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Geldsorgen in der Schweiz: «Jeden Monat muss ich schauen, ob ein Familienausflug drinliegt»

Politik

Geldsorgen in der Schweiz: «Jeden Monat muss ich schauen, ob ein Familienausflug drinliegt»

Alles wurde teurer: In der Schweiz machen sich derzeit viele Menschen finanzielle Sorgen. Wir haben mit drei Betroffenen gesprochen.

Jede:r Zehnte in der Schweiz gibt laut Bundesamt für Statistik an, finanziell schlecht über die Runden zu kommen. Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz damit sogar vor Deutschland (8,3 Prozent). Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2022 – seitdem ist das Leben in der Schweiz nochmals teurer geworden. Und damit die Auswirkungen der Pandemie und des Ukraine-Kriegs für alle spürbar.

Im neusten Sorgenbarometer des Instituts für Politik- und Kommunikationsforschung gfs.bern zeigt sich diese Entwicklung deutlich: Unter den zehn meistgenannten Sorgen betreffen neu fünf davon das Thema Finanzen – konkret die Krankenkassen, die Inflation, die Wohnkosten, die AHV und die soziale Sicherheit.

Auch die klare Annahme der 13. AHV-Rente im März diesen Jahres sendet ein deutliches Signal. Politikwissenschafterin Silja Häusermann sagte im Gespräch mit annabelle: «Es ist ein Ausdruck davon, dass sich die Menschen Sorgen um die gestiegenen Lebenshaltungskosten machen.»

Kürzlich haben wir annabelle-Leser:innen dazu aufgerufen, mit uns anonym über ihre finanziellen Sorgen zu sprechen. Danke für alle Einsendungen! Wir haben mit drei Betroffenen telefoniert und ihre Schilderungen zusammengefasst.

«Mit 51 Jahren so knapp bei Kasse zu sein, ist frustrierend»

Isabelle* (51), Mutter von zwei Kindern (14 und 17 Jahre alt), getrennterziehend, Lektorin, aus Basel

«Als Studentin stand ich finanziell gefühlt besser da als jetzt. Ich ging ständig brunchen und in irgendwelche Kneipen. Auswärts essen liegt heute mit meinen Kindern nur ab und zu in Süddeutschland drin – zum Glück leben wir in Basel und haben so die Möglichkeit, mal kurz über die Grenze zu gehen.

Ich habe manchmal das Gefühl, mir wird ein Leben diktiert, das ich so gar nicht leben möchte. Kultur ist mir sehr wichtig, Theater, Kinobesuche; ich wäre gerne viel mehr unterwegs – auch mit meinen Kindern. Ich versuche, mittels Wettbewerben Tickets zu gewinnen, was glücklicherweise manchmal sogar klappt.

Mit 51 Jahren als Akademikerin in einem 90-Prozent-Pensum so knapp bei Kasse zu sein, ist frustrierend. Den regulären Alltag kann ich mir leisten, lebe sparsam, habe eine günstige Altbauwohnung und besitze kein Auto. Nur Reisen liegen selten drin. Sorgen bereiten mir grössere Ausgaben wie die hohe Nebenkostenabrechnung alle drei Monate. Oder unerwartete Rechnungen von Zahnärzt:innen oder Ähnliches. Da hängt schon immer ein Damoklesschwert über mir.

Und meine finanzielle Situation strahlt klar auch auf meine Kinder aus: Sie müssen mitverdienen, wenn sie sich etwas Grösseres wie eine Sprachreise oder einen Auslandsaufenthalt leisten möchten. Meine ältere Tochter hat jetzt angefangen zu jobben. Sollten sie mal studieren wollen, geht das definitiv nur, wenn sie nebenbei selbst arbeiten. Ich finde das nicht per se schlimm – aber es ist eben auch einer Not geschuldet, da ich es mir einfach nicht anders leisten kann.

Denke ich an die Zukunft, steuere ich auf ein finanziell sehr eingeschränktes Alter zu. Ich habe erst relativ spät angefangen, in der Schweiz zu arbeiten, und mir steht eine knappe Rente bevor. Das ist schon beklemmend.

