Werbung
Es lebe die weibliche Lust

Leben

Es lebe die weibliche Lust

  • Interview: Michèle Roten; Fotos: Jason Ashwood (4)

Der Schweizer Dokfilm «#Female Pleasure» kämpft für eine besondere Art der Gleichstellung – für jene unter der Gürtellinie. Wir trafen vier der fünf Protagonistinnen nach der Premiere am Filmfestival Locarno.

Es ist Hochsommer, so heiss, dass die Luft über der bestuhlten Piazza Grande flirrt wie in einem Western. Unser Sitzungsraum mit Blick auf den Platz der Plätze während des Filmfestivals Locarno ist nur unmassgeblich kühler, aber es könnte auch sein, dass dies der Energie der vier Frauen geschuldet ist, die gerade Platz genommen haben. Sie kommen von der Premiere des Dokfilms «#Female Pleasure», in dem sie Protagonistinnen sind, es gab eine nicht mehr enden wollende Standing Ovation, es gab Tränen, von Frauen wie Männern, und Tränen, weil es Tränen gab. Die Frauen sind erschöpft und euphorisiert und aufgewühlt; eine Stimmung, die ihre glamouröse Aufmachung wie das perfekte Accessoire ergänzt. Sie bestellen Wein und Bier und Essen mit einem Nachdruck, den nur das Absolvieren eines wichtigen Anlasses hervorruft.

Am Tisch sitzen: Leyla Hussein (38), Psychologin und Gründerin zweier Hilfsorganisationen für Frauen, die wie sie als kleine Mädchen beschnitten wurden – ein traumatisches Erlebnis, das Sex auch im Erwachsenenalter zu einem schwierigen Thema macht. Aufgewachsen in Somalia, lebt sie heute in London. Sie ist laut und lustig und immer im Zentrum des Gesprächs.

Die Deutsche Doris Wagner (34) war eine junge Nonne in einer katholischen Ordensgemeinschaft, als sie vom zwanzig Jahre älteren Hausvorsteher wiederholt vergewaltigt wurde. Sie schaffte den Ausstieg und kämpft nun für eine Veränderung im Umgang der Kirche mit Missbrauchsopfern. Sie ist verheiratet mit einem ehemaligen Priester, der aus Protest die Religionsgemeinschaft ebenfalls verliess, und hat einen Sohn. Doris spricht leise, aber mit einer Eindringlichkeit, der man sich nicht entziehen kann – jeder Satz hat Gewicht.

Vithika Yadav (37) gründete das indische Online-Sexualaufklärungsprojekt «Love Matters» – ein Skandal in einem Land, das zwar das Kamasutra erfunden hat, in dem aber nicht über Sexualität gesprochen wird. Übergriffe gegen junge Mädchen werden mit «Boys will be boys» abgetan, weibliche Lust und sexuelle Selbstbestimmung sind tabuisierte Themen. Ebenso skandalös ist, dass Vithika aus Liebe geheiratet hat – auch heute noch werden in Indien rund 95 Prozent der Ehen von den Eltern arrangiert. Vithika spricht schnell und mit einer Souveränität, die jeden Gesprächsbeitrag zum Mini-TED-Talk macht.

Die Japanerin Megumi Igarashi (46), bekannt unter dem Künstlernamen Rokudenashiko, lehnt sich auf gegen die Tatsache, dass die japanische Kultur männliche Potenz verherrlicht, aber alles, was mit weiblicher Sexualität zu tun hat, ignoriert und totschweigt. Ihre kleinen Vagina-Figürchen oder Vulva-Abdrücke, die zu bewohnten Szenerien werden, haben weltweit Fans, doch immer wieder werden Werke von ihr verboten oder zensiert. 2013 ruderte sie in einem ihrer eigenen Vulva nachempfundenen Kajak durch Tokio und teilte dessen 3D-Daten im Internet. Für diese Aktion sass Rokudenashiko 23 Tage in Untersuchungshaft und wurde wegen «Obszönität» angeklagt – bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu zwei Jahre Haft oder umgerechnet gut 20 000 Franken Strafe. Rokudenashiko kichert, wie nur Japanerinnen kichern können – im Gespräch oft zeitversetzt, weil eine Dolmetscherin für sie dabei ist.

