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Mental Health im Profisport: «Alisha Lehmann ist ein Vorbild»

Zeitgeist

Mental Health im Profisport: «Alisha Lehmann ist ein Vorbild»

Simone Biles, Naomi Osaka – und jetzt die Schweizer Fussballerin Alisha Lehmann: Sie alle haben aufgrund ihrer Psyche die Reissleine gezogen. Sportpsychologin Katharina Albertin über das neue Zeitalter im Profisport.

Frau Albertin, revolutionieren Frauen gerade die Sportwelt?
Katharina Albertin: Das könnte man durchaus so formulieren, ja. Die Turnerin Simone Biles hat letzten Sommer mit ihrem Satz «Ich bin mental nicht bereit» und ihrem Olympia-Rückzug ein neues Zeitalter eingeläutet.

Was war so besonders an Biles’ Aussage?
Noch vor ein paar Jahren hätten Profisportler:innen in ihrer Situation gesagt: «Ich muss aus gesundheitlichen Gründen absagen.» Erst beim Nachbohren hätte man vielleicht herausgehört, dass es sich um die psychische Gesundheit handelt. Oder sie hätten gesagt: «Mein Arzt sagt, ich darf nicht.»

Und jetzt?
Jetzt reicht es, ganz selbstverantwortlich zu kommunizieren: «Ich spüre, mir geht es nicht gut, ich bin nicht ready und sage Stopp.» Ob dann noch ein Arztzeugnis im Spiel ist oder nicht, muss in der Öffentlichkeit – sozusagen zur Entlastung – nicht mehr zwingend thematisiert werden.

Ist es Zufall, dass innerhalb eines Jahres gleich mehrere Profisportlerinnen – zum Beispiel auch Tennisspielerin Naomi Osaka – ihre mentale Gesundheit zum Thema gemacht haben?
Das ist ein Zeichen der Zeit. Gerade findet nicht nur im Sport, sondern schönerweise ganz generell eine Enttabuisierung der Psyche statt. Die mentale Gesundheit gewinnt mehr und mehr an Bedeutung.

Und ist es ein Zufall, dass es sich hauptsächlich um Frauen handelt?
Ich denke nicht. Zwar kann ich nicht abschliessend beurteilen, ob sich die Medien einfach mehr auf Frauen gestürzt haben – oder ob es wirklich deutlich weniger männliche Sportler sind, die offen über ihre Psyche sprechen. Aber es würde nicht verwundern, wenn Frauen eher den Mut finden, über ihre vermeintliche Schwächen zu reden. Für Männer ist hier das Tabu immer noch grösser.

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«Auch die Karriere profitiert, wenn die Psyche der Sportlerin ein Mitspracherecht hat»

Anfeindungen gab es dennoch etliche. Nachdem die Fussballerin Alisha Lehmann bekannt gab, aus mentalen Gründen auf die EM zu verzichten, wurde ihr auf Social Media von einigen Unprofessionalität vorgeworfen. In einer Facebook-Kommentarspalte meldete sich sogar ihre Mutter zu Wort und schrieb: «Unglaublich, was hier an Hass gegen meine Tocher abgeht!»
Mich ärgert es jedes Mal, wenn Spitzensportler:innen vorgeworfen wird, sie seien zu wenig robust, zu willensschwach oder zu selbstbezogen. Das ist Blödsinn – sie wären niemals so weit gekommen, wenn sie eben genau nicht so wahnsinnig viel Selbstdisziplin hätten. Die meisten Leute haben keine Ahnung, wie streng der Alltag als Sportler:in ist und auf wie viel verzichtet werden muss – oftmals seit Kindesalter.

Sie befürchten im Gegensatz zu den Trollen auf Social Media also nicht, dass der Profisport verweichlicht?
Im Gegenteil. Ich befürworte sehr, was da gerade passiert, und hoffe, dass diese Entwicklung nach und nach in alle Bereiche des Leistungssports durchsickern wird. Eigenverantwortung darf nicht nur gepredigt, sondern muss auch ermöglicht werden.

Was meinen Sie damit?
Zum Teil sind die Strukturen noch sehr altmodisch – der Drill steht an manchen Orten über allem. Dabei profitiert auch die Karriere, wenn die Psyche der Sportlerin ein Mitspracherecht hat, und es nicht zu jedem Preis immer nur ums Durchbeissen geht – davon bin ich fest überzeugt.

Wie das?
Wenn die Sportlerin auf ihre Psyche achtet, bleibt sie nachhaltig gesünder – und unter diesen Umständen vielleicht auch länger dabei. Ausserdem stehen die Chancen gut, dass so auch der Übergang in die sogenannte Nachkarriere gelingt. Das ist für viele Profisportler:innen eine sehr herausfordernde Zeit, weil sie sich komplett neu orientieren müssen.

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«Wenn wir Menschen wieder und wieder über Grenzen gehen, die uns Körper und Seele aufzeigen, schwächen wir unsere Psyche»

Was wäre im Fall von Biles, Osaka oder Lehmann passiert, wenn sie nicht die Reissleine gezogen hätten?
Das hätte gefährlich werden können: Wenn wir Menschen wieder und wieder über Grenzen gehen, die uns Körper und Seele aufzeigen, schwächen wir unsere Psyche und werden anfälliger für psychische Krankheiten. Aus der Sportforschung wissen wir ausserdem, dass das Unfallrisiko höher ist, wenn sich jemand für den Wettkampf mental nicht in der Lage fühlt. Im Einzelfall kann es aber auch vorkommen, dass ein:e Athlet:in die psychische Stimme zu schwer gewichtet.

Geht das – die Psyche zu wichtig nehmen?
Sagen wir es so: Es gibt Leute, die sich in etwas hineinentwickeln, wo das leiseste Unwohlsein direkt eine Angst hervorruft, die sie handlungsunfähig macht. Sobald also irgendwo ein Unbehagen auftaucht, trauen sie sich nicht mehr und werfen hin. Als Sportpsychologin ist es in so einem Fall meine Aufgabe, dass die Person lernt, ihren Kräften wieder zu vertrauen.

Wie kann ein:e Sportler:in selbst einschätzen, ob Absagen oder Durchbeissen das Richtige ist?
Den eigenen Körper und die Psyche richtig zu lesen, ist in der Tat gar nicht so einfach: Wann bin ich über-, wann bin ich unterempfindlich? Im besten Fall lernen Athlet:innen schon in ihrer Jugend, Selbstverantwortung zu übernehmen. Heisst: Ich bin gut mit mir selbst in Kontakt und weiss, wann ich Stopp sagen muss – und wann ich diese völlig normalen Ambivalenzen auch einfach aushalten und weitermachen kann. Es ist ja höchst selten, dass in einem alles ganz klar «Ja» oder «Nein» schreit.

Das gilt ja gewissermasen für uns alle, oder?
Absolut. Deshalb sind Frauen wie Simone Biles oder Alisha Lehmann nicht nur für andere Sportler:innen, sondern für uns alle tolle Vorbilder. Es braucht viel Mut, hinzustehen und etwas, das für einen selbst sehr wichtig ist, nach aussen zu vertreten – im Wissen, dass es auch Leute geben wird, die Buh rufen.

Katharina Albertin ist Präsidentin der Swiss Association of Sport Psychology (SASP). Sie arbeitet im eigenen Unternehmen als Sportpsychologin sowie als systemische Psychotherapeutin. 

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