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Sie tötete ihren Mann aus Notwehr: Der Fall Yasemin

Politik

Sie tötete ihren Mann aus Notwehr: Der Fall Yasemin

Nach jahrelangem Martyrium ersticht Yasemin ihren Ehemann mit einem Küchenmesser. In ihrer Heimat wird sie dafür zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Sie flieht mit ihrem Kind und ersucht bei uns um Asyl. Gewährt ihr die Schweiz die Chance auf ein neues Leben? Die Chronologie eines Präzedenzfalls.

Es war der Vorabend jenes unheilvollen Tages, an dem Yasemin ihren Mann töten würde. Sie stritten sich über eine Nichtigkeit, über fehlende Windeln für das Baby. Er schlug sie und schloss sie und das Kind im Schlafzimmer ein. Yasemin riss das Fenster auf, schrie um Hilfe, einige Passanten blickten hoch, gingen aber weiter. Vielleicht hatten sie die Hilferufe einfach nicht gehört, denn Yasemin und ihre kleine Familie lebten im 20. Stock eines Hochhauses. Das Baby weinte die ganze Nacht, es war hungrig, seine Windeln waren durchnässt.

Als der Muezzin um fünf Uhr zum Morgengebet rief, schlief Yasemin erschöpft ein. Als sie erwachte, stand die Tür zum Schlafzimmer offen, das Baby war verschwunden. Durch das Fenster sah sie, wie ihr Mann in einen Laden ging, das Baby auf seinem Arm, sie hoffte, er hätte sich beruhigt. Doch als er zurückkam, brüllte er sie an, das Baby fing an zu weinen. Yasemin nahm all ihren Mut zusammen und bat ihn, sie gehen zu lassen. Er schloss die Wohnungstür ab und warf den Schlüssel aus dem Fenster. «Hier kommt niemand lebendig heraus», schrie er. «Erst bringe ich euch um, dann mich selbst.»

Krachend verrückte er Tische und Stühle, folgte Yasemin in die Küche und begann, sie mit einem Gurt zu verprügeln. Dann legte er ihr den Gurt um den Hals. Von diesem Moment an sind ihre Erinnerungen bruchstückhaft:

«Ich spürte, dass meine Hände und Füsse taub wurden.»

«Ich sah, dass er versuchte, das Baby, das auf dem Boden lag, mit seinem Fuss zu erwürgen.»

«Ich sah, wie die Lippen des Babys blau wurden.»

«Ich ergriff eine Kaffeetasse und schleuderte sie ihm an den Kopf.»

«Er liess mich los. Ich nahm ein Frühstücksmesser vom Tisch und stiess es ihm in den Bauch.»

«Als er mit seiner Wunde beschäftigt war, erinnerte ich mich daran, dass ich in meinem Sparschwein einen Ersatzschlüssel versteckt hatte. Ich zerschlug es und nahm den Schlüssel.»

«Das Baby hatte blaue Flecken.»

«Ich hob es auf – und stach noch einmal zu.»

«Er sass auf einem Küchenstuhl. Ich rannte aus der Wohnung, die Treppen hinunter. Unten bat ich einen Securitaswächter, die Ambulanz zu rufen.»

Als die Polizei eintraf, so hiess es später im Rapport, hatte Yasemin ein Messer in der Hand und weinte. Sie stand unter Schock, hielt das Kind in ihren Armen. Ihr Mann erlag später im Spital seinen Verletzungen.

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«Ich wollte nie jemandem schaden. Ich wollte nur mein Leben und das meines Kindes retten»

Yasemin

Yasemin und ich begegnen uns zum ersten Mal im Juni letzten Jahres. Ich hatte über eine Bekannte von ihr gehört und sie um ein Treffen gebeten. Zu meiner Überraschung sagte Yasemin sofort zu. Es ist später Nachmittag. Auf der Terrasse des Gemeinschaftszentrums ist es immer noch heiss, die Tischplatten sind klebrig. Yasemin, dreissig Jahre alt, ist erst seit sechs Monaten in der Schweiz und spricht kein Wort Deutsch. Sie hat eine Freundin mitgebracht, die für uns übersetzt.