annabelle: Das erste Mal Sex und das erste Mal, als Sex Spass gemacht hat – was hat sich dazwischen geändert?
Leyla Hussein: Bei meinem ersten Mal war ich 19. Meine Mutter ist sehr konservativ, aber lustigerweise nicht, wenn es um Sex geht. Sie hat gesagt, es sei toll, wir würden uns grossartig fühlen. Aber sie begrenzte das ganz explizit auf Sex mit dem Ehemann. Deshalb macht sie sich jetzt auch Sorgen, dass ich nicht genug Sex habe, weil ich ja nicht mehr verheiratet bin. (Alle lachen) Jedenfalls fand ich das erste Mal ziemlich toll, aber ich hatte ja keinen Vergleich. Richtig guten Sex hatte ich dann mit 26 das erste Mal. Er war ein Mann, der mich und meine Geschichte gut kannte, ein sehr guter Freund – mit sehr guten Benefits. Er hat mir eigentlich beigebracht, wie Sex geht. Er nahm sich Zeit und wollte wirklich, dass es mir Spass macht, das war das erste Mal, dass mein Vergnügen im Fokus stand. Und seither würde ich nie mehr mit jemandem schlafen, für den das nicht zählt. Der Gedanke allein deprimiert mich.

Vithika Yadav: Alles, was ich über Sex wusste, hatte ich aus Bollywood-Filmen. Also wusste ich eigentlich nur, dass es da etwas gibt, was passiert, aber dieses Etwas ist etwas, über das man nicht spricht. Mein erstes Mal war mit meinem Mann, damals noch mein Freund. Ich war schon Mitte zwanzig, ich brauchte sehr lange, um mich mit meinem Körper wohlzufühlen. Und das war eigentlich auch etwas Gutes; zu sehen, wie geduldig er war. Das erste Mal ging es dann auch wirklich nur um mich. Er hat mich auf eine Reise mitgenommen zu den schönsten Gefühlen meines Körpers.

Leyla Hussein: Guter Mann.

Vithika Yadav: Und das hat er jetzt davon: Ich initiiere ständig. Neun Male von zehn bin ich es, die ihm Avancen macht.

Leyla Hussein: Das war ein einschneidender Moment, als ich erstmals den Sex initiiert habe – mein damaliger Ehemann war völlig schockiert. Ich hatte irgendwie vergessen, dass unser Haushalt anders funktioniert als die Gesellschaft um uns herum, dass man das bei uns als Frau einfach nicht tut. Ich wurde hart zurückgeworfen auf die Tatsache, dass das eine patriarchale Kultur ist, in der wir leben. Ich glaube, seither habe ich nie mehr Sex initiiert, das hat mich traumatisiert.

Bei Ihnen war es eine ganz andere Geschichte, Doris Wagner.
Doris Wagner: Ja, absolut. Ich würde eine Vergewaltigung nicht Sex nennen. Ich war zwar aufgeklärt im technischen Sinne, ich wusste, dass die körperliche Vereinigung nur innerhalb einer Ehe passieren soll, aber ansonsten hatte ich keine Ahnung. Ich hatte noch nie einen nackten Mann gesehen! Ich ging in den Konvent, auch deswegen, weil ich dachte: Dieser Mann, der so gut und rein ist, dass so etwas Unglaubliches wie Sex passieren kann, existiert nicht. Plus, ich schämte mich für meinen Körper, also war die Entscheidung, Nonne zu werden, auch eine Lösung für das Sex-Problem. So musste ich mich nie mehr damit beschäftigen. Ich war 24, als ich vergewaltigt wurde. Und es führte dazu, dass ich mich noch viel mehr für meinen Körper schämte. Es ist sehr schwer, geheilt zu werden von der Erfahrung einer Vergewaltigung, aber ich glaube, das Beste, was einem passieren kann, ist das, was ich erlebt habe: einen Mann zu finden, der einen liebt.

Es ist einer der bewegendsten Momente im Film von Barbara Miller, der Schweizer Regisseurin von «#Female Pleasure»: Doris Wagner erzählt vom simplen Vergnügen, mit jemandem aufzuwachen, jemandes Haar zu streicheln. Vielleicht, weil diese Szenen den Aspekt, der den Geschichten all dieser Frauen gemein ist, so trefflich illustrieren: Sie erzählen von ihrem Weg zu einem neuen Vertrauen – in die Gesellschaft, in die Gerechtigkeit und in die Legitimität ihrer Körper.

Leyla Hussein erlebte, wie die Menschen, denen sie am meisten vertraute – ihre Mutter, ihre Tanten –, es zuliessen, ja sogar ermöglichten, dass ihr unvorstellbare Schmerzen zugefügt wurden: Sie hielten sie fest, als Leyla als Kind beschnitten wurde.