Mich macht es traurig, dass mir die Zeit entgleitet. Ich weiss, dass meine Teenagertöchter jetzt noch bei mir sind – das sind vielleicht die letzten Jahre, in denen wir noch zusammen eine Reise machen würden. Und ich kann es mir einfach nicht leisten.

Gerade versuche ich, neben meinem Job noch Zusatzaufträge anzunehmen. Wenn ich das zwei, drei Mal im Jahr machen kann, wäre das eventuell schon eine Lösung für Zusatzausgaben – oder eben auch mal einen Familienurlaub.»

* Name der Redaktion bekannt

«Das Soziale leidet in meinem Leben stark, da mache ich die grössten Abstriche»

Cleo (31), Juristin, aus Zürich

«Vor einem Jahr habe ich angefangen, für mein Anwaltspatent zu lernen. Aus finanziellen Gründen und weil ich von den sechs Jahren meines selbst finanzierten Masterstudiums geschafft war, schreckte ich davor erst zurück. Das Studium war streng, ich hatte oft vier oder fünf Nebenjobs gleichzeitig.

Für die Prüfungen des Anwaltspatents muss man immer vier bis fünf Monate lang lernen. Danach wartet man drei Monate lang aufs Ergebnis und kann sich erst dann wieder anmelden – entweder, um die schriftliche Prüfung zu wiederholen, oder, um die mündliche zu absolvieren. Die Lernphase ist ein Vollzeitjob. Lohnarbeit kann ich nur ausserhalb dieser Phasen leisten. Der Prozess der Anwaltsprüfung ist in Zürich sehr lang. Vor allem für Leute wie mich, die keine finanzielle Unterstützung ihrer Eltern kriegen, wird es eng.

Aktuell verdiene ich als Juristin für die nächsten sechs Monate einen Praktikumslohn von 5000 Franken. Von diesem Geld müsste ich nun den Betrag zusammensparen, von dem ich in der nächsten Lernphase wieder fünf Monate lang leben kann. Ich habe ausserdem Schulden aus der letzten Lernphase und mir steht eine Operation bevor. Diese zahlt glücklicherweise die Zusatzversicherung. Doch die gesundheitlichen Probleme belasten mich auch finanziell: Ich stottere wegen des Selbstbehalts noch immer Arztrechnungen von mehr als 2500 Franken ab, da ich die höchste Franchisenstufe habe.

Dass es jetzt finanziell besonders eng wird, merke ich in allen Lebensbereichen. Es liegt eigentlich nichts drin: Ich kann kaum Kaffee trinken oder essen gehen. Treffe ich mich auswärts mit einer Freundin – maximal einmal pro Woche –, bestelle ich ein einziges Getränk und achte darauf, dass ich dafür nicht mehr als sieben Franken ausgebe. Einen Besuch beim Coiffeur oder der Dentalhygiene kann ich mir nicht leisten. Oft fühle ich mich machtlos und ohnmächtig. Es ärgert mich, dass ich nicht mehr dagegen machen kann.

Das Soziale leidet in meinem Leben stark, da mache ich die grössten Abstriche. Fragt mich mein Freund, ob wir was unternehmen wollen, muss ich oft ablehnen – weil ich kein Geld habe. Dass er mich immer einlädt, möchte ich nicht. Es ist mir unangenehm, mir mit 31 alles zahlen lassen zu müssen. Im Alltag verzichte ich auf möglichst viel. Aber einen Luxus gönne ich mir: Im Mai gehe ich eine Woche in die Ferien. Wir fliegen nach Ägypten, auch, weil es dort für uns verhältnismässig günstig ist. Natürlich halte ich mich aber auch vor Ort an ein fixes Budget.

