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Intimacy Coordinator: So arbeitet eine Sex-Szenen-Aufpasserin

Liebe & Sex 

Intimacy Coordinator: So arbeitet eine Sex-Szenen-Aufpasserin

  • Text: Sarah Lau, Fotos: Dukas/Scope

#MeToo hat Hollywood ein neues Berufsbild beschert: Aufpasserin bei Sex-Szenen. Amanda Blumenthal über ihren Job als Intimacy Coordinator.

Als Emily Meade die Zusage für eine Rolle in der Fernsehserie «The Deuce» bekam, dauerte es nicht lang, bis sich eine gewisse Nervosität in ihr ausbreitete. Immerhin würde sie einen Pornostar spielen und Woche um Woche ohne grosse Anleitung Sexszenen aller Art drehen. «Selbst wenn der Geschlechtsverkehr nur simuliert ist, sind diese Szenen sehr körperlich. Man hat den Mund des anderen auf seinen Lippen und manchmal auch sehr dicht an seiner Vagina», so die 31-Jährige. Ermutigt durch die #MeToo-Bewegung bat Meade um professionelle Unterstützung. So kommt es, dass der Sender HBO seinen Schauspielerinnen und Schauspielern seit 2018 Intimacy Coordinators zur Seite stellt.

So jemanden hätte wohl auch die damals 19-jährige Maria Schneider brauchen können, als ihr 1972 für den Film «Der letzte Tango in Paris» Grenzerfahrungen zugemutet wurden – ungeachtet der traumatischen Folgen. Bernardo Bertolucci liess Maria Schneider von Marlon Brando vor der Kamera anal vergewaltigen – mit einem Stück Butter als Gleitmittel. Zwar war die Penetration bloss simuliert, doch wurde die Missbrauchsszene ohne das Einverständnis der jungen Hauptdarstellerin gedreht. «Ich wollte, dass Maria es fühlt, statt zu schauspielern, ich wollte die Wut und die Entwürdigung», lautete Bertoluccis Begründung. Schneider, die in der Szene bäuchlings auf dem Fussboden liegt und weint, sagte später: «Ich habe mich vergewaltigt gefühlt.»

Auch dem französischen Regisseur Abdellatif Kechiche – jüngst wegen sexueller Nötigung angeklagt – wurde von seinen Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos vorgeworfen, die Grenzen überschritten zu haben. Beim Dreh zu «Blau ist eine warme Farbe» habe er sie zehn Tage lang angetrieben, die intensiven lesbischen Sexszenen immer und immer wieder zu wiederholen. «Schrecklich», kommentierte Léa Seydoux die Dreharbeiten. Nie wieder werde sie mit Kechiche arbeiten.

So weit wird es an keinem Set kommen, an dem Amanda Blumenthal arbeitet. Die 27-Jährige begleitet seit letztem Jahr als Intimacy Coordinator in den USA und Grossbritannien Serien wie «Euphoria», «The L-Word» und «The Affair». Sie sei als Sex- und Beziehungscoach tätig gewesen, als sie von der Stellenanzeige bei HBO hörte, erzählt die Kalifornierin am Telefon. «Rückblickend finde ich es lustig, dass ich beim Vorstellungsgespräch überhaupt nicht nervös war. Ich soll über Sex sprechen? Easy, das mache ich doch eh den ganzen Tag!» Extremsituationen wie bei Bertolucci oder Kechiche seien ihr noch an keinem Set untergekommen, aber als Tochter von Eltern, die beide in der Filmbranche arbeiten, habe sie schon als Teenager von «der ganzen Scheisse gehört, die bei erotischen Szenen so passiert».

annabelle: Was genau macht eigentlich ein Intimacy Coordinator? Denkt er sich Choreografien für Liebesszenen aus – das Timing beim Brustwarzenlecken, die genaue Position der Hände auf dem fremden Körper?
Amanda Blumenthal: Nein, ich choreografiere keine Szenen. Ich setze lieber aufs Gespräch. Zunächst kläre ich ab, wo die persönlichen Grenzen der Schauspielerinnen und Schauspieler liegen. Jeder von uns hat ja Dinge, die er auf keinen Fall zeigen will, oder Stellen, an denen er nicht angefasst werden mag.

Was, wenn diese persönlichen Grenzen den Vorstel-lungen des Regisseurs im Weg stehen?
Vorausgesetzt, der Regisseur verlangt nichts Extremes, versuche ich, die Schauspielerinnen und Schauspieler zu beruhigen und ihnen die Ängste zu nehmen. Den meisten ist es ja anzusehen, wenn sie sich nicht wohlfühlen in ihrer Haut. Falls es mir gelingt, sie zu entspannen, können sie sich voll und ganz auf die Schauspielerei konzentrieren, zerbrechen sich zum Beispiel nicht mehr den Kopf darüber, ob ihr Szenenpartner oder ihre Szenenpartnerin es als übergriffig empfinden wird, wenn sie beispielsweise ihre Nippel berühren.

Würde es Ihren Job ohne #MeToo geben?
Vermutlich nicht. Die #MeToo-Debatte hat so vieles ins Rollen gebracht.