Vithika Yadav litt als junges Mädchen unter den in Indien leider alltäglichen sexuellen Übergriffen von Männern, die dazu führten, dass sie ihren weiblichen Körper zu hassen begann.

Rokudenashiko findet sich wieder in der kafkaesken Situation, für die Darstellung weiblicher Genitalien rechtlich verfolgt zu werden – in einem Land, wo jährlich am ersten Sonntag im April am «Festival des stählernen Phallus», Männer, Frauen und Kinder fröhlich an bunten Glacé-Penissen lutschen zur Huldigung der Potenz.

Die fünfte Protagonistin, Deborah Feldman (32), konnte aus Termingründen nicht an der Premiere von «#Female Pleasure» teilnehmen und fehlte deshalb auch beim Interview. Der Film erzählt von ihrer Flucht aus der ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft der Satmarer Chassidim im New Yorker Stadtteil Williamsburg; eine Flucht aus einer Welt, in der ihr Körper verhüllt und versteckt werden musste und entweder «unrein» war oder zur Fortpflanzung zur Verfügung zu stehen hatte, und die Deborah Feldmann zu einer Freiheit führte, die immer noch ständig bedroht ist.

Und auch bei Doris Wagner zerfiel das ganze System. Allerdings war es eines, dem sie freiwillig ihr Leben überschrieben hatte, worauf sie sich alle Werte, Ziele und Regeln neu und selber erarbeiten musste – zum Glück mit der kolossalen Unterstützung von Liebe.

Doris Wagner: Ich lernte meinen Mann nur ein paar Monate nach der Vergewaltigung kennen, er war ein Priester im selben Konvent. Wir lernten zusammen, und ich fühlte, dass da etwas ist. Und weil ich vergewaltigt worden war, glaubte ich nicht mehr an die Regeln – denn wenn so etwas passieren kann, dann bedeuten Regeln überhaupt nichts. Also erlaubte ich mir festzustellen, dass ich in diesen Mann verliebt bin. Und dass das in Ordnung ist! Dass ich ein Recht habe, verliebt zu sein! Das war der Moment, als meine Persönlichkeit zurückkehrte, denn durch das Leben als Nonne wird dir alles genommen, was dich als Mensch ausmacht. Sex war lange Zeit überhaupt kein Thema, undenkbar. Erst Jahre später, als wir beide die Gemeinschaft verliessen, näherten wir uns einander körperlich an. Sehr, sehr, sehr langsam. Es half, dass er genauso unerfahren war wie ich. Wir entdeckten alles gemeinsam. Ich war 28, als ich meinen ersten Orgasmus hatte. Und ich dachte nur: nochmal, nochmal!

Rokudenashiko: Mein erstes Mal war ziemlich schlecht, aber ich tat so, als ob es toll wäre, weil ich so verliebt war in meinen Freund. Und weil man das tut in unserer Gesellschaft. In Japan ist es nicht mal erlaubt, das Wort für Vagina auszusprechen. Man will keine sexuell selbstbewussten Frauen sehen, deshalb sind wir auch völlig unterinformiert, was unseren eigenen Körper angeht. Erst, als ich mich für die Kunst mit der Vagina zu beschäftigen begann, entdeckte ich dieses Organ namens Klitoris. Vorher kannte ich nicht mal das Konzept der Selbstbefriedigung. Ich merkte zwar, dass da spezielle Gefühle sind, aber ich wusste nicht, dass man die verfolgen kann. Und ich brachte das nicht zusammen mit dem, was ich in Büchern las oder in Filmen sah. Ich war schon über dreissig, als ich das erste Mal masturbierte – und erst so lernte ich meinen Körper kennen und wie Sex auch für mich schön ist. Das erste Mal tollen Sex erlebte ich mit 38. Ich war mit dem Mann nicht zusammen, es war nur eine Affäre – und vielleicht war ich deswegen so auf den Sex fokussiert.

Was bedeutet Sex für Sie heute?
Leyla Hussein: Ich habe gelernt, dass Selbstbefriedigung und Sex zwei völlig unterschiedliche Dinge sind – und es ist kein Entweder-oder. Selbstbefriedigung ist Zeit, die ich mit mir selber verbringe, ich glaube, auch verheirateten Frauen tut es gut, Sex mit sich selber zu haben. Ich kenne viele, die der Meinung sind, Masturbation sei eine minderwertige Form von Sex, und das halte ich für sehr falsch.

