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Anna Rosenwasser über US-Massaker: Ein Anschlag auf unsere grosse Familie

LGBTQIA+

Anna Rosenwasser über US-Massaker: Ein Anschlag auf unsere grosse Familie

Die feministische Autorin und LGBTQ-Expertin Anna Rosenwasser fordert in ihrem Kommentar, anzuerkennen, dass queerfeindliche Gewalt System hat.

Ich stehe in der Küche, aus einem qualitativ mittelmässigen Böxli läuft Lady Gaga, ich schneide Rotkohl und muss weinen. Ich weiss nicht, wo und wann ich sonst weinen soll darüber, dass eine Person in Colorado Springs fünf Leute in einem queeren Club umgebracht hat; mindestens 18 weitere wurden verletzt.

Dass nicht noch mehr Leute vor Ort starben, lag daran, dass die um sich schiessende Person von zwei Clubbesuchenden aufgehalten wurde: Von einer trans Frau, die mit ihren High Heels auf sie los ist, und einem nicht-queeren Familienvater, der vor laufender Kamera sagt, jeder Mensch in diesem Club sei seine Familie. Der etablierte Newssender CNN nennt diese beiden Menschen «heroisch». Mit Anführungszeichen. Ich frage mich, wie viele queere Leben eine Person retten muss, bis die Anführungszeichen wegfallen.

Die Tragik von US-amerikanischen Schiessereien lasse ich normalerweise nicht allzu fest an mich ran; ich kann mir einreden, dass das sehr wenig mit der Schweiz zu tun hat. Hier wurde noch kein queerer Club gestürmt. Oder?

Im Jahr 2015 wurde die Zürcher Schwulenbar «Les Garcons» angegriffen; 2020 Besuchende des queeren Clubs «Heaven» im Niederdorf. Letzten Juni stürmten Neonazis in Zürich den Pride-Gottesdienst. Und vor einigen Wochen attackierten Angehörige derselben Neonazi-Gruppe die «Drag Story Time», einen Anlass für Kinder im Zürcher Tanzhaus. Das sind bloss diejenigen Angriffe, die sich googlen lassen. In der Schweiz werden Hassdelikte gegen queere Personen noch immer nicht von offizieller Stelle erfasst.

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«Wir müssen aufhören, so zu tun, als wäre queer- und spezifisch transfeindliche Gewalt ein Problem von Einzeltäter:innen»

Eine Einordnung des Anschlags in Colorado Springs ist wichtig: Er geschah wenige Minuten vor dem Beginn des Transgender Day of Remembrance, dem Gedenktag von Opfern transfeindlicher Gewalt, zu dem es auch vereinzelt in der Schweiz kleine Anlässe gab. Am Vormittag dieses Tages hätte im Club ein Drag-Anlass für alle Altersklassen stattfinden sollen.

Dass trans Menschen und Drag Performer:innen nicht nur existieren, sondern queere Existenzen seit Jahrzehnten radikal verteidigen, bedroht traditionelle, unterdrückende Strukturen. Diese Bedrohung ist ungleich grösser als wir cis Homos, die heiraten. Die eigene Identität selbstbestimmt leben können, ausbrechen aus den toxischen Erwartungen an Mann und Frau – das wirft das Patriarchat aus der Bahn.

Kaum Events, die nur ansatzweise safe sind

Mittlerweile kursieren die Namen und Fotos der fünf Todesopfer. Mir geht es gleich wie dem Mann, der mitgeholfen hat, den Mörder zu stoppen: Es fühlt sich an, als wäre jede Person in diesem fernen Club Teil meiner Familie. Als wäre ich mit ihnen letzten Freitag Schlange gestanden für die Garderobe, als hätten wir gemeinsam mitgesungen zu «Born This Way», als hätten wir uns kurz zugenickt, weil wir so oft an den gleichen Anlässen sind, dass wir uns einfach bekannt vorkommen. Weil es für viele von uns, speziell für trans Menschen, wenige Events gibt, die auch nur ansatzweise safe sind.

Macht euch nichts vor: Dass trans Menschen einen eigenen Gedenktag haben, passiert nicht losgelöst davon, dass ein scheidender Bundesrat ungestraft transfeindliche Aussagen streuen kann. Dass die «Drag Story Time» angegriffen wurde, steht im direkten Zusammenhang mit einer hasserfüllten Berichterstattung eines rechten Wochenblatts. Diese Angriffe werden von der grössten Partei des Landes unterstützt, die dieselbe hasserfüllte Rhetorik verwendet. Wir müssen aufhören, so zu tun, als wäre queer- und spezifisch transfeindliche Gewalt ein Problem von Einzeltäter:innen. Und anerkennen, dass diese Gewalt System hat.

Ich will mir nicht gemüseschnippelnd die Frage stellen müssen, wo ich angemessen trauern kann. Ich will wissen, dass wir alle – spezifisch Menschen, die nicht trans und nicht queer sind – endlich Widerstand leisten, damit es weniger Anlass zur Trauer gibt. Und mehr Anlass, gemeinsam unsere Existenzen zu feiern.

 

 

Nachtrag: Dieser Artikel wurde veröffentlicht, als alle Quellen von einem cis-männlichen Täter ausgingen. Mittlerweile hat sich die Person als nonbinär geoutet.

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