Sie erzählt ihre Geschichte, um anderen Frauen eine Stimme zu geben

Yasemin wirkt schüchtern, fast introvertiert, gleichzeitig aber auch sehr entschlossen. Sie ist gekommen, sagt sie, weil sie ihre Geschichte erzählen will – nicht nur, um sie dadurch für sich selbst erträglicher zu machen, sondern um auch all jenen Frauen eine Stimme zu geben, die ein ähnliches Schicksal haben wie sie; Frauen auf der ganzen Welt, besonders aber in ihrer Heimat.

Seit Jahren sorgt die Gewalt an Frauen in der Türkei international für Schlagzeilen. Die Plattform «Wir werden die Frauenmorde beenden» zählte 2019 insgesamt 474 Femizide, 2020 waren es erneut über 400, allein bis Ende März dieses Jahres starben 88 Frauen durch die Hand eines Täters, meist Ehemänner, Ex-Partner, Arbeitskollegen. Manchmal aber geschieht es, dass Frauen den Spiess umdrehen; dass sie töten, um zu überleben. So wie Yasemin es getan hat.

Als eine Richterin sie fragte: «Bereust du?», antwortete sie: «Ich wollte nie jemandem schaden. Ich wollte nur mein Leben und das meines Kindes retten.» Yasemin wurde in erster Instanz freigesprochen. Das Gericht befand, sie habe ihren Mann aus Notwehr umgebracht. Doch kurz darauf hob die Staatsanwaltschaft den Freispruch wieder auf, mit der Begründung, sie hätte doch vorsätzlich gehandelt.

Die Vorstellung, ihr Kind zu verlieren, war für sie unerträglich

Auf die vorsätzliche Tötung des Ehepartners, der Eltern oder eines Kindes steht gemäss türkischem Strafrecht eine lebenslange Haftstrafe von maximal 36 Jahren. Kommen mildernde Umstände hinzu – in Yasemins Fall die häusliche Gewalt, die ihr angetan wurde – kann sich das Strafmass auf 12 bis 18 Jahre verringern. Da Frauen aber nicht mehr als urteilsfähig gelten, wenn sie ins Gefängnis müssen, werden Kinder ab fünf Jahren ihren Müttern weggenommen und der Vormundschaftsbehörde übergeben. Wäre Yasemin kinderlos, hätte sie sich dem Risiko einer Gefängnisstrafe gestellt. Doch die Vorstellung, ihr Kind zu verlieren, war für sie unerträglich.

Sie floh aus dem Land und beantragte Asyl in der Schweiz. Seither lebt sie mit ihrem Kind in einem Flüchtlingsheim. Aufgrund der Komplexität ihrer Geschichte gilt ihr Asylgesuch als Präzedenzfall. Yasemin erteilt mir Einsicht in ihre Akten. Zu ihrem Schutz einigen wir uns darauf, weder ihren Aufenthaltsort noch ihren vollen Namen zu nennen.

Yasemins Geschichte beginnt in einem Quartier in Istanbul, das mehrheitlich von kurdischen Grossfamilien bewohnt ist: eine geschlossene Gesellschaft. Ihre Eltern waren stets sehr traditionsverbunden, doch unter dem Einfluss der islamistisch-konservativen Regierungspartei AKP immer religiöser geworden. Wochenlang hatte sich Yasemin mit ihrer Mutter gestritten, weil sie sich weigerte, das Kopftuch anzuziehen, irgendwann gab ihre Mutter auf. Von da an galt Yasemin als Fremdkörper in ihrer Familie.

«Wir geben dich deinem Cousin»

Bald machten auch die Brüder Druck: Ihre Schwester sollte verheiratet werden. «Wir geben dich deinem Cousin», sagte ihre Mutter. Er war ein älterer Mann und sehr verliebt in Yasemin. Aber sie wehrte sich, sie war erst 13 Jahre alt, wollte zur Schule, später vielleicht sogar studieren. «Hätte ich meinen Cousin geheiratet, wäre ich gezwungen gewesen, zu ihm aufs Dorf zu ziehen und einen Nikab zu tragen», sagt sie. «Also gab ich vor, bereits einen anderen zu lieben. Ich hatte einen 26-jährigen Mann im Auge, den Bruder einer Kundin, die ab und zu ins Textilgeschäft kam, in dem ich aushalf. Ich hatte ihn ein paar Mal gesehen. Er war attraktiv und gebildet, zudem stammte er aus einer wohlhabenden Familie.»