Vithika Yadav: Sex ist für mich die beste Art, zu entspannen. Ich finde auch die Ausrede von Frauen, sie können keinen Sex haben, weil sie Kopfschmerzen hätten, ziemlich komisch – denn wahrscheinlich würde ein Orgasmus die Schmerzen beseitigen. (Alle lachen) Ich schaue immer, dass ich komme, dann sehen wir weiter. Sex macht mich sehr glücklich, gibt mir ein gutes Gefühl, gibt mir Selbstvertrauen.

Doris Wagner: Sex ist so normal, so natürlich. Es ist wie ein Glas Wein trinken. Einen guten Film schauen. Ein schönes Kleid kaufen. Im Konvent war uns all das verboten. Alles, was schön ist, was guttut. Und bei Sex geht es letztlich auch darum, sich stark zu fühlen, das Leben zu geniessen, sich mit sich selber zu verbinden, sich mit einem geliebten Menschen zu verbinden. Und jedes totalitäre System wird versuchen, das zu verhindern. Denn jemand, der sich stark fühlt und Freude empfindet, so jemand ist schwer zum Schweigen zu bringen.

Leyla Hussein: Ich glaube, Frauen, die guten Sex haben, sind bessere Menschen.

Sie rufen nun alle: «Frauen, habt Sex und holt euch euer Vergnügen.» Doch kreiert das nicht eine neue Norm, einen neuen Druck, nämlich, dass man als gesunde, normale Frau heute ständig Sex haben wollen muss?
Leyla Hussein: Es geht genau darum, dass es keine Norm gibt, sondern dass jede und jeder so Sex haben kann, wie es ihr oder ihm entspricht. Und dazu gehört es auch, keinen Sex zu wollen. Wie meine Mutter, die früher sehr gern Sex hatte – und heute einfach keinen Bock mehr hat: Die Hüften tun weh. Auch ich habe Tage, wo ich meine Libido irgendwo hinter dem Sofa suchen gehen müsste. Und das ist okay.

Vithika Yadav: Es kommt darauf an, an welchem Punkt man ist, gesellschaftlich – in Indien werden Frauen immer noch nicht als eigenständige sexuelle Wesen angesehen, deshalb ist es dort noch wichtig, dass wir das an- und aussprechen.

Leyla Hussein: Hey, I like to fuck! (Alle lachen)

Vithika Yadav: Genau! Aber in einen Zwang kippen sollte es natürlich nicht, das stimmt.

Sie hatten alle – aus verschiedenen, aber doch ähnlichen Gründen – Mühe damit, eine Frau zu sein. Haben Sie inzwischen Frieden geschlossen mit Ihrer Weiblichkeit?
Doris Wagner: Es ist sehr einfach, die eigene Weiblichkeit anzunehmen, sobald man versteht, dass niemand ausser einem selbst definiert, was Weiblichkeit ist. Solange man sich damit auseinandersetzt, was die Gesellschaft für Weiblichkeit hält, ist es hingegen sozusagen unmöglich.

Leyla Hussein: Ich bin eine schwarze Frau mit einem islamischen Namen – und ich würde nichts ändern wollen, aber es gibt Tage, da wäre es besser gewesen, nicht aus dem Haus zu gehen. Manchmal werde ich zum Sexobjekt, nur weil ich schwarz bin. Dann kommen Leute – auch Frauen! – und sagen: «Hey, twerk for us!» Ich war gerade in Marokko, dort wars nur noch absurd. Einer kam einfach an, zur Mittagszeit, ein Junge, 14 oder so, und sagte: «Gimme sex». Ein anderer: «Black Shakira big tits», weil ich gerade blonde Zöpfe hatte! Er meinte das wohl als Kompliment, aber … – Es war einfach zu viel, irgendwann fürchtete ich tatsächlich auch um meine Sicherheit. Ich habe dort sogar zum ersten Mal seit Jahren wieder gekifft, einfach, um das alles zu verdrängen. Ich liebe es, eine Frau zu sein, aber manchmal ist es total scheisse. (Alle murmeln zustimmend)

Doris Wagner: Es geht darum, den Launen der Männer ausgesetzt zu sein. Das fühlt sich schrecklich an. In einem Park in Frankreich stand mal ein Mann hinter einem Baum, schaute mich an und masturbierte. Und ICH schämte mich! ICH! ER sollte sich schämen!

