immer weniger. Was, wenn ich es mir genau überlege, ganz gut ist, denn ich möchte sie ja nicht mit mir in den Abgrund reissen. Das tun andere schon zur Genüge.

Ein letztes Wort noch zu meiner Grossmutter: Soweit ich mich erinnere, haben wir zwei uns ein einziges Mal gestritten. Ich hatte gerade in der Schule gelernt, dass die Erde rund ist und sich um die Sonne dreht. Sie aber blieb felsenfest überzeugt, die Welt sei eine Scheibe, über die der Herrgott als Schutzschirm das Firmament mit Sonne, Mond und Sternen aufgespannt habe. Gestorben ist sie mit 96 Jahren glücklich in den Armen ihrer Tochter – meiner Mutter – und in der Vorfreude auf eine gute Tasse Kaffee nach dem wohlverdienten Schläfchen.

Für alle, die es genau wissen möchten, hier der Energieerhaltungssatz des deutschen Physikers Hermann von Helmholtz (1821 – 1894): «Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden. Sie kann nur von einer Form in andere Formen umgewandelt oder von einem Körper auf andere Körper übertragen werden».

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