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Politikwissenschaftlerin Emilia Roig: «Frauen merken oft nicht, wie viele Kompromisse sie eingehen»

Politik

Politikwissenschaftlerin Emilia Roig: «Frauen merken oft nicht, wie viele Kompromisse sie eingehen»

Die französische Politikwissenschaftlerin Emilia Roig hinterfragt in ihrem neuen Buch «Das Ende der Ehe» die Übermacht der Verheirateten – und untersucht, ob man Männer lieben und zugleich das Patriarchat stürzen kann.

annabelle: Emilia Roig, Ihr neues Buch heisst «Das Ende der Ehe». Möchten Sie die Ehe abschaffen?
Emilia Roig: Ja, grundsätzlich schon. Es geht mir aber nicht darum, dass sich jetzt alle verheirateten Paare scheiden lassen sollen. Mein Buch ist vielmehr ein Plädoyer für die Revolution der Liebe, für eine Reorganisation der Gesellschaft. Ohne neue Systeme, wie zum Beispiel die Einführung der Individualbesteuerung oder die ausgeglichene Aufteilung der Care-Arbeit zwischen Frauen und Männern, ist eine Abschaffung der Ehe ohnehin nicht möglich. Das würde eine finanzielle Unsicherheit für Millionen von Frauen bedeuten. Die Ehe ist für Frauen im Moment noch eine wichtige finanzielle Absicherung.

So viel Sicherheit bietet die Ehe aber nicht mehr – gestützt auf aktuelle Bundesgerichtsurteile müssen geschiedene Frauen nämlich, ausser sie haben noch sehr kleine Kinder, grundsätzlich selbst für ihren Unterhalt aufkommen. Egal ob sie während der Ehe erwerbstätig waren oder nicht.
Innerhalb der Ehe sind die Frauen jedoch oft finanziell abhängig. Die meisten Männer gehen einer voll bezahlten Erwerbstätigkeit nach, die Frauen arbeiten oft nur Teilzeit und erledigen den grössten Teil der unbezahlten Hausarbeit, Kinderbetreuung oder auch der Pflege von Angehörigen. Dieser Entscheid verkennt daher die Realität und trägt Gleichstellung auf dem Rücken der Frauen aus. Damit Frauen zu gleichen Teilen einer Erwerbsarbeit nachgehen könnten und sich selbst versorgen, müsste erst einmal eine bessere Situation für Vereinbarkeit geschaffen werden. Realität ist, dass in der Schweiz traditionelle Familienmodelle noch immer die gelebte Mehrheit sind. Nur bei 5.9 Prozent der Haushalte mit Kindern unter 25 arbeiten die Paare beide Teilzeit. Der Entscheid verkennt ausserdem den Wert der Care-Arbeit, den diese Frauen geleistet haben. Die Ehemänner schulden ihren Partnerinnen Unterhalt für diese unsichtbare Arbeit, die es Ihnen überhaupt ermöglicht der Erwerbsarbeit nachzugehen.

Sie sprachen schon in Ihrem ersten Buch «Why We Matter» von der «fairen» Verteilung und der Aufwertung der Care-Arbeit. Wie definieren Sie «fair»?
Eine faire Aufteilung bedeutet, dass die Care-Arbeit nicht mehr implizit in der Hauptverantwortung der Frauen liegt. Es heisst, dass sowohl die konkreten Aufgaben als auch die mentale Belastung und die emotionale Arbeit rund um die Kindererziehung und Haushaltsführung geteilt werden, Männer sich nicht mehr auf Frauen stützen und auf Anweisungen warten, um sich zu beteiligen. Zudem muss die Care-Arbeit zwingend wirtschaftlich aufgewertet werden, zum Beispiel sollte sie in die Berechnungen des Bruttoinlandprodukts aufgenommen werden.

Diese Anliegen könnte man auch anstreben, ohne die Ehe abzuschaffen. Warum diese harsche Haltung gegen die Ehe?
Weil die Ungleichheit zwischen Frauen und Männer nicht eine Folge der Ehe ist, sondern deren Grundlage. Sie basiert auf einer Hierarchie, in der der Mann immer noch als Familienoberhaupt gilt. Er hat das letzte Wort und damit die Macht. Das zeigt sich auch dadurch, dass die Frauen, kaum sind sie verheiratet, oft noch mehr Hausarbeit übernehmen und ihre Karriere zugunsten jener des Mannes zurückstellen. Die Ehe ist eine patriarchale Institution, die Frauen zwar teilweise finanziell absichert, sie aber auch abhängig macht und sie in ihren Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt. Dass Frauen in der Politik und in Machtpositionen noch immer unterrepräsentiert sind, dass sie weniger verdienen und besitzen als Männer, wird durch die Ehe produziert.