Alle diese Geschichten, Ihre Lebensgeschichten – mal ehrlich: Wie schwer ist es, Männer nicht zu hassen?
Leyla Hussein: Wir müssen differenzieren zwischen einzelnen Männern und einem von Männern erschaffenen System, das zum Zweck hat, Frauen zu kontrollieren. Aber ganz ehrlich, in Marokko habe ich auch zeitweise einfach Männer grundsätzlich das Letzte gefunden. Ich musste mich selber daran erinnern, dass es auch tolle Männer gibt.

Vithika Yadav: Ich hasse nicht … alle Männer. (Alle lachen) Aber es gibt welche darunter, die mehr als Hass verdienen. Ich versuche, meinen Sohn so zu erziehen, dass er von allen Menschen auf der Welt geliebt wird, von Frauen wie Männern. DORIS WAGNER: Mir geht es vor allem darum, wer das System unterstützt und wer nicht. Im Konvent gibt es zum Beispiel diese ganz bestimmte Sorte der weiblichen Vorsteherinnen, die davon profitieren, jüngere Frauen zu unterdrücken, und ich glaube, solche gibt es in jedem System. Mit denen habe ich am allermeisten Mühe, die machen mich wütender als viele der Männer.

Leyla Hussein: Und wir wissen ja, warum sie tun, was sie tun: weil es die einzige Art der Macht ist, die sie haben. In meiner Kultur gibt es die auch, und man denke an ihre Geschichte: beschnitten mit sieben, zwangsverheiratet, ein paar Mal vergewaltigt. Und dann haben sie plötzlich die Chance, irgendetwas oder jemanden zu kontrollieren, und das sind dann halt die jüngeren Frauen. Es ist schrecklich: Es sind Frauen, die das Patriarchat beschützen. Soldatinnen des Systems.

Rokudenashiko: In Japan gibt es ja immer wieder Probleme in den vollgepackten Zügen, wo dann Männer Frauen betatschen, deshalb wurden jetzt Frauenabteile eingerichtet. Aber in denen gibt es auch wieder Probleme, denn die sind auch vollgepackt, und die stärkeren, grösseren Frauen schubsen die schwächeren herum! Selbst da hat sich wieder eine Hierarchie entwickelt. Man wiederholt, was man kennt.

Leyla Hussein: In Somalia gibt es dieses Sprichwort: Du lernst etwas und machst es auch, einfach viel besser. Vielleicht ist es das: Wir Frauen lernen, wie Patriarchat funktioniert, und fügen dann unser eigenes Je-ne-sais-quoi dazu, das oft noch viel schlimmer ist als die ursprüngliche Version. Deshalb werden Frauen wie wir oft am fiesesten von anderen Frauen angegriffen. Weil die denken: Shit, sie lebt das Leben, das ich gerne geführt hätte.

Vithika Yadav: Nach dem Motto: Warum sollten es die anderen besser haben als ich?

Wann wurde Ihnen klar, dass Sie kämpfen werden?
Leyla Hussein: Als ein weibliches Baby aus meiner Vagina kam. Und ich wusste, dass die Welt, so wie sie war, nicht gut genug ist für sie.

Doris Wagner: Nachdem ich den Konvent verlassen hatte, wurde mir erst bewusst, dass das nicht nur mir passiert ist. Wie viele andere Nonnen ebenfalls vergewaltigt wurden von Priestern oder von anderen Nonnen – denn auch das gibt es. Plötzlich wurde mir klar, warum eine meiner Mitschwestern von einem Tag auf den anderen so gezittert hat – das ist ein Symptom von posttraumatischer Störung. Mir wurde klar, wie ausserordentlich viel Glück ich hatte. Mich in einen wundervollen Mann zu verlieben, der mich auch liebt. Zu entdecken, wie schön das Leben sein kann.

Rokudenashiko: Eigentlich fing ich an, Vagina- Kunst zu machen, um meine Freunde zum Lachen zu bringen. Aber es gab so viele und extreme Reaktionen, dass ich darüber nachzudenken begann, was die Vagina und weibliche Sexualität in unserer Gesellschaft genau bedeuten. Und das machte mich dann so wütend, dass ich den Kampf aufgenommen habe.

