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Klimakrise: Darum sollten alle das Buch von Hannah Ritchie lesen

Zeitgeist

Klimakrise: Darum sollten alle das Buch von Hannah Ritchie lesen

Aus Angst vor einer frustrierenden Lektüre hätte Autorin Melanie Biedermann das Buch der Umweltwissenschafterin Hannah Ritchie gerne ignoriert. Am Ende las sie «Hoffnung für Verzweifelte» doch, lernte viel – und fand, woran sie kaum mehr glaubte.

«Bitte nicht.» Das war mein erster Gedanke, als ich den «Guardian»-Artikel von Wissenschafterin Hannah Ritchie sah. «I thought most of us were going to die from the climate crisis. I was wrong» stand im Titel. Mein zweiter Gedanke dazu: «Echt jetzt?» Immerhin ist die 31-jährige Schottin Senior Researcher im Programm für globale Entwicklung der Universität Oxford und Head of Research bei der Plattform Our World in Data. Will sie wirklich suggerieren: Alles halb so wild? Ich war gelinde gesagt stutzig.

Ein paar Tage später schickte mir mein Freund per Whatsapp einen Link: Hannah Ritchies «Guardian»-Artikel. «Find ich sehr interessant», schrieb er dazu. Weil er mich ja gut kennt, las ich ihn nun doch. Einen Tag später war Hannah Ritchies Buch auf dem Weg zu mir – kaum angekommen, klebte ich zwischen den Seiten. Es passierte nämlich etwas, das ich in Klimafragen nicht mehr recht für möglich hielt: Ich fühlte mich mit jeder neuen Information etwas leichter.

Ein Mythos nach dem anderen

Als hochdotierte Klimaexpertin widerspricht sie in ihrem Buch immer wieder dem, was uns in öffentlichen Klimaschutz-Debatten über Jahrzehnte gepredigt wurde. Das wirft natürlich Fragen auf. Und das ist perfekt. Man beginnt sich nämlich zu überlegen, wo diese Mythen herkommen.

Es ist ja eines der Hauptprobleme dieser Diskussionen: Niemand scheint mehr zu wissen, was man wirklich tun kann, und vor allem: tun muss, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Was hat Priorität? Was ist auch wirklich umsetzbar? Wo muss die Politik dahinter und was können wir als Bürger:innen und Konsument:innen tun?

Regional einkaufen ist nicht per se besser

Im Vergleich zur deutschen Fassung – «Hoffnung für Verzweifelte», auch dieser Titel hätte mich wohl nicht gepackt – deutet die englische Originalauflage «Not the End of the World» bereits im Umschlag an, dass hier mit allerlei Mythen aufgeräumt wird. Wortwörtlich.

An erster Stelle steht: «Regional zu essen, ist viel besser für die Umwelt.» Ritchie entgegnet: «Was wir essen, nicht wie weit die Lebensmittel gereist sind, macht den grössten Unterschied.» Wie ich bald lerne, tragen Transportwege tatsächlich nur etwa fünf Prozent zu den gesamten Treibhausgasemissionen von Lebensmitteln bei. Und diese fünf Prozent entfallen zudem fast ausschliesslich auf den Strassentransport, also auf die regionale und lokale Auslieferung.

Ein zweiter Mythos: «Palmöl muss um jeden Preis vermieden werden.» Ritchie schreibt: «Dieses supereffiziente Gewächs könnte uns dabei helfen, weitere Entwaldung zu vermeiden.» Es stellt sich heraus, dass es derzeit sogar schädlicher für das Klima wäre, komplett auf Palmöl zu verzichten, weil es in einigen Bereichen schlichtweg keine nachhaltigeren Alternativen gibt.

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«Die Welt war noch nie nachhaltig»

Hannah Ritchie

Im ersten Kapitel steckt Ritchie entsprechend erstmal das Feld ab – respektive, sie rollt es von hinten auf: «Die Welt war noch nie nachhaltig», schreibt sie.

1987 definierte die UN, dass eine Entwicklung als nachhaltig gelte, wenn sie «den Ansprüchen der Gegenwart gerecht wird, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen». Demnach soll das Wohl der Menschheit über Generationen hinweg gesichert werden, ohne die Ressourcen unseres Planeten auszubeuten.

Oder anders gesagt: Wir müssen das Wohl von Mensch und Umwelt in Balance bringen. Ritchie erklärt anhand historischer Datensätze, dass es uns Menschen im Schnitt besser gehe denn je; extreme Armut, Kindersterblichkeit oder Müttersterblichkeit seien heute etwa so tief wie nie zuvor.

Als erste Generation die richtigen Mittel

Unsere Umwelt hat für diese Fortschritte allerdings «zweifelsohne» einen hohen Preis bezahlt, betont Ritchie. Trotzdem ist sie überzeugt, dass wir, als erste Generation überhaupt, das Wissen und die Mittel dazu haben, das Leben auf der Erde für Mensch und Umwelt nachhaltig zu gestalten.