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«Wir als Gesellschaft sollten aufhören, uns so stark auf die Befindlichkeiten der Männer zu konzentrieren»

Verstehen Sie Männer, die sagen, sie wollen nicht permanent als die Schuldigen bezeichnet werden?
Wer sagt, dass sie allein schuldig sind? Natürlich gibt es auch Männer, die nicht von der Ehe profitieren, und selbstverständlich sind nicht alle Männer Täter, genauso wenig, wie nicht alle Frauen Opfer sind. Das Problem ist nicht nur der individuelle Mann, sondern wofür Männlichkeit steht. Wir brauchen eine Krise dieser Männlichkeit. Und wir, als Gesellschaft, sollten aufhören, uns so stark auf die Befindlichkeiten der Männer zu konzentrieren.

Wie meinen Sie das?
Viele Frauen wollen seit Jahrzehnten Veränderungsprozesse bei Männern anstossen. Sie empfehlen ihren Partnern Podcasts und Bücher und überlegen, wie sie sie dazu bringen können, die Folgen des Patriarchats zu verstehen und sich zu hinterfragen. Doch diesen Prozess müssen Männer selbstständig gehen. Es verstärkt patriarchale Muster, wenn Frauen diese Art der emotionalen und intellektuellen Arbeit für Männer übernehmen. Frauen sollten stattdessen versuchen, sich selbst zu verändern, Unterwerfung kompromisslos abzulehnen und sich zu fragen: Warum habe ich mich bisher mit bestimmten Situationen abgefunden? Was sind meine Wünsche, meine Bedürfnisse? Was kann ich tun, um sie zu erfüllen?

Dennoch: Für viele Frauen ist die Heirat ein wichtiges Ziel in ihrer Biografie.
Ja, viele Menschen sehen die Ehe als Meilenstein und als Erfüllungsfaktor in ihrem Leben. Als sei sie die einzige Lebensform, der einzige richtige Lebensweg. Für Menschen, die so denken, ist es absurd, was ich fordere. Als würde ich schreiben, wir sollten nicht die Ehe, sondern die Ernährung abschaffen.

Ich bin zum zweiten Mal verheiratet und würde es unter Umständen auch ein drittes Mal wagen. Ich habe beide Male gerne geheiratet und empfand es als wichtiges und romantisches Liebeszugeständnis.
Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft wachsen mit einem klaren Skript von Liebe und Romantik auf. Dazu gehört zum Beispiel, dass ein Mann und eine Frau sich lieben, monogam leben, zusammen Kinder haben; dass der Mann arbeitet, die Frau für die Kinder sorgt und sie alle im gleichen Haushalt leben. Popkultur und Märchen zementieren diese Vorstellung. Frauen merken oft gar nicht, wie viele Kompromisse sie eingehen, um sich den Zugang zu einem Leben zu sichern, das Glück und Erfüllung verspricht. Sie bringen sich dadurch in ihrem Liebesleben in eine schwache Position und opfern sich auf.

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«Die Ehe ist keine rein private Angelegenheit»

Sind die Dynamiken in einer gleichgeschlechtlichen Ehe anders als in einer heterosexuellen?
In gleichgeschlechtlichen Ehen spielen die männliche Dominanz und das patriarchale Machtverhältnis keine Rolle. In bestimmten Fällen können Aspekte dieser Unterdrückung reproduziert werden, wenn gleichgeschlechtliche Paare heteronormative Rollen annehmen. Doch die Gefahr ist geringer.

Heute lässt sich fast jedes zweite verheiratete Paar scheiden. Mir fiel die Trennung von meinem Ex-Mann schwer. Danach fühlte ich mich schuldig und ohne Halt.
Viele betrachten eine Scheidung oder eine Trennung als persönliches Versagen. Auch deshalb, weil eine Trennung als «die einfache Lösung» gilt, obwohl es in der Regel einfacher ist, in der Beziehung zu bleiben. Viele Frauen, auch Feministinnen, trauen sich nicht, offen darüber zu sprechen, wie unglücklich sie mit ihrem Eheleben sind oder dass sie im Begriff sind, sich zu trennen. Sie sehen ihr Unglück als persönliches Scheitern. Doch die Ehe ist keine rein private Angelegenheit.

Ist sie denn eine öffentliche Angelegenheit?
Ja, das ist sie. Auch wenn wir glauben, dass alles in intimen Beziehungen individuell ist. Wir sind Teil einer Gesellschaft mit Normen, Erzählungen, Strukturen und Systemen, die uns prägen und beeinflussen. Ab dem Moment, wo der Staat die Beziehungen durch Institutionen wie die Ehe normiert, regelt und beeinflusst, handelt es sich um eine öffentliche Angelegenheit, oder besser gesagt: um eine politische.