Sie rechnete damit, dass ihr Cousin niemals ein Mädchen heiraten würde, das die «Schamlosigkeit» besass, sich selber einen Mann auszusuchen. Und zugleich ging sie davon aus, dass ihr Vater dieser vorgespielten Ehe mit dem jungen Unbekannten keinesfalls zustimmen konnte. Doch ihre Rechnung ging nicht auf. Ihr Vater war beeindruckt von dessen Geschenken, als dieser um seine Tochter warb, und sagte Ja.

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«Besonders grausam war er, wenn er getrunken hatte, dann wusste er nicht mehr, was er tat. Es war eine jahrelange Folter»

Yasemin

Am ersten Tag nach der Verlobung zerschnitt ihr Mann ihre SIM-Karte

Am ersten Tag nach der Verlobung zerschnitt ihr Mann ihre SIM-Karte und gab ihr ein neues Telefon mit einer neuen Nummer. «Jetzt beginnt ein anderes Leben», habe er ihr gesagt. Arbeiten durfte sie nicht mehr. Yasemin, die gehofft hatte, dass dieses Arrangement trotz allem ein Weg in die Freiheit sein könnte, haute ab. Reiste mit dem Bus zu ihrer Tante in die Provinz. Zwei Tage dauerte die Fahrt. Kaum aber hatte die Tante erfahren, dass ihre Nichte zu ihr unterwegs war, informierte sie die Familie. Als Yasemin ankam, erwartete sie einer ihrer Brüder am Busbahnhof, packte sie an den Haaren und flog mit ihr nach Istanbul zurück.

Die Gewalt kam praktisch auf der Stelle – und folgte ihr wie ein Schatten

Fast unmittelbar darauf wurden Yasemin und ihr Verlobter verheiratet. Die Gewalt kam praktisch auf der Stelle – und folgte ihr wie ein Schatten. Yasemin beschreibt ihr Martyrium so: «Ich wurde fast täglich beschimpft. Geschlagen. Angekettet. Verbrüht. Gebissen. Mit Messern gestochen. Besonders grausam war er, wenn er getrunken hatte, dann wusste er nicht mehr, was er tat. Es war eine jahrelange Folter.» Ihre Stimme bricht, doch ihr Gesichtsausdruck bleibt seltsam unbeteiligt, es ist, als beschriebe sie das Leiden von jemand anderem. Vage deutet sie an, dass immer auch massive sexualisierte Gewalt dabei gewesen war, doch näher darauf eingehen will sie nicht. Besorgt schlage ich vor, dass wir abbrechen oder das Thema einfach nur umreissen, um sie nicht zu retraumatisieren. Doch Yasemin schüttelt den Kopf. In ihren Augen liegt der hartnäckige Trotz einer Läuferin, die sich aufgemacht hat, einen Weg zu gehen, dessen Ende nicht absehbar ist.

Oft kam Yasemin mit Verletzungen ins Spital, immer wieder floh sie ins Frauenhaus, und immer wieder holte einer ihrer Brüder sie zurück, besorgt um die Ehre der Familie. Ein Gericht ordnete Schutzmassnahmen an, wies ihren Ehemann für einen Monat vom Haus weg. Danach war alles wie zuvor. Gute Momente erlebte sie nur bei ihrer Schwiegermutter, die einzige Person, die sie besuchen durfte. Als Yasemin ihr Kind bekam, holte diese sie sogar für ein paar Monate zu sich, bei ihr bleiben konnte sie jedoch nicht.

«Wenn du solche Gewalt erlebst, verlierst du deinen Verstand»

Vorsichtig frage ich, weshalb sie, die einst doch so rebellisch gewesen war, nicht damals schon geflohen sei. Sie zögert. «Wenn du solche Gewalt erlebst, verlierst du deinen Verstand», antwortet sie dann. «Du glaubst nicht mehr, dass es auf der anderen Seite der Tür etwas Besseres für dich gibt. Ich war überzeugt davon, ein schlechter Mensch zu sein, dass diese Kontrolle über mein Leben und diese Qualen mein Schicksal seien. Zudem hatte ich keinen Zufluchtsort. Wohin hätte ich gehen sollen?»