Im Kapitel «Luftverschmutzung» erklärt sie etwa, dass China, das Land mit den weltweit höchsten CO2-Emissionen, den Peak bereits hinter sich hat. Seit die Regierung 2014 – infolge eines Bürgeraufstands – den «Krieg gegen die Verschmutzung» ankündigte, sank die Schadstoffbelastung bis 2020 um 40 Prozent, in Peking sogar um 55 Prozent.

«Schätzungen zufolge hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung einer in Peking lebenden Person um 4,6 Jahre erhöht», schreibt Ritchie. Fortschritt sei laut Ritchie eindeutig möglich; schnell, wenn nötig, und auch dort, wo man ihn am wenigsten erwartet.

Kernkraft? Eine der sichersten Energiequellen überhaupt

Die Autorin argumentiert, dass wir beim Thema Luftverschmutzung noch viel zügiger vorankommen könnten: «Zu den grössten Trugschlüssen überhaupt gehört, dass Kernkraft unsicher sei. Tatsächlich ist sie eine der sichersten Energiequellen überhaupt.»

Als ich die Worte lese, will ich wieder sofort ein grosses Aber einwerfen – dann kommen die Zahlen: Die zwei grössten Atomunfälle unserer Zeit eingeschlossen, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011, seien «in der Geschichte der Kernenergie schätzungsweise einige Tausend Menschen gestorben».

Die Statistik sagt: «Öl ist über 600-mal tödlicher als Kernkraft und erneuerbare Energien.» Ich fühle mich ertappt: Ich hatte keine Ahnung. Meine Schätzung wäre sicher komplett anders ausgefallen.

Käse schneidet schlechter ab als Poulet

Ein Kapitel später – «Klimawandel» – werden meine Augen noch ein bisschen grösser. Der Grund ist erstmal weit weniger explosiv als die Kernkraftdebatte: Ich lese, dass Käse in der Klimabilanz schlechter abschneidet als Poulet. Ein Fakt, der mich als Person, die sich seit 25 Jahren vegetarisch ernährt, aber doch recht überrumpelt.

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«Milchprodukte sind bis heute meine grosse Schwäche»

In den letzten Jahren versuchte ich, des Klimas wegen im Alltag noch etwas mehr zu tun, möglichst vegan zu essen. Und das gelingt mir oft gut, aber Milchprodukte sind bis heute meine grosse Schwäche. Bisher dachte ich, dass die gelegentliche Portion Käse oder Joghurt in der Klimabilanz nicht allzu schwer wiegen kann. Sicherlich doch nicht schwerer als Fleisch?

Nun: Rindfleisch verursacht 50 kg CO2-Ausstoss pro 100 g Protein, «bis zu hundertmal mehr Emissionen als pflanzenbasierte Proteinquellen». Käse verursacht 10,8 kg CO2 pro 100 g Protein – und damit mehr als Poulet (5,7 kg) und Schwein (7,6 kg). Kuhmilch: 9,5 kg. Ich wusste zwar vom hohen Fussabdruck von Kühen, aber Milchprodukte waren für mich ein blinder Fleck. Ich ignorierte das Offensichtliche.

Eine Scheibe Speck, vier Streifen Hähnchen und ein Glas Milch pro Tag

Etwas Entwarnung gibt es beim hartnäckigen Reizthema, was wir heute aus moralischen Gründen denn überhaupt noch essen dürften: «In der Forschung schätzt man, dass wir unsere Emissionen aus der Lebensmittelproduktion halbieren könnten, wenn sich alle pflanzlicher ernähren würden», so Ritchie.

«Bei dieser pflanzenreichen Ernährung geht man nicht von einem vollkommenen Verzicht auf Fleisch und Milchprodukte aus. Sie umfasst das Äquivalent von einer Scheibe Speck, vier dünnen Streifen Hähnchen und einem Glas Milch pro Tag. Sie könnten auch alle paar Tage ein Ei und ein Fischfilet essen. Das ist viel weniger, als die meisten Menschen in reichen Ländern essen. Aber mehr als viele Menschen in ärmeren Ländern.»

Elektrofahrzeuge weitaus nachhaltiger

Die enormen Emissionen, die Rinderhaltung in der Lebensmittelproduktion verursacht, bleiben jedoch eines von zwei Problemen, für die Ritchie bisher keine tragbaren Lösungen nennen kann. Das zweite ist der Fernverkehr: Lasttransporte und Flugreisen.

Bei vielen anderen Themen finde ich Antworten und immer wieder werde ich eines Besseren belehrt. Etwa als ich erfahre, dass Elektrofahrzeuge tatsächlich weitaus nachhaltiger sind als Brennmotoren.

