Werbung
Sexismus-Vorwürfe bei Tamedia: Mitarbeiterinnen kritisieren Unternehmen scharf

Leben

Sexismus-Vorwürfe bei Tamedia: Mitarbeiterinnen kritisieren Unternehmen scharf

78 Tamedia-Mitarbeiterinnen beschweren sich über Sexismus und Einschüchterungen am Arbeitsplatz. Frauen würden nicht gefördert, sondern stattdessen in Sitzungen übergangen. Die Recherche von annabelle zeigt: Während sich die Mitarbeiterinnen allein gelassen fühlen – selbst in Fällen von Stalking –, verweist das Management auf langfristige Lösungen.

Es brodelt bei der Tamedia – und zwar gewaltig. Am Freitag verschicken 78 Mitarbeiterinnen des Medienkonzerns einen offenen Brief an den internen Verteiler. Es sind nicht nur Journalistinnen, sondern auch Bildredaktorinnen oder Produzentinnen, die das Schreiben unterzeichnet haben – Frauen von den Standorten Zürich, Basel, Bern, Bülach, Interlaken, Thun und Winterthur. Im Schreiben, das intern an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschickt wurde, werden zahlreiche Vorwürfe erhoben: Frauen würden ausgebremst, zurechtgewiesen oder in ihrem Arbeitsalltag eingeschüchtert. Vorschläge würden nicht ernst genommen oder gar lächerlich gemacht. Und: Es werden zahlreiche Beispiele genannt von Situationen, in denen sich Mitarbeitende sexistisch behandelt fühlten. Demnach fielen Sätze wie: «Du als junge Frau kannst doch sicher was aus ihm (älterer Manager) herauskitzeln.» «Dann musst du das kleine Schwarze hervorholen.» «Ein Thema mit Kindern. Da sollen sich doch die Frauen drum kümmern.»

Der Brief wird nur zwei Stunden nach einem Mail der Geschäftsleitung verschickt, das annabelle ebenfalls vorliegt. Eigentlich war geplant ihn heute, zum Tag der Frau, zu versenden. Doch nach dem GL-Mail wollten die Mitarbeiterinnen sofort reagieren. Im besagten Mail wandten sich Marco Boselli und Andreas Schaffner, die beiden Geschäftsleiter der Tamedia, an die Mitarbeitenden. Seit Dezember befasse sich eine interne Arbeitsgruppe unter der Leitung von Priska Amstutz, Co-Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers», mit dem Thema Diversity bei Tamedia. Die Arbeitsgruppe habe im Auftrag der Geschäftsleitung untersucht, wie es um die Aufteilung nach Geschlecht, Alter und Arbeitszeitmodellen bestellt sei. Man kommt zum Schluss, dass Tamedia «Aufholbedarf» habe und das «verbindliche Ziele» gesetzt würden, welche Frauenanteile man in den nächsten ein bis zwei Jahren erreichen möchte.

«Es wird sich erst etwas ändern, wenn die Teams durchmischter sind»

annabelle hat mit mehreren Unterzeichnenden des Briefs Kontakt aufgenommen. Eine Mitarbeiterin hat sich bereit erklärt, anonym unsere Fragen zu beantworten – in Absprache mit den anderen angefragten Kolleginnnen. Sie habe von verschiedenen Quellen gewusst, dass im Hintergrund ein Projekt umgesetzt werde zum Thema Diversität, sagt sie. Ob das Schreiben der GL also per Zufall so kurz vor dem offenen Brief verschickt wurde, stellt sie infrage. «Aber so oder so: Was heisst das für mich? Seit Jahren heisst es, dass sich etwas tut. Und auch jetzt wird das wieder versprochen. Aber es sind nur Absichtserklärungen. Nichts ist ausformuliert.»