Ist die Machtdynamik in einer Beziehung anders, wenn der Mann weniger privilegiert ist als die Frau?
Das hat sicherlich einen Einfluss. Genauso, wie wenn die Konstellationen umgekehrt sind, das heisst, die Machtposition des Mannes verstärkt wird. Dann etwa, wenn eine Migrantin aus der Arbeiter:innenklasse mit einem weissen reichen Mann liiert ist.

Für nicht wenige Frauen kann die Heirat auch ein Ausstieg aus der Armut bedeuten. Würde die Abschaffung der Ehe diesen Frauen nicht zusätzlich schaden?
Viele Frauen sehen in ihrem Herkunftsland keine Perspektive. Eine Ehe mit einem reicheren Mann bringt sie aber oft nur vermeintlich aus der Armut, manche erleben in ihrer Ehe erneut finanzielle Abhängigkeit. Die Situation dieser Frauen ist kein Argument für die Ehe, sondern ein Beweis für die Unterdrückung durch diese Institution. Statt heiraten zu müssen, sollte es für diese Frauen möglich sein, ohne Mann finanziell abgesichert zu sein.

Einige Frauen lassen für die Heirat sogar ihre Kinder in ihrem Herkunftsland zurück.
Und arbeiten dann in den reichen, westlichen Ländern für ihre Ehemänner oder für andere Menschen als Nannys, Haushaltshilfen oder Sexarbeiterinnen. Das gilt auch für viele Migrantinnen, die hierzulande betagte Menschen in 24/7-Modellen pflegen. Wir reproduzieren ein System, wie es schon Schwarze Frauen in der Kolonialisierung kannten, die Kinder von weissen Familien erzogen, während sie ihre eigenen zurücklassen mussten.

«Das wichtigste Werkzeug des Patriarchats ist die binäre Geschlechterordnung»

Sie sagen, die Ehe und die binäre Geschlechterordnung, in der nur in den Kategorien weiblich, männlich und heterosexuell gedacht wird, seien durch die Kolonialisierung verbreitet worden, um das Patriarchat durchzusetzen.
Das wichtigste Werkzeug des Patriarchats ist die binäre Geschlechterordnung. Daher müssen wir, wenn wir über die Abschaffung der Ehe sprechen, auch über die Abschaffung des binären Geschlechts sprechen. Ich erkläre in meinem Buch am Beispiel der westafrikanischen Yoruba-Kultur, wie das binäre Geschlecht durch die Kolonialisierung verankert wurde. Vor der Kolonialisierung war bei den Yoruba das Alter und nicht das Geschlecht das Hauptorganisationsprinzip. Die britische Kolonialmacht entfernte Frauen aus der politischen Machtsphäre und erklärte sie als unterlegen. Somit erhielten die Yoruba-Männer immer mehr Macht, Status und Bildung, die Gesellschaft wandelte sich in ein Patriarchat. Später rechtfertigten die Briten ironischerweise ihre Präsenz in Nigeria damit, dass sie die Yoruba-Frauen vor den «frauenfeindlichen» Yoruba-Männern schützten.

Inwiefern kommt in diesem Kontext die Ehe ins Spiel?
Die weissen Kolonisatoren sahen in der Ehe ein Instrument, um die Kolonisierten zu «zivilisieren». Die Ehe sollte nach der Abschaffung der Sklaverei gegen die Unmoral und der Promiskuität, von der die Weissen glaubten, dass sie unter den Schwarzen verbreitet seien, wirken. Diese Vorurteile wirken bis heute nach.

Wie stellen Sie sich eine Welt ohne Ehe vor?
Die Abschaffung der Ehe würde uns dazu bringen, neue Lebensformen zu entwickeln, in denen Menschen Fürsorge, Liebe und Zusammenhalt, unabhängig von ihrer biologischen Verbindung oder ihrer Sexualität, erfahren können. Die Care-Arbeit würde dabei als etwas Schönes und Wertvolles gesehen. Gerade jetzt, im Chaos von Klimawandel, dem globalen Rechtsrutsch, Kriegen und Krisen braucht es mehr Zusammenhalt zwischen den Menschen – und die Kernfamilie ist nicht die beste Konstellation dafür.

Emilia Roig ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Autorin. Die gebürtige Französin lebt seit 2005 in Berlin und ist Expertin für Intersektionalität, Critical Race Theory, Gender Studies und Postkoloniale Studien sowie Völker- und Europarecht. Sie hält europaweit Keynotes und Vorträge zu den Themen Feminismus, Rassismus, Diskriminierung, Vielfalt und Inklusion. Ihre Arbeit wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Ihr neustes Buch «Das Ende der Ehe: » erscheint am 30. März 2023 und kann hier für ca. 36 Franken bestellt werden. Emilia Roig liest am 18. April 2023 im Kaufleuten in Zürich.

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