Geldprobleme sind mir nicht neu: Meine Schwester und ich sind mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Seit ich mich erinnern kann, war es ein Thema in meinem Leben, kein Geld zu haben. Das hat mich geprägt. Die letzten Jahre waren hart, aber ich weiss, worauf ich hinarbeite. Der Zukunft blicke ich deshalb positiv entgegen, trotz allem. Ich arbeite in einer Branche, die gute Löhne zahlt. Das hilft, mir eine Perspektive zu schaffen, um weiterhin auf die Zähne beissen zu können.

Aber ich sehe, dass es viele Leute gibt, die in einer weniger komfortablen Situation sind als ich. Meine Mutter musste gerade aus Zürich wegziehen, weil sie mit ihrem Einkommen keine bezahlbare Wohnung finden konnte. Für viele ist und bleibt es langfristig schwierig, wenn alles teurer wird.»

«Bei der monatlichen Budgetplanung schaue ich, ob ein Familienausflug drinliegt»

Anja* (38), Mutter von drei Kindern (neun, elf und 18 Monate alt), verheiratet, Kaufmännische Angestellte, aus St. Gallen

«Seit unser drittes Kind da ist, lohnt es sich finanziell für mich nicht mehr, arbeiten zu gehen. Ein Kitaplatz oder eine Tagesmutter wäre so teuer, dass mein gesamter Lohn in die Betreuung fliessen würde. Zuvor arbeitete ich drei Vormittage die Woche in einem Büro; damals kamen wir finanziell noch gut über die Runden.

Mein Mann arbeitet als Gipser auf dem Bau. Wir müssen als fünfköpfige Familie monatlich mit 6300 Franken klarkommen. Nach allen fixen Abzügen bleibt uns nicht viel für das alltägliche Leben. Manchmal 1200 Franken oder noch weniger.

Alle vier Wochen bezahle ich unsere Rechnungen und mache eine Budgetplanung. So sehe ich dann auch, ob in diesem Monat ein Familienausflug, zum Beispiel ein gemeinsamer Kinobesuch, drinliegt. Zurzeit kommt das leider nicht oft vor.

Sobald eine Rechnung on top kommt, gerät alles ins Wanken. Ich habe schon mehrmals nachfragen müssen, ob ich erst nächsten Monat zahlen oder eine Teilzahlung machen kann. Die Militärsteuer für meinen Mann mussten wir zum Beispiel in Raten bezahlen, anders wäre es unmöglich gewesen.

Der erste Anruf war mir sehr peinlich. Und auch heute noch kostet es mich Überwindung. Aber ich weiss: Da muss ich halt durch, ich habe gar keine andere Wahl. Immerhin waren alle bisher nett und kulant. Man muss einfach früh genug anrufen und die Situation erklären.

Obwohl ich damals, vor meiner Kündigung, alles genau berechnet hatte, haben wir nun doch weniger Geld zur Verfügung als gedacht. Die Krankenkassenprämien sind ja auch noch gestiegen – und die Lebensmittel sind so teuer geworden. Das merken wir extrem.

Letzte Woche habe ich eine Putz-Stelle angenommen. Acht Stunden die Woche, immer am Abend, während mein Mann bei den Kindern ist. So müssen wir keine Betreuung bezahlen. Ich denke, das sollte etwas Entlastung bringen.

Mein Mann sagt immer, ich sei zuhause der Fels in der Brandung – und wenn ich mal nicht mehr könnte, würde alles bergab gehen. Deshalb versuche ich, zuversichtlich zu sein. Oft gelingt es mir auch: Ich sehe das Jonglieren mit den Zahlen als meine daily challenge. Wir sind alle gesund, das ist die Hauptsache.

Sehr hart ist für mich allerdings, dass Ferien aktuell für uns nicht drinliegen. Keine Chance. Auch meinem Mann würde ein Tapetenwechsel so gut tun. Er hat es auf der Arbeit immer sehr streng.

Manchmal sage ich zu meinem Mann, ohne die Kleine wäre alles einfacher gewesen. Aber wir haben es uns so gewünscht, ein drittes Kind zu bekommen.»

* Name der Redaktion bekannt

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