Priska Amstutz erklärt auf Anfrage von annabelle, dass es in der Arbeitsgruppe bis anhin in erster Linie um die gezielte Frauenförderung gehe, eine Verbesserung des Arbeitsklimas sei aber durchaus auch Teil der Diskussion. «Das hängt ja auch zusammen. Ich bin überzeugt, es wird sich erst grundsätzlich etwas ändern, wenn die Teams und vor allem die Führungscrews durchmischter sind.» Sie selber sei sich bis vor wenigen Wochen, in denen ihr einzelne Beispiele zugetragen worden seien, nicht bewusst gewesen, wie unwohl sich manche Mitarbeiterinnen fühlten. «Vereinzelt habe ich gehört, dass es in einzelnen Ressorts schwierigere Umstände gibt.» Das im Brief dargestellt Ausmass habe sie überrascht. «Diese Sätze zu lesen, tat mir unglaublich leid», sagt Amstutz. Auch sie findet: Es braucht nun klare Ziele und genau formulierte Zahlen. «Das Mail der GL zeigt nur einen Auszug unserer Arbeit. Wir haben zum Beispiel bereits eine interne Befragung geplant, die Antworten darauf wurden jetzt schon zum Teil vorweggenommen.  Diese sind negativer ausgefallen, als ich es annahm, vielleicht auch, weil ich noch nicht so lang hinter die Kulissen blicke.» Priska Amstutz ist seit gut einem Jahr bei Tamedia, seit Juli amtet die Co-Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers» neben Mario Stäuble.

Werbung

«Seit Jahren heisst es, dass sich etwas tut.»

Mitarbeiterin der Tamedia

Der Chef von Stäuble und Amstutz, Arthur Rutishauser, erklärt schriftlich gegenüber annabelle, dass man sich bewusst sei, dass die in der Vergangenheit bereits ergriffenen Massnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in den Redaktionen und insbesondere in Führungspositionen nicht ausreichen würden. «Es ist Zeit für eine verbindliche Strategie», so der Chefredaktor der Tamedia. Wenn es um den zeitlichen Rahmen geht, will er aber nicht auf die geforderte Deadline vom 1. Mai eingehen. «Die Geschäftsleitung von Tamedia hat entschieden, dass wir uns verbindliche Ziele setzen, welche Frauenanteile wir in den Redaktionen und den anderen Abteilungen von Tamedia sowie auf den verschiedenen Führungsstufen bis in 12 und 24 Monaten erreichen wollen», schreibt er.

Werbung

«Es ist Zeit für eine verbindliche Strategie»»

Arthur Rutishauser

«Es ist die Summe der Frauen, die zählt»

Der Druck auf die Geschäftsleitung ist gestiegen, so viel ist klar. Wobei den Unterzeichnenden wichtig zu betonen ist, dass der unterschriebene Brief für den internen Gebrauch gedacht war. «Dass der Brief mit allen Unterschriften geleakt wurde, hat uns überrascht», sagt die Mitarbeiterin. Aber natürlich sei der Druck von aussen ein Faktor, den man miteinberechnet habe. «Wir sind Medienmacherinnen, wir wissen, wie Journalismus funktioniert.»

Mehrere Unterzeichnende bestätigen gegenüber annabelle, dass der Brief nicht bewusst einer Person zugestellt wurde, die ihn auf Twitter veröffentlichen sollte, wie die Journalistin Jolanda Spiess-Hegglin es auf Twitter darstellte. Es gehe nicht darum, einzelne Unterzeichnende hervorzuheben – oder Frauen, die den Brief nicht unterschrieben hätten, an einen Pranger zu stellen. «Es ist ein Gemeinschaftswerk und so soll es auch verstanden werden. Man darf niemanden zwingen, sich solidarisch zu zeigen. Es ist die Summe der Frauen, die zählt. Und das Anliegen, das dahintersteckt», sagt die Mitarbeiterin weiter.

«Wer entscheidet, was schlimm ist?» 

 Der offene Brief erinnert an die #swissmediatoo-Kampagne, die letzten Dezember auf Instagram lanciert wurde – mit dem Unterschied, dass es bei diesem Account in erster Linie um sexuelle Belästigung ging.  

Die Bandbreite an Beispielen aus dem offenen Brief ist gross. Von «Du bist forsch» bis hin zu «Du bist hübsch, du bringst es sicher noch zu was» oder «Es gibt hier was zu Frisuren. Die Frauen im Team wären gefragt». Doch: Ist es tatsächlich schon sexistisch, einer Mitarbeiterin ihre forsche Art vorzuwerfen? Ja, findet die Mitarbeiterin: «Wir wollten die sexistische Struktur dahinter abbilden, die sich manifestiert. Unsere Botschaft ist: Es geht auch um die diffusen Sachen. Man weiss manchmal gar nicht: Reagiere ich über? Oder nicht? Oft traut man sich gar nicht mehr, sich angegriffen zu fühlen, weil man verinnerlicht hat, dass man nicht hysterisch reagieren darf. Und ausserdem: Wer ist die Instanz, die sagt, was schlimm ist und nicht?»

«Sexistische Bemerkungen werden nicht toleriert»

Warum wurde auf all die geschilderten Situationen nicht reagiert? Warum wurde ein Mitarbeiter, der seiner Kollegin an den Kopf wirft, «bei dir im Hintergrund schreit ein Kind, habe ich das mit dir gezeugt?» nicht zurechtgewiesen?

Das Problem, das ist für die Mitarbeiterin klar, ist die Führungsetage. Die Mitarbeiterin hat selbst erlebte Beispiele dem offenen Brief hinzugefügt: «Ich habe versucht, zu reagieren oder es an meine Vorgesetzten weiterzuleiten. Sanktionen gab es keine.» Denn nicht selten seien die Männer in den Chefsesseln die Sender solcher Botschaften. «Das sind teilweise die grössten Problemmänner. Es herrscht eine von Männern dominierte Kultur – und diese Kultur wird von oben definiert.»

«Sexistische Bemerkungen sind für mich nicht tolerierbar. Wenn ich je davon gehört habe, habe ich die Betreffenden auch entsprechend zurechtgewiesen», sagt Rutishauser. Die im Brief geschilderten sexistischen Sprüche seien nicht in seiner Anwesenheit gefallen, er habe keines der Erlebnisse wiedererkannt. «Andere Situationen, wo es darum ging, dass eine Kollegin keine Lohnerhöhung erhalten hat oder ihrem Stellenwunsch nicht entsprochen wurde, schon. Solche Situationen gibt es, bei Männern und bei Frauen. Zudem leben wir im Zeitalter von Mobile-First. Das heisst, dass man bei allen Themen, auch bei Gender-Themen, darüber diskutiert, ob sie auf Publikumsinteresse stossen und wie man sie allenfalls anders präsentieren soll, wenn das nicht der Fall ist.» Damit nimmt Rutishauser wohl auch zum Vorwurf Stellung, die Berichterstattung zum Frauenstimmrecht sei infrage und als zu wenig relevant dargestellt worden.

«Es herrscht eine von Männern dominierte Kultur – und diese Kultur wird von oben definiert.»

Mitarbeiterin von Tamedia

Wurde Stalking hingenommen?

Wie Recherchen von annabelle zeigen, hat ausserdem ein Mitarbeiter in leitender Funktion vor etwa drei Jahren eine seiner Angestellten gestalkt, sei etwa bei ihr zuhause vor der Türe aufgetaucht. Rutishauser wusste davon, wie er gegenüber annabelle bestätigt. Er schreibt: «Für mich war es ein Grenzfall zum Stalking». Sanktionen gab es nicht, stattdessen wurde dem Mitarbeitenden vom Unternehmen ein Coach zur Seite gestellt.

Gemäss Rutishauser gab es keinen «sexistischen Zusammenhang»: «Es ging um eine Mitarbeiterin, die über längere Zeit krank gemeldet und nicht mehr erreichbar war. Der Ressortleiter hat bei ihr zuhause geläutet.» Der Fall sei ihm gemeldet worden. «Ich habe dem betreffenden Ressortleiter klar gesagt, dass das absolut nicht geht. Es gab mehrere Aussprachen, mit mir und innerhalb des Ressorts.» Laut der Tamedia-Mitarbeiterin will sich die betroffene Kollegin heute nicht mehr zu dem Fall äussern. Der Vorfall sei jedoch in der Redaktion diskutiert worden: «Ich – und andere Redaktorinnen – haben versucht, unseren Chefs zu erklären, dass man sich als Frau nicht sicher fühlt in diesem Unternehmen.»

Rutishauser scheint von der Angst im entsprechenden Ressort erfahren zu haben, denn er verweist darauf, dass nach dem sogenannten «Stalking-Grenzfall» beschlossen wurde, die Mitarbeitendengespräche von zwei weiteren Angestellten mit einem Mitglied der Chefredaktion zu führen. «Eine Frau wurde einem anderen Vorgesetzten zugeteilt», schreibt er. Der Vorgesetzte ist nach wie vor angestellt.  annabelle wurde dieser Stalking-Fall von zwei weiteren Angestellten bestätigt.

«Es ist mutig»

Priska Amstutz schätzt den Mut ihrer Kolleginnen. «Es ist mutig, so einen Brief rauszuschicken. Dass eine Kultur herrscht, in der man sich wehren will und auch mal laut wird, ist viel wert.» Die Gruppe um Amstutz wird sich morgen zu einer nächsten Sitzung treffen. Dort werde man die nächsten Schritte besprechen. Laut Arthur Rutishauser werden in einem nächsten Schritt Vertrauenspersonen definiert, an die sich alle wenden könnten, die Ungerechtigkeit in ihrem Arbeitsalltag erleben würden. «Für die Redaktionen wurde Claudia Blumer mit dieser Aufgabe betraut. Dies in Ergänzung zu den bereits bestehenden Stellen für Betroffene von sexueller Belästigung, Mobbing sowie Diskriminierung.» Man werde auch eine Befragung zum Redaktionsklima durchführen und sich Gedanken machen zu Arbeitsmodellen. «Unsere letzte Lohnanalyse im 2019 hat keine Diskriminierung festgestellt. Wir werden das aber nochmals prüfen.»

Die Mitarbeiterin hofft, dass sich nun – mit dem zusätzlichen Druck von aussen – etwas tut. Bevor noch mehr Mitarbeiterinnen künden. «Bevor ich gehe, will ich machen, was möglich ist.» Weitere Abgänge sollen verhindert werden, heisst es auch im Brief. Auf Nachfrage, ob Rutishauser jeweils die Firmenkultur oder Ungleichbehandlung als Kündigungsgrund genannt wurde, relativiert dieser: «Es gibt immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die kündigen, weil sie ein bessere Stelle mit mehr Lohn in Aussicht haben, und es gibt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die kündigen, weil es ihnen bei uns nicht gefällt.»

* In einer früheren Version dieses Textes hätte der Anschein erweckt werden können, dass die Frau, die sich von ihrem Chef gestalkt fühlte, direkt mit annabelle Kontakt hatte. Dies war nicht der Fall. Sie bat die Redaktion über Dritte, dies zu ändern. Wir haben es dementsprechend angepasst.

** Arthur Rutishauser möchte in einer nachgereichten Aussage sein autorisiertes Zitat präzisieren: «Es war ein Fehler, dass der Ressortleiter bei der Mitarbeiterin geklingelt hatte, aber es war kein Stalking-Fall.»

*** Tamedia legt in einer nachgereichten Stellungnahme Wert auf folgende Feststellung: «Wir haben den Fall nochmals geprüft. Das Verhalten des Mitarbeiters, in den Ferien eine Kollegin ohne deren Einverständnis aufzusuchen, war inakzeptabel und eine Grenzüberschreitung. Es entspricht nicht den Standards unseres Unternehmens.»

Zum Medienunternehmen Tamedia gehören zahlreiche Medientitel wie «Tages-Anzeiger» oder «Basler Zeitung». Arthur Rutishauser ist Chefredaktor von der Redaktion Tamedia und Sonntagszeitung. Er ist zudem Mitglied der Geschäftsleitung von Tamedia. Mario Stäuble und Priska Amstutz amten zusammen als Co-Chefredaktion des «Tages-Anzeigers».

Subscribe
Notify of
guest
3 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Stj

Eigentlich geschah hinter dem Ganzen noch VIEL MEHR !!!
Frauen konnten aus Angst nicht alles darlegen. Sie wären direkt erkannt worden und müssten ev. um die Stelle fürchten – und noch viel mehr um das noch schlimmere Klima.
Welche Männer es genau betrifft, ist in TaMedia längst bekannt, wurde jedoch auf der Chefetage schlicht ignoriert !

lisa

vielen dank für diesen so wichtigen hintergrundbericht.
kleine anmerkung, ihr schreibt “Frauen von den Standorten Basel, Bern, Bülach, Interlaken, Thun und Winterthur”. Da würde Zürich doch noch dazugehören?
Danke euch!

Kerstin Hasse

Danke, das ist natürlich ein kleiner Fehler, der sich eingeschlichen hat. Freundliche Grüsse, Kerstin Hasse