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Buchkritik zu «Pageboy» von Elliot Page: Wenn es weh tut, lohnt es sich manchmal doch

LGBTQIA+

Buchkritik zu «Pageboy» von Elliot Page: Wenn es weh tut, lohnt es sich manchmal doch

Der kanadische Schauspieler Elliot Page erzählt in seiner Biografie «Pageboy» sehr offen vom Missbrauch, den er erst als Frau, später als queere und trans Person in Hollywood und privat erlebte. Eine Buchkritik zu einer Geschichte, die kein Einzelfall ist.

Inhaltshinweis: Selbstverletzung, Gewalt

 

Ich hätte das Buch beinahe zurück auf den Stapel gelegt. Nach etwa einem Drittel der 336 Seiten wurde es mir schier zu viel. Ich konnte die Depression, die Elliot Page beschrieb, spüren und hatte keine Zweifel mehr, wie schwer sie bei ihm gewogen haben muss. Doch die Bestsellerlisten der letzten Wochen sprechen eine deutliche Sprache: «Pageboy» rangiert von «New York Times» bis «Spiegel». Also las ich weiter.

Oberflächlich betrachtet gleicht die Geschichte des kanadischen Schauspielers, der seit Mitte der 2000er mit Filmen wie «X-Men», der Oscar-nominierten Leistung im Indie-Film «Juno» und später Blockbustern wie «Inception» weltweit über die Filmbranche hinaus bekannt ist, einer klassischen Hollywood-Tragödie: Kinderdarsteller wird zu früh ins System gespeist, es fehlt ihm Schutz, Missbrauch hingegen ist allgegenwärtig.

Innerer Kampf

Und ja, es geht in diesem Buch auch um Hollywood, im Kern dreht es sich aber doch um ein anderes Thema: Page outete sich 2014 als queer, im Dezember 2020 schliesslich als trans Mann. Seit er denken kann, litt der inzwischen 36-Jährige an Geschlechtsdysphorie. Im Buch erfährt man, wie dieser innere Kampf alles potenziert, was er erlebte. Die Scham, den Selbsthass, das zermürbende Versteckspiel, um sich Hollywood- und gesellschaftlichen Normen zu fügen.

Pages Erzählungen schaffen schnell Empathie, aber gerade in jenem ersten Teil des Buchs braucht es überraschend viel Energie, den Bezug aufrechtzuerhalten. Zum einen springt er in den Kapiteln quer durch sein Leben. Dazu kommt, dass seine Sprache sehr direkt, manchmal fast flapsig, fast immer explizit ist. Wie er von Schmerz, Sex und Gewalt spricht, dürfte einigen Leser:innen durchaus zu explizit sein. Aber diese Sprache dient einem Zweck: der direkten Vermittlung. Immerhin weiss der Grossteil der Gesellschaft schlichtweg nicht, wie es sich anfühlt, in unserer Welt in einem trans Körper zu existieren.

«Wie eine penetrante Stimme im Hinterkopf»

«Es ist schwer zu erklären, wie sich Geschlechtsdysphorie anfühlt. Wie eine penetrante Stimme in deinem Hinterkopf, von der du annimmst, dass alle anderen sie auch hören, was sie aber nicht tun», schreibt Page im Buch. Weiter: «Mit elf hatte ich zum letzten Mal das Gefühl, wirklich in meinem Körper zu sein, nicht in der Schwebe, in einem Übergangszustand, geprägt von dem verzweifelten Verlangen, in ihn zurückzukehren. In gewisser Weise war es ein Abschied, der Weg in eine falsche Identität mit Tarnpanzer, eine Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm.»

Je älter er wurde, desto mehr wurde die Weiblichkeit von seinem Umfeld und der Gesellschaft eingefordert. Pages innere Zerrissenheit liess seinen Körper oft natürlich rebellieren – auch hiervon berichtet er detailliert und manchmal tragikomisch. Er reagierte aber auch aktiv darauf, schlitterte in die Magersucht und in schwere Depressionen, bis er sich eines Tages selber grün und blau schlug.

Sein Privileg ist eine Ausnahme

Manchmal liest man fast ungläubig mit, fühlt sich ironischerweise fast wie im Film, weil die Wucht der Ereignisse so bleiern wiegt. Doch je tiefer man ins Buch eintaucht, desto deutlicher wird auch: Eine Geschichte wie die von Elliot Page ist kein Einzelfall. Sein Privileg ist eine Ausnahme, die er im Buch so explizit wie alle anderen Details betont.

Neben den finanziellen Mitteln und der Therapie, die ihm einst eine empathische Agentin verordnet hatte, betont er aber auch, wie sehr ihm Vorbilder und Wahlfamilien halfen. Diese standen ihm schliesslich dabei bei, jenen Tarnpanzer einer auferlegten, in seinem Fall weiblichen Identität zu knacken. «Ohne sie wäre ich nicht hier», schreibt Page über eine enge Vertraute. Man nimmt ihn beim Wort.

Sichtbarkeit schaffen

Es ist womöglich die grösste Stärke des Buchs: Elliot Page gelingt es in «Pageboy», mit seinen Erzählungen Bilder und Realitäten zu schaffen und die Mechanismen hinter Scham, Selbsthass und Depression aufzuzeigen. Die schiere Masse an sexualisierter, physischer und emotionaler Gewalt, die er schildert, macht aber auch unmissverständlich klar, wie zermürbend dieses Sichtbarmachen für queere und insbesondere trans Personen tagtäglich ist.

In den letzten Kapiteln führt uns Page schliesslich in die Gegenwart. Man liest von seinen geschlechterangleichenden Operationen – einmal mehr sehr bildlich. Seine neuen Nippel beschreibt er etwa als «kleine, nicht wiederzuerkennende Blutblasen, jedes Mal dachte ich, ich hätte etwas falsch gemacht.» Doch man spürt, dass die Gefühle, die danach kamen, weit nachhaltiger sind: «Mein Handy füllte sich mit Fotos von meiner flachen Brust, neuen Kameraperspektiven, diesem Lächeln.»

Glücklicher denn je

Er sei glücklicher denn je, gleichzeitig stehen alle Zeichen auf Anfang: «Nach meinem ersten Coming-out 2014 glaubte mir die grosse Mehrheit noch, ich wurde nicht nach Beweisen gefragt. Doch der Hass und der Backlash, den ich auch da schon erfuhr, waren nichts im Vergleich zu jetzt. Nicht einmal annähernd», schreibt er. Die politische Stimmung und neue Anti-LGBTQ+-Legislaturen weltweit spiegeln seine Worte und machen «Pageboy» umso dringlicher.

«Den eigenen Weg zu finden, ist schmerzhaft, aber es führt dich zu dir selbst», fasst Page zusammen. Letztlich ist das eine Einsicht, die nicht nur auf ihn als trans Person und Hollywood-Schauspieler zutrifft. Wir alle müssen unseren eigenen Weg finden. Die Frage ist: Wollen wir den Schmerz miteinander überleben oder elend und einsam zugrunde gehen? Elliot Page plädiert mit seinem Buch für das Miteinander. Ich klappte es bereichert und dankbar zu.

«Pageboy» ist in deutscher Übersetzung von Katrin Harlass, Lisa Kögeböhn, Stefanie Frida Lemke bei S. Fischer erschienen und ab 20 Franken erhältlich.

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