Welche Tendenzen der Gegenwart machen Ihnen am meisten Sorgen?
Vithika Yadav: Google und Facebook. Für unsere Arbeit brauchen wir diese öffentlichen Plattformen, und da erleben wir eine unglaubliche Diskriminierung. Es wurde noch nie einer unserer Artikel, wo es um den Penis ging, vom Netz genommen, aber Beiträge zu weiblichen Themen werden ständig geblockt. Gerade neulich ein Artikel über Ausfluss oder einer über Gewalt in der Beziehung. Das sind irgendwelche Männer, die in Meetings sitzen und diese verblödeten Policies entwerfen, «zu unserem Schutz», und uns dann vorschlagen, eigene Seiten zu machen für «unsere Belange», was kompletter Bullshit ist. Wir sind keine Randgruppe! Mit der Regierung hatten wir noch nie irgendwelche Probleme, aber unsere Website wurde von Google schon fünfmal vom Netz genommen und meine private Facebook-Seite auch schon zigmal. Also würde ich sagen: Die Art, wie Frauen und Frauenthemen online behandelt werden, ist ein grosses Thema.

Leyla Hussein: Ein riesiges Thema. Ich bekomme auf Facebook Kommentare wie «Ich will deine verstümmelte Vagina vergewaltigen» – da wird überhaupt nichts moderiert. Wir brauchen diese Plattformen, aber wir sind nicht sicher auf ihnen.

Rokudenashiko: Mein Kampf hat auch viel mit dem Internet zu tun – das Gericht befand bei der Befragung ja genau genommen nur das Teilen der 3D-Daten meiner eigenen Vagina als obszön.

Leyla Hussein: Ich komme echt nicht darüber hinweg, dass du in einem Land, das ein Penisfestival feiert, ins Gefängnis musstest, weil du Kunst mit Vaginas machst. Das bekomme ich nicht in meinen Kopf.

Vithika Yadav: Es ist das letzte Argument, um Menschen, die behaupten, wir lebten in einer gleichberechtigten Welt, zum Schweigen zu bringen: Rokudenashiko musste ins Gefängnis wegen ihrer Vagina!

Doris Wagner: Ich glaube, all das – und dazu gehört auch ein Donald Trump zum Beispiel –, das ist der letzte grosse Kampf, das letzte grosse Aufbäumen der alten Ordnung. Aber: Wir sind so stark, wir sind so viele, ich glaube so fest, dass die Weichen gestellt sind, dass wir siegen werden. Dass wir auf dem Weg sind zu einer gerechten Welt.

Darum gehts in «#Female Pleasure»

Der Dokumentarfilm begleitet fünf kluge, mutige Protagonistinnen aus den verschiedensten Kulturen in ihrem Kampf gegen die intimsten und perfidesten Mechanismen des Patriarchats. Regisseurin von «#Female Pleasure» ist die Schweizerin Barbara Miller. Bekannt ist die 48-Jährige vor allem durch ihren preisgekrönten Dokumentarfilm «Forbidden Voices». Mit den Recherchen zu ihrem aktuellen Film hat sie vor fast fünf Jahren begonnen. Angesprochen auf die Dringlichkeit des darin behandelten Stoffs, meint Miller: «Es ist höchste Zeit, dass ein selbstbestimmter Umgang der Frauen weltweit mit dem Frausein, mit ihrem Körper und mit ihrer Sexualität Realität wird. Und dass ein partnerschaftliches, lustvolles Miteinander der Geschlechter endlich zur natürlichsten Sache der Welt wird.»

#Female Pleasure» läuft ab dem 15. November in den Schweizer Kinos.

Werbung

1.

«Das war ein einschneidender Moment, als ich das erste Mal den Sex initiiert habe – mein Ehemann war völlig schockiert»

 

– Leyla Hussein

2.

«Mein erstes Mal war ziemlich schlecht, aber ich tat so, als ob es toll wäre, weil ich so verliebt war in meinen Freund. Und weil man das tut in unserer Gesellschaft»

 

– Rokudenashiko

3.

«Sex ist so normal, so natürlich. Es ist wie ein Glas Wein trinken. Einen guten Film schauen. Ein schönes Kleid kaufen»

 

– Doris Wagner

4.

«In Indien werden Frauen noch immer nicht als eigenständige sexuelle Wesen angesehen, deshalb ist es dort noch wichtig, dass wir das an- und aussprechen»

 

– Vithika Yadav

5.

«Es ist höchste Zeit, dass ein selbstbestimmter Umgang der Frauen weltweit mit dem Frausein, mit ihrem Körper und mit ihrer Sexualität Realität wird. Und dass ein partnerschaftliches, lustvolles Miteinander der Geschlechter endlich zur natürlichsten Sache der Welt wird.»

 

– Regisseurin Barbara Miller