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Politjournalistin Nathalie Christen: «Frauen stehen noch häufig an, wenn es um die interessanten Posten geht»

Politik

Politjournalistin Nathalie Christen: «Frauen stehen noch häufig an, wenn es um die interessanten Posten geht»

Frauen in der Politik sichtbar machen und zeigen, wie sie den Politikalltag bewältigen, damit sie für andere Frauen ein Vorbild sein können. Das will das Buch «Schweizer Politfrauen». Frauen sollen ermutigt werden, für ein politisches Amt zu kandidieren, sagt SRF-Bundeshauskorrespondentin und Co-Autorin Nathalie Christen.

annabelle: Nathalie Christen, Frauen sind in den politischen Institutionen so gut vertreten wie nie zuvor. Seit 2019 liegt der Frauenanteil im Nationalrat bei 42 Prozent, in Neuenburg wurden in diesem Frühjahr die Mehrheit der Grossratssitze im Kantonsparlament an Frauen vergeben. Das sind doch hoffnungsvolle Entwicklungen?
Nathalie Christen: Natürlich. Man vergisst aber gerade angesichts der guten Frauenvertretung im Nationalrat oder einzelnen anderen Gremien gerne, dass sie gesamtschweizerisch die Ausnahme sind. Der Frauenanteil im Ständerat liegt bei gut 28 Prozent, in den kantonalen Parlamenten stagniert er bei einem Drittel, in den Regierungen bei gut einem Viertel. In sieben Kantonsregierungen sitzt gar keine Frau, und nur 16 Prozent der Gemeindepräsidien sind in weiblicher Hand. Das zeigt: Frauen sind in der Politik immer noch klar in der Minderheit. Eine Demokratie ist jedoch erst dann eine wahre Demokratie, wenn gut die Hälfte der stimmberechtigten Bevölkerung angemessen vertreten ist.

In Ihrem Buch porträtieren Sie und ihre beiden Co-Autorinnen 21 Politikerinnen und fragen sie nach ihren «best practices». Damit wollen Sie Frauen in der Schweiz ermutigen, für ein politisches Amt zu kandidieren. Was hält Frauen von der Politik ab?
Aus den bekannten Gründen: Viele glauben nicht, dass sich ein politisches Engagement mit Beruf und Familie vereinbaren lässt, oder sie haben Angst vor dem öffentlichen Auftritt. Andere trauen sich das Amt nicht zu, fragen sich: «Kann ich das überhaupt?» Diese Erfahrung habe ich schon gemacht, als ich noch Produzentin der «Arena» war: Fragten wir Frauen an, mussten wir häufig intensive Überzeugungsarbeit leisten. Männer hingegen sagten manchmal sogar zu, bevor sie überhaupt wussten, was das Thema der Sendung war.

Nun, Frauen in der Politik schlägt nicht selten ein rauher Wind entgegen. Männliche Politkollegen wie die Öffentlichkeit reagieren zum Teil noch immer mit Unverständnis, gerade wenn eine Frau auf der Politbühne aktiv ist, die Kinder hat.
Ja, das ist so. Ein Kind hat zwar Mutter UND Vater, doch gelten Mütter bei vielen noch immer als die Hauptzuständigen für die Kinder. Diese alten Rollbilder sind längst nicht passé. So wurde etwa GLP-Nationalrätin Corina Gredig, die ganz bewusst in jungen Jahren Kinder haben und gleichzeitig Politik machen wollte, mit Sprüchen konfrontiert wie: «Du hast ein Studium, einen Job und Kinder – und nun willst du auch noch in die Politik?» Ähnliches erlebte auch die grüne Zuger Nationalrätin Manuela Weichelt: Sie war einer der ersten Regierungsrätinnen, die im Amt ein Baby bekam. Für ihre Doppelrolle als Mutter und Politikerin erhielt sie kaum Zuspruch, hingegen bekam ihr Mann viel Lob, weil er Vaterschaftsurlaub genommen und sein Pensum auf 30 Prozent reduziert hatte. Er brachte seiner Frau das Baby sogar zum Stillen an die Regierungsratssitzungen.

Was wiederum jedoch keine Begeisterungsstürme entfachte.
Nein. Als Manuela Weichelt ihr Baby zum ersten Mal während einer Sitzung stillte, soll im Regierungsratsgremium eine betretene Stille geherrscht haben. Sie aber fragte bloss: «Was ist? Habe ich eine so hässliche Tochter?» Da lachten alle. Das brach den Bann.

Besonders gravierend sind die sexistischen Angriffe, denen viele Politikerinnen ausgesetzt sind. Wie schätzen Sie diese ein?
Einige Frauen haben Erlebnisse erzählt, die ich schockierend finde. In ihrer Zeit als Kantonsrätin bekam Greta Gysin, heutige Nationalrätin der Grünen, Sextoys zugeschickt, zudem wurden unter ihrem Namen Inserate in Erotikzeitschriften aufgegeben. SVP-Nationalrätin Andrea Geissbühler erhielt «Dick Pics», Mattea Meyer, CO-Präsidentin der SP Schweiz, eine telefonische Vergewaltigungsdrohung. Sie erstattete Anzeige. Sehr schlimm traf es Ada Marra, Vize-Präsidentin der SP Schweiz. Sie wurde auf den Sozialen Medien wüst beschimpft. Ada Marra wagte schliesslich den Schritt nach vorn und las die üblen Beschimpfungen im Nationalrat vor: «Du Schreckschraube, bist du eigentlich so wütend, weil niemand in deine verfaulte Muschi klettern will?» – «Eine Kugel in den Kopf würde dir sehr guttun.» – «Warum hat deine Mutter nicht heruntergeschluckt?»

Sie schreiben in Ihrem Buch aber auch von sehr viel subtileren Formen von Sexismus.
Ja, genau. So hörten wir zum Beispiel oft, dass Ideen, die Politikerinnen in ein Gremium einbringen, oft nicht gross kommentiert werden. Sagt ein Mann fünf Minuten später jedoch dasselbe, erhält er Applaus.

Der Klassiker.
Genau. Corina Gredig hatte in ihren Anfängen im Zürcher Stadtparlament ihre Ideen erst älteren Kollegen gesteckt, um politisch besser durchzukommen. Sie lernte dann aber, dass es klüger ist, vor wichtigen Sitzungen Verbündete zu suchen. Heute gehört sie unter den neuen Nationalratsmitgliedern zu den besten Netzwerkerinnen. Eine andere Begebenheit erzählte mir Petra Gössi, die einstige Präsidentin der FDP: Nach ihrer Wahl in den Kantonsrat, gratulierte ihr ein SVP-Kollege und sagte: «Schön, dass du gewählt worden bist. Jetzt gibt es sicher auch mal selbstgebackenen Kuchen in der Pause.» Dies war vielleicht nicht einmal bös gemeint, aber wer so denkt, hat eine ganz andere Lebenswelt als eine junge Frau. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass in politischen Gremien Frauen und Männer zu gleichen Teilen vertreten sind. Frauen machen zwar nicht zwingend bessere Politik als Männer. Aber es braucht verschiedene Sichtweisen und Erfahrungen, um die besseren Lösungen hervorzubringen.

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«Viele haben derart hohe Ansprüche an sich selbst, dass sie sich erst etwas zutrauen, wenn sie das Gefühl haben, sie könnten schon alles»

Frauen wird immer wieder unterstellt, vor Macht und Verantwortung zurückzuschrecken. Ist da etwas Wahres dran?
Sagen wir es so: Ich denke, Frauen müssen lernen, Macht und Verantwortung positiv zu besetzen. Wie Nationalrätin Corina Gredig festgestellt hat, haben in der Tat viele Angst vor Verantwortung. Dabei, erklärt sie, würde die Arbeit durch die Verantwortung sogar einfacher, weil man eher ernst genommen würde. Angegriffen werde man sowieso. Doch könne man sich als Führungsperson auf die Schulter klopfen und sagen: «Ich habe Verantwortung übernommen!» Das fand ich bemerkenswert. Sonst hört man immer nur von der Last der Verantwortung.

Mit anderen Worten: Macht und Verantwortung ermöglichen einen Gestaltungsspielraum.
Genau. Für Petra Gössi etwa, bedeutet Macht, die Freiheit zu haben, entscheiden zu können. Und auf ihre Verantwortung angesprochen, erzählt Mitte-Bundesrätin Viola Amherd, dass sie während der schweren Unwetter in Brig 1993 gelernt habe – damals war sie Stadträtin –, dass man manchmal schnell entscheiden müsse, auch wenn man nicht alle Details kennt. Denn nicht zu entscheiden, sei auch eine Entscheidung. Die Situation entwickle sich trotzdem weiter – einfach vielleicht anders, als wenn man eben einen Entscheid gefällt hätte.

Was hat Sie in der Begegnung mit den Politikerinnen meisten beeindruckt?
Ich fand es sehr berührend, mit Manuela Weichelt im Zuger Kantonsrat zu sein, wo der Attentäter Friedrich Leibacher 2001 14 Menschen erschossen und 18 verletzt hatte. Weichelt war damals im Ratssaal. Sie zeigte mir, wo sie auf dem Boden lag, und wie die Kugeln über ihren Körper in die Wand flogen. Sie hätte dabei keine Angst gehabt, sondern nur ein Bedauern verspürt. Diese Erfahrung hat sie politisch geprägt und noch ein Stück unabhängiger werden lassen. Denn sie wusste: «Sterben muss ich allein. Ich will mir jeden Tag im Spiegel in die Augen schauen können. Also tue ich, was ich für richtig erachte.» Imponiert haben mir aber auch jene Frauen, die sagten: «Ich probiers einfach mal», als sie Aussicht auf ein politisches Amt hatten. Diana Gutjahr, Unternehmerin und SVP-Nationalrätin, bringt es so auf den Punkt: «Wagt mal etwas, was zu gross erscheint – aber in das ihr hineinwachsen könnt.»

Die Idee des Hereinwachsens kann auch bestechend sein.
Natürlich. Bundesrätin Viola Amherd betont denn auch, dass wir Frauen nicht so perfektionistisch sein, sondern vielmehr auf unsere Stärken vertrauen sollten. Den Rest könne man lernen. Viele haben derart hohe Ansprüche an sich selbst, dass sie sich erst etwas zutrauen, wenn sie das Gefühl haben, sie könnten schon alles.

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«Das politische Potenzial von Migrant:innen wird noch weitgehend unterschätzt»

Susan von Sury-Thomas, die indisch-stämmige Solothurner Mitte-Kantonsrätin, sagt sogar, sie könnte noch mehr machen. Trotzdem kommt sie nicht vorwärts. Warum?
Frauen stehen leider noch immer häufig an, wenn es um die ganz interessanten Posten geht. Dies wird oft noch verschärft, wenn sie einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Als Susan von Sury-Thomas für den Nationalrat kandidierte, hiess es plötzlich: «Wir kandidieren ja auch nicht in Indien.» Dabei ist gerade sie eine Frau, die nicht tiefstapelt, sondern eben sogar sagt, dass sie mehr machen kann. Dass sie das kann, beweist sie auch. Sie hat sie etwa für einen Elektrobushersteller in ihrem Kanton einen Auftrag in Indien vermittelt, da Indien Dieselmotoren von der Strasse verbannen will. Das hat in beiden Ländern Arbeitsplätze generiert. Das politische Potenzial von Migrant:innen wird noch weitgehend unterschätzt.

Welche Strategien sind am wirksamsten, um Frauen in die Politik zu bringen?
Das Wichtigste ist, Frauen zu überzeugen, sich auf die Liste setzen zu lassen und ihnen klarzumachen, dass sie dabei Unterstützung bekommen, dass sie nicht allein sind. Denn wenn sie mal auf der Liste sind, werden sie heute ebenso gut gewählt wie Männer. Bundesrätin Viola Amherd zum Beispiel, wollte zu jenem Zeitpunkt, als man sie anfragte, noch nicht in die Politik. Aber sie sagte sich, sie könne nicht immer bloss von Gleichstellung sprechen, und wenn es dann darum gehe, in die Politik einzusteigen, Nein sagen.

Das Jahr des 50. Jubiläums des Schweizer Frauenstimmrecht neigt sich dem Ende zu. Welches Fazit ziehen Sie?
Ich würde sagen, es hat zu einer Sensibilisierung beigetragen. Auch die Frauensession des Parlaments hat viel positive Energie entfacht. Viele der anwesenden Frauen haben Feuer gefangen am Politisieren. Aber wir können uns nicht darauf verlassen, dass es nun automatisch so weitergeht. Bis Frauen in allen Bereichen in Politik und Wirtschaft angemessen vertreten sind, ist es noch ein weiter Weg.

Haben Sie ein Credo, nach dem Sie selbst handeln?
Ich habe einmal eine Dankeskarte für eine Moderation bekommen. Darauf steht: «Ohne einen Weg gegangen zu sein, werde ich nie erfahren, ob ihn zu gehen sich nicht doch gelohnt hätte.» Ich habe den Spruch an meinem Sekretär aufgehängt.

Nathalie Christen, Linda Bourget, Simona Cereghetti: «Schweizer Politfrauen. 21 Porträts, die inspirieren.» Beobachter-Edition 280 Seiten, 39 Franken. Das Buch wird ab 2022 auch auf Französisch erhältlich sein.

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