Weil E-Autos bereits nach zwei Jahren Laufzeit effizienter sind als Benziner. Weil wir «400- bis 500-mal weniger» Mineralien für kohlenstoffarme Technologien benötigen werden als für fossile Brennstoffe, darunter auch das in E-Auto-Batterien verwendete Lithium. Und weil dazu bei vielen dieser Mineralien die Möglichkeit des Recyclings besteht. Dass «natürlichere» und «ursprünglichere» Wege nicht per se die nachhaltigen sind, ist eine andere wichtige Lektion dieses Buchs.

Holzöfen viel schlimmer als Gas oder Strom

Als Beispiel nennt Ritchie unter anderem die heute wieder sehr beliebten Holzöfen und Cheminées: «Tatsächlich versuchen die ärmsten Menschen der Welt, von der Holzverbrennung wegzukommen. Wenn man drinnen Holz verbrennt, werden grosse Mengen an Schadstoffen ausgestossen, und es trägt auch zur Verschmutzung draussen bei. Viel schlimmer noch als Gas oder Strom.» Man erinnere sich daran, wie die reduzierte Luftverschmutzung sich auf die Lebenserwartung der Pekinger Bevölkerung auswirkte.

«Heimlich, still und leise über Schlagzeilen zu verzweifeln, hilft niemandem»

Letztlich entlarvt Ritchie in ihrem Buch auch ein massives Problem in der Art, wie wir Informationen aufbereiten und konsumieren – Stichwort: Sensationsgier. Oder wie sie treffend schreibt: «Negative Nachrichten verkaufen sich gut, positive gelegentlich auch. Neutrale Nachrichten tun das selten.»

Aber den Klimawandel zu erkennen, brauchte Zeit. Lösungen für diese Krise zu finden, wird ebenfalls Zeit benötigen, aber auch viel harte Arbeit und Analysen, die messerscharf und so neutral sind wie nur möglich. Fakten aufzudröseln, ist Teil davon, und Hannah Ritchie hat das für uns getan.

Keine zuverlässigen Voraussagen möglich

Ein Defizit hat ihr Buch trotzdem: Mit Statistiken lassen sich keine zuverlässigen Voraussagen machen. Ob etwa Kernkraft auch in hundert Jahren noch zu den sichersten Energiequellen zählen wird? Was passiert, wenn wir – wozu die Autorin ebenfalls rät – immer mehr CO2 in der Erde speichern? Reagiert die Politik mit den notwendigen Reglementierungen, die neben unserer Versorgungssicherheit auch die Gesundheit unseres Planeten, unserer Erde, unserer Ozeane und deren Biodiversität gewährleisten?

Trotzdem will ich «Not the End of the World», respektive: «Hoffnung für Verzweifelte», jeder Person, die sich mit der Klimakrise überfordert fühlt oder einfach mehr erfahren möchte, wärmstens empfehlen. Seit ich das Buch gelesen habe, fühle ich mich als Konsumentin und privat mit klaren Fakten gewappnet: Ich weiss im Alltag weitgehend, was die richtigen Entscheidungen fürs Klima sind.

Für die meisten Klimaprobleme gibt es tragbare Lösungen

Fast genauso wichtig: dass ich sie nicht ausnahmslos immer treffen kann und muss. Die vielleicht bedeutendste Erkenntnis: Wir müssen wieder mehr auf Grundlage ebensolcher Fakten diskutieren, und zwar gemeinsam. Heimlich, still und leise über Schlagzeilen zu verzweifeln, hilft niemandem. Sich gegenseitig Schlagzeilen an den Kopf zu werfen, schon gar nicht. Dabei schüren wir nur neue Mythen und arbeiten im schlimmsten Fall gegen diese eine Sache, die wir uns doch eigentlich alle wünschen: ein gutes und gesundes Leben.

Das Wissen ist da und der Weg ist geebnet. Hannah Ritchie zeigt, dass es für die meisten Klimaprobleme bereits tragbare Lösungsansätze gibt. Die Komplexität der Umsetzbarkeit bestreitet sie nicht, aber sie entscheidet sich dafür, sich auf die Chancen zu fokussieren. Das gibt am Ende auch mir etwas Hoffnung, dass dieses gute und gesunde Leben tatsächlich möglich ist. Und zwar nicht nur heute, nicht nur für mich, sondern auch morgen und für alle Generationen, die nach uns kommen.

Hannah Ritchie: «Hoffnung für Verzweifelte. Wie wir als erste Generation die Erde zu einem besseren Ort machen» (Original: «Not the End of the World: How We Can Be the First Generation to Build a Sustainable Planet») ist in deutscher Übersetzung von Marlene Fleissig beim Piper Verlag erschienen und kostet ca. 35 Franken

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