«Männer schlagen, verletzen, töten. Aber vor Gericht tragen sie schöne Anzüge und entschuldigen sich»

Fethiye Yalcin, Rechtsanwältin

Yasemin sah sich in einer Sackgasse gefangen. Denn wie in so vielen Ländern herrscht auch unter den Behörden in der Türkei noch immer die Auffassung vor, Gewalt an Frauen sei ein Kavaliersdelikt. Häusliche Gewalt wird kaum geahndet. «Männer schlagen, verletzen, töten. Aber vor Gericht tragen sie schöne Anzüge, blicken zerknirscht und entschuldigen sich. In den meisten Fällen erhalten sie nur sehr milde Strafen und werden schnell wieder freigelassen», erklärt Fethiye Yalcin, Rechtsanwältin in Zürich, die türkische Mandantinnen und Mandanten berät und auch den Fall von Yasemin kennt.

Diese frauenverachtende Haltung, betont sie, stehe in scharfem Kontrast zur Vorreiterrolle, die die Türkei einnahm, als sie 2012 als erstes Land die sogenannte Istanbul-Konvention ratifizierte; das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt. Die Schweiz, zum Beispiel, zog erst 2017 nach. «Die Krux ist, wir haben eigentlich die Gesetze, um Frauen zu schützen», sagt Yalcin, «nur werden sie in der Praxis kaum angewendet.»

Zu gross wäre die Schande, wenn sich die Tochter scheiden liesse

Auf den türkischen Polizeidienststellen seien Fachpersonen für häusliche Gewalt rar, zudem bemühe sich die Polizei, oft aber auch die Familie der betroffenen Frau, das Paar nach einem Streit wieder zu versöhnen. In konservativen Kreisen würden Frauen häufig regelrecht zur Versöhnung gezwungen, denn zu gross wäre die Schande, wenn sich die Tochter scheiden liesse oder der Ehemann bestraft würde. Seit vergangenem Jahr hat die Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan immer lauter über einen Ausstritt aus der Istanbul-Konvention nachgedacht. Fundamentalistische Kräfte, Erdogans stärkste Wählergruppe, halten die Konvention für einen «Angriff auf die moralische Integrität der Familie».

«Dies bereitet den Nährboden dafür, dass Frauen, die für ihre Rechte kämpfen oder gar aus Notwehr töten, umso härter bestraft werden», erklärt Fethiye Yalcin. «Wohl gerade deswegen gelangen immer mehr Frauen zur Überzeugung, dass sie das Recht haben, sich zu wehren. Und das ist gefährlich für die Regierung.» Vor wenigen Wochen setzte die Türkei ihre Absichten in die Tat um: Sie trat – trotz internationaler Proteste – aus der Istanbul-Konvention aus.

Yasemin und ich sehen uns wieder an einem Samstagmorgen im September 2020. Wir haben uns in einem Strassencafé verabredet. Stolz erzählt sie, dass ihr Kind unterdessen zur Schule gehe und sie selbst endlich angefangen habe, Deutsch zu lernen. Sie besucht einen Sprachkurs, der von der Kirchgemeinde angeboten wird. Ob sie denn bereits auch ein Lieblingsessen habe? «Spaghetti alle vongole», ruft sie und lächelt – ein überraschend kraftvolles Lächeln, das sie einige Sekunden lang fast schon unbeschwert erscheinen lässt.

«Sie hat Angst, dass sie ihr Kind verlieren wird»

Wenige Monate vor diesem Treffen hat Yasemin erfahren, dass ihre Haftstrafe in der Türkei auf 15 Jahre festgelegt worden ist. Das Urteil, das in ihrer Abwesenheit gefällt wurde, ist rechtskräftig. Da aber die Hälfte der Richter Rekurs eingelegt haben, wird es ans Bundesgericht in Ankara weitergezogen. Yasemin Augen füllen sich plötzlich mit Tränen, sie sagt etwas mit gedrückter Stimme. Die Übersetzerin legt ihre Hand auf Yasemins Arm, redet ihr leise zu. «Sie hat Angst, dass sie ihr Kind verlieren wird», erklärt sie mir dann. «Yasemin realisiert erst langsam, dass sie hier in der Schweiz in Sicherheit ist.» Als sie bei einer Anhörung im Asylzentrum vom neuen Strafmass erzählt, glaubt man ihr erst nicht, weil der neue Richterspruch unter ihrer ID-Nummer online nicht ersichtlich war. Doch sie konnte belegen, dass das türkische Innenministerium die Daten bloss verspätet nachgetragen hatte.