Ist Ihr Job eine Überreaktion darauf ?
Ich begegne zumindest immer noch Leuten, die das so sehen. Das sind oft Menschen, die bislang keine negativen Erfahrungen gemacht haben. Dazu kann ich nur sagen: Schön, wenn man seit vielen Jahren in dieser Branche arbeitet und nie etwas Schlimmes erlebt hat. Doch das geht leider nicht allen so.

Hören Sie viele Geschichten von Missbrauch am Set?
Allerdings, und es sind manchmal sehr extreme Geschichten: Von Regisseuren, die alle nachhause schicken, um ungestört die Hauptdarstellerin vergewaltigen zu können. Von Schauspielern, die während des Drehs backstage Sex haben. Von verbalen Entgleisungen nach dem Motto «Zeig mir deine Titten». Der Böse ist nicht immer der Regisseur, Übergriffe finden auch zwischen Setmitarbeitern oder Schauspielerkollegen statt.

In welchen Situationen mussten Sie eingreifen?
Wir hatten schon Sexszenen, für die ich mit einem Stunt Coordinator zusammenarbeitete. Irgendwann beschlossen wir beide, zum Regisseur zu gehen und den Dreh zu befristen, weil die Schauspielerinnen und Schauspieler physisch wie psychisch an ihre Grenzen kamen.

Stunts bei einer Liebeszene? Ich versuche mir gerade vorzustellen, wie jemand, der Sex hat, dabei auch noch durch einen brennenden Reifen springt …
(lacht) Wenn zwei Schauspieler Sex simulieren, und der Mann die Frau dabei im Stehen gegen eine Wand hochstemmen muss, betrachtet man das als einen Stunt. Selbst der stärkste Mann wird es nicht schaffen, das über sechs Stunden durchzuhalten. So lang dauert es nämlich im Schnitt, bis eine Liebesszene im Kasten ist, die dann auf der Leinwand bloss wenige Sekunden dauert. Also müssen wir vorher sehr bewusst die Positionen überdenken und überlegen, was wir den Darstellern physisch zumuten.

Sie haben mit vielen namhaften Schauspielerinnen zusammengearbeitet. Gibt es Schwierigkeiten, die allen gemeinsam sind?
Kaum jemand möchte den Mund des Kollegen auf den eigenen Brustwarzen spüren – das ist den meisten einfach zu intim. Ausserdem haben viele ein Problem damit, ihren Hintern auf der Leinwand zu sehen.

Was tun Sie in so einem Fall?
Manchmal reicht schon der Vorschlag, den Po nur im Profil zu zeigen. Wenn jeder seine Grenzen aufzeigen und seine Argumente darlegen kann, finden wir immer eine Lösung.

Haben Männer und Frauen mit unterschiedlichen Dingen Mühe?
Eigentlich nicht. Alle wollen sich wohlfühlen. Und wirklich alle wollen super aussehen. Es gibt höchstens eine Handvoll Schauspieler, die bei Sexszenen in erster Linie authentisch rüberkommen wollen, ungeachtet dessen, wie sie dabei aussehen. Die meisten haben Komplexe – genau wie wir Normalos.

Stossen Sie bei manchen Schauspielern auch auf Widerstände?
Ja, das hat mich anfangs überrascht. Vor allem Frauen über vierzig sind oft nicht sonderlich erfreut, mich am Set zu sehen.

Warum?
Sie kommen aus einer Generation, die viele, viele Jahre dafür kämpfen musste, respektvoll behandelt zu werden. Überlegen Sie mal, wie es noch vor zehn Jahren an Filmsets zuging. Gerade weil diese Frauen so bewusst für ihre Grenzen einstehen mussten, sehen Sie uns eher skeptisch, nach dem Motto: Ich brauche dich nicht und kann allein auf mich aufpassen.

Und die Männer? Akzeptieren sie Sie am Set?
Nicht immer, aber meistens. Seit #MeToo herrscht unter den Männern grosse Nervosität. Viele haben Angst, sich falsch zu benehmen. Sie erkennen meist, dass wir dazu da sind, ihnen unangenehme Diskussionen abzunehmen, zu klären, wer sich wo anfassen darf und wie genau man sich küsst. Es verleiht Sicherheit, so eine vermittelnde, neutrale Person mit an Bord zu haben.

 

«SEIT #METOO HERRSCHT UNTER
DEN MÄNNLICHEN SCHAUSPIELERN
GROSSE NERVOSITÄT. 
VIELE HABEN ANGST,
SICH FALSCH ZU BENEHMEN.»

 

Nicole Kidman hat offen darüber gesprochen, wie gedemütigt sie sich nach den gewaltsamen Sexszenen mit Alexander Skarsgård für «Big Little Lies» gefühlt hat. Ohne das relativieren zu wollen: Wie sieht es mit dem Seelenheil Skarsgårds aus, der in die Rolle des Aggressors schlüpfen musste? Kümmert sich auch je­mand um Männer wie ihn?
Das ist eine grossartige Frage, die viel zu selten gestellt wird. Ich habe mit vielen Männern gearbeitet, die in ihren Rollen sexuell gewalttätig geworden sind und da­nach nachhaltig verstört waren. Männer sollten gene­rell viel stärker in diese ganze Diskussion mit einbezogen werden. Intensive Szenen zu drehen belastet alle Betei­ligten, auch die Crew, zum Beispiel den Tonassistenten, der ja auch immer und immer wieder die simulierten, gewalttätigen Sexszenen anschauen muss, stundenlang. Wir denken viel zu wenig über diese Menschen nach.

Kostüm­ und Maskenbildner basteln heute Scham­haarperücken, wie für Kate Winslet in «Der Vorleser», oder Vulva­Prothesen, wie für «Blau ist eine warme Farbe». Hat sich auch ihr Berufsbild durch die Anwe­senheit von Intimacy Coordinators geändert?
Die meisten Kostümbildner sind total erleichtert, dass es uns jetzt gibt. Es gehört nicht zu ihren Lieblingsauf­gaben, sich zu überlegen, wie sie die Geschlechtsteile der Schauspieler am besten verpacken oder verdecken können. Ausserdem waren sie bislang oft die Ansprech­partner, wenn ein Schauspieler oder eine Schauspiele­rin sich bedrängt fühlte, obwohl diese Rolle eigentlich nicht zu ihrem Job gehört.

Haben Sie so etwas wie ein Survival­-Kit mit am Set?
Auf jeden Fall. Unverzichtbar ist allem voran meine Yogamatte. Zerschnitten macht sie sich prima als Knie­schoner, wenn ein Schauspieler über Stunden Sexsze­nen auf den Knien drehen muss. Auch die Nipple Pads dürfen nicht fehlen, um Brustwarzen abzukleben, Ra­sierer, falls Haare an unerwünschten Stellen zu sehen sind. Und natürlich Unterwäsche in den verschiedens­ten Ausführungen, darunter auch Slips, die ohne Bünd­chen auskommen, Geschlechtsteile verdecken und geklebt werden können.

Warum gestehen wir Schauspielern bei gefährlichen oder brutalen Szenen ein Double zu, bei Liebesszenen aber nicht?
Die Ansicht, dass eine Sexszene spontan improvisiert sein muss, um auf der Leinwand die Chemie zwischen den Schauspielern glaubhaft rüberzubringen, ist unter Regisseuren noch immer weit verbreitet. In Wirklichkeit ist gar nichts spontan oder sexy. Sexszenen sind harte Arbeit, physisch und psychisch.

Täusche ich mich, oder werden die erotischen Sze­nen im Film immer expliziter?
Ich habe diesen Eindruck auch. Wir bekommen heute viel mehr zu sehen als noch vor ein paar Jahren. Das wird auch in meinen Gesprächen mit den Autoren deut­lich, sie möchten krassere Szenen zeigen, um den Cha­rakter ihrer Figuren deutlicher zu zeichnen und beim Zuschauer eine Gefühlsregung auszulösen. Mich stört das aber nicht, weil ich glaube, dass authentische Sex­szenen auf lange Sicht dazu beitragen können, die Scham bei den Zuschauern zu verringern. Vor allem, wenn es um Sex geht, den die Leute nicht oft auf der Leinwand zu sehen bekommen: zwei Frauen oder zwei Männer zusammen. Gruppensex. Oder Menschen, die etwas richtig Versautes machen.

Gibt es auch in der Porno ­Industrie Leute wie Sie, die als Intimacy Coordinator arbeiten?
Soviel ich weiss, nicht.

 

«JUNGE SCHAUSPIELERINNEN
BEKOMMEN IHREN ERSTEN
KUSS NICHT SELTEN WÄHREND
EINES DREHS.
WIR SIND DAFÜR DA,
DASS SIE DAMIT NICHT
ÜBERFORDERT SIND.»

Nur weil es dort um echten Sex geht, heisst das doch nicht, dass es keine sexuellen Übergriffe gibt.
Das stimmt. Spannend ist, dass immer mehr Musiker für ihre Videos Intimacy Coordinators einstellen – vor allem Rapper, in deren Videos die Frauen praktisch nichts anhaben und sexy tanzen.

Welche Herausforderungen gibt es bei der Arbeit mit Minderjährigen?
Bei den jüngeren Schauspielern kommt ein guter Teil Auf klärungsarbeit mit hinzu. Oft haben sie vorher noch nie eine Sex­ oder Nacktszene gedreht, und so kläre ich zunächst ab, ob sie überhaupt wissen, welche Mitspra­cherechte sie haben. Denn die haben sie.

Gibt es Schauspieler, die privat unerfahren sind, auf der Leinwand aber Dinge tun müssen, von denen sie eigentlich keine Ahnung haben?
Das passiert öfter, als Sie denken. Die jungen Schau­spieler bekommen ihren ersten Kuss nicht selten wäh­rend eines Drehs. Wir sind dafür da, dass sie damit nicht überfordert sind und dass der Kuss trotz Unerfahren­heit echt aussieht.