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Anna Rosenwasser: So wichtig sind Wahlfamilien für uns Queers

LGBTQIA+

Anna Rosenwasser: So wichtig sind Wahlfamilien für uns Queers

Biologische Familien können für viele queere Menschen Konflikte, Ausgrenzung und sogar Gewalt bergen. Umso sinnvoller ist es, die Familie bewusst zu wählen, schreibt Autorin Anna Rosenwasser.

Ich erinnere mich, wie ich mich an einem queeren Weihnachtsessen mal neben einen jungen Mann gesetzt habe, dessen lebendige Eleganz mir besonders gefiel. Wir assen gemeinsam mit allen anderen dieses kleine Festmahl wenige Tage vor Heiligabend. Als wir beim Dessert angelangt waren, zeigte mir der junge Mann – er war vielleicht noch nicht mal volljährig – seine angemalten Fingernägel, und seine Anmut brach dabei plötzlich etwas ein.

«Ich weiss noch nicht, ob ich sie fürs Familienfest wegmache», sagte er und meinte damit die Farbe auf seinen Nägeln, «als sie mich letztes Jahr gesehen haben, war ich noch nicht … so.» Er gestikulierte vage mit seinen farbigen Fingern, wies auf seine glitzernden Ohrringe, deutete auf sein schönes Outfit. Wenn er einfach sich selbst bleibe am Weihnachtsfest, erklärte er mir, riskiere er Ablehnung. Und wenn er sich so zurechtmache, wie es von ihm erwartet würde, sei er nicht mehr sich selbst.

Verstellen oder sich selbst sein?

So wie diesem jungen Menschen ergeht es vielen Queers dieser Tage: Entweder wir verstellen uns, um toleriert zu werden, oder wir sind uns selbst und erleben deswegen abschätzige Kommentare bis hin zu Ausschluss oder Gewalt. Für viele von uns ist es nicht mal ein Entweder-oder. Nicht alles ist so einfach wegzukriegen wie Nagellack.

Ein trans Mann, der in seinem Alltag endlich er selbst sein kann, muss an Weihnachten unter Umständen in eine Verwandtschaft zurück, die ihn bei seinem alten Frauennamen nennt. Eine lesbische Frau, die ihr Frausein zum Beispiel so lebt, dass sie endlich nie mehr ein Kleidchen anziehen muss, wird an Familienfesten vielleicht zu Rüschen und Make-up gezwungen.

Und wer diese beiden Beispiele für trivial hält, geniesst womöglich unbewusst das Privileg, noch nie aufgrund dieser Gendernormen ein Trauma erlebt zu haben.

Biologische Familie ist ein willkürliches, potenziell gefährliches Konstrukt

Blutsverwandtschaft, das ist für viele lesbische, schwule, bisexuelle und trans Menschen eine düstere Angelegenheit. Weil sie all die Traditionen und Konflikte birgt, die Queers wesentlich schaden können. Als Mensch, der zum Glück viele seiner Blutsverwandten gern hat, will ich erst recht klar konstatieren: biologische Familie, das ist ein willkürliches, potenziell gefährliches Konstrukt. Als würde Nähe automatisch entstehen, wenn Verwandtschaft gegeben ist! Verwandtschaft ist, als würde man miteinander in einem Lift stecken bleiben: Die Nähe ist recht zufällig. Wenn sie okay ist, ist das oft Glückssache.

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«Wer mag mich nicht trotz, sondern weil ich mich selbst bin?»

Viel sinnvoller – und im besten Falle lebenserhaltend – ist es, die Familie bewusst zu wählen: Wer tut mir gut? Wer liebt mich bedingungslos, auch dann, wenn ich mich verändere? Wer mag mich nicht trotz, sondern weil ich mich selbst bin? Die Menschen, die man anhand dieser Fragen um sich schart, können eine Wahlfamilie sein. (Auf Englisch auch «chosen family» genannt, «auserwählte Familie»).

Blutsverwandtschaft ist nicht deckungsgleich mit Nähe

Eine Wahlfamilie kann, muss aber nicht auf Verwandtschaft beruhen. Sie entsteht, weil eine Person Grenzen setzt bei Mitmenschen, die sie nicht respektvoll behandeln. Vielen Queers wird die Entscheidung, eine neue Familie zu suchen, jedoch eh abgenommen: Noch immer schmeissen manche Eltern ihr Kind raus, wenn es sich outet. Auch in der Schweiz.

Wahlfamilie ist also einerseits das Anerkennen davon, dass Blutsverwandtschaft nicht deckungsgleich ist mit Nähe. Andererseits ist es eine Rettung: ein Sich-selbst-und-andere-Retten; vor Ablehnung, vor tödlicher Tradition. Ein Retten hinein in die Formen von Liebe, die wir alle verdient haben. Mitsamt unserem Nagellack und unserem echten Namen.

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