Ihr Baby band sie sich nachts ans Bein

Nach der Tat sass Yasemin in der Türkei drei Jahre in Untersuchungshaft, 1095 Tage lang. Zunächst mit zwanzig Frauen in einer Zelle, später zu fünft in einem kleinen Raum ohne Warmwasser. Es gab ein grosses Doppelhochbett, einen Schrank, es war so eng, dass sich die Frauen seitlich zur Tür herausschieben mussten, wenn sie den Raum verlassen durften. Yasemin schlief im oberen Bett. Ihr Baby band sie sich nachts ans Bein, um zu verhindern, dass es herunterfiel.

Sie zog sich zurück, vertraute niemandem, nicht einmal mehr ihren Anwältinnen. Insgesamt fünfzehn Mal wurde sie zu Gerichtsverhandlungen vorgeladen, doch jedes Mal schwieg sie – unfähig, sich zu verteidigen. Sie erhielt Medikamente, um sich an den Tathergang erinnern zu können. Nach einem Selbstmordversuch wurde sie schliesslich in die Psychiatrie eingewiesen. Dort entdeckte ein Arzt ihre Narben; an den Armen, am Rücken, an den Beinen. Das war der Wendepunkt. Er fragte sie: «Wissen deine Anwältinnen von deinen Verletzungen?» – «Nein», entgegnete Yasemin. «Ich schäme mich, sie zu zeigen.» Der Arzt reichte ihr Papier und ein paar Hefte: «Versuch, aufzuschreiben, was du erlebt hast.» Das tat sie. Aufgrund ihres Berichts veranlasste ein Richter eine gerichtsmedizinische Untersuchung, in der die Spuren ihrer jahrelangen Misshandlungen detailliert festgehalten wurden.

«Vorher war ich bloss eine Hausfrau, die Rezepte aufzählen konnte. Im Gefängnis fing ich an, mich mit anderen Augen zu sehen»

Yasemin

Die Zeit im Gefängnis empfand sie auch als Lehrgang

Die Wende erhielt zusätzliche Schubkraft durch eine Frau: Meric Eyüboglu, eine der unerschrockensten feministischen Anwältinnen in der Türkei. Sie nahm sich Yasemins Fall an – und wurde zu ihrer treusten Weggefährtin. «Ich habe ihr auf Anhieb vertraut», betont Yasemin. «Meric war die Erste, die zu mir durchdrang. Dank ihr habe ich angefangen, mich mit Frauenrechten zu beschäftigen, was mir ein ganz neues Bewusstsein vermittelt hat.» Dadurch habe sie die Zeit im Gefängnis nicht nur als düster empfunden, sondern auch als Lehrgang. «Wie ein Uni-Abschluss der anderen Art.» Yasemin lächelt. «Vorher war ich bloss eine Hausfrau, die Rezepte aufzählen konnte. Im Gefängnis fing ich an, mich mit anderen Augen zu sehen. Ich habe sogar gelernt, Schach zu spielen. Nur schon zu wissen, dass ich das kann, hat mich verändert.»

Am Tag, an dem Yasemin freigesprochen wurde, schlugen alle Gefängnisinsassinnen an die Türen, so wie sie es immer tun, wenn eine aus ihren Reihen in die Freiheit entlassen wird. Zum Abschied schenkten sie ihr ein Armband aus winzigen weissen Plastikperlen; jede Perle symbolisiert eine Frau, die mit ihr im Gefängnis gesessen hatte, und einen Wunsch, den Yasemin an ihrer Stelle erfüllen sollte: «Kannst du ein Glas Wein für mich trinken?» – «Einen Tee?» – «Oh, bitte, geniesse für mich einen Kaffee in einem schönen Lokal!» Dann verschränkten sie ihre Hände und trugen Yasemin und ihr Kind zum Tor des Gefängnisses.

«Frauen, Leben, Freiheit!»

Draussen wurde sie von einer jubelnden Menschenmenge empfangen. Denn ihr Fall hatte im ganzen Land ein enormes Medienecho ausgelöst. Übermütig streckte sie ihre Arme in die Höhe und rief auf Kurdisch: «Frauen, Leben, Freiheit!» Ihr Bruder und Vater, die gekommen waren, um sie abzuholen, zerrten sie ins Auto. «Wie kannst du es wagen, einen solchen Spruch rauszulassen», schrie ihr Bruder. «Das bringt dich gleich wieder hinter Gitter.» Als Yasemin durch die Tür ihres Elternhauses trat, fiel ihr Blick als Erstes auf die Polstergruppe. Ihr Mann hatte sie einst ihren Eltern nach einer Prügelattacke als Zeichen der Wiedergutmachung gekauft. In diesem Moment war es, als grinse ihr die Vergangenheit ins Gesicht. Im ganzen Haus hingen keine Bilder mehr von ihr. Es war, als wäre Yasemin tot.

«Wir wussten sofort, dass ihre Geschichte wichtig ist für jede Frau, die sich je gegen männliche Gewalt zur Wehr gesetzt hat»

Fulya Dagli, Menschenrechtsanwältin

Doch draussen vor der Tür wurde ihr zwischenzeitlicher Freispruch gefeiert wie ein Sieg; von Frauengruppen, Journalistinnen, ja, sogar von Polizistinnen im ganzen Land. «Wir wussten sofort, dass ihre Geschichte wichtig ist für jede Frau, die sich je gegen männliche Gewalt zur Wehr gesetzt hat», erklärt die 27-jährige Menschenrechtsanwältin Fulya Dagli. Sie hatte den Fall damals als Mitglied einer feministischen Organisation vor Gericht mitverfolgt. «Yasemin gibt all diesen Frauen ein Gesicht, und dafür wird sie geliebt und bewundert.»

«Die Frau wird in ihrem Kampf ums Überleben allein gelassen»

An ihrem Beispiel zeige sich das Versagen des Staates, Frauen vor Gewalt zu schützen. «Eine Frau kann unzählige Mal zur Polizei gehen, wirklich getan wird letztlich aber kaum etwas. Im Gegenteil: Sie wird in ihrem Kampf ums Überleben allein gelassen.» Die aktuelle türkische Familienministerin hat den Austritt ihres Landes aus der Istanbul-Konvention damit begründet, dass der Staat stark genug sei, um Frauen zu schützen. Als ich das einwerfe, lacht Fulya Degli bitter auf. «Die Türkei ist das erste Land, das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schuldig gesprochen wurde, weil es Frauen eben nicht ausreichend vor männlicher Gewalt schützt.»

Seit den Gezi-Protesten 2013 seien die Regierung immer konservativer geworden und die wirtschaftliche Lage immer schlechter. Diese Mischung aus zunehmender Islamisierung, patriarchalen Strukturen und wirtschaftlichem Druck habe die Gewalt an Frauen verstärkt. «Die Regierung versucht nun, sogar ein Gesetz durchzubringen, das einem Vergewaltiger die Strafe erlässt, wenn er sein Opfer heiratet, unabhängig davon, ob es minderjährig ist oder nicht», fügt sie lakonisch hinzu – ein Gesetz, das in Marokko, Jordanien oder Tunesien notabene vor einigen Jahren abgeschafft worden ist.

«Sie ist eine Hoffnung für uns alle»

Bis jetzt hätten sich Frauenrechtsorganisationen und selbst Recep Tayyip Erdogans eigene Tochter erfolgreich dagegen gewehrt. Doch wie lang noch? «Derzeit bemüht sich die Regierungspartei hauptsächlich darum, die traditionelle Familie zu schützen, selbst wenn dies bedeutet, dass Frauen sterben», so Fulya Dagli. «Frauen, so lautet das Credo, sollen in erster Linie zuhause bleiben und Kinder gebären. Und die Religion wird benutzt, um diese Politik zu legitimieren.» Vor diesem Hintergrund erhalte eine Figur wie Yasemin zusätzliche Strahlkraft. «Sie ist eine Hoffnung für uns alle.»

Sie sagte ihren Eltern, sie würde nur kurz Brot holen gehen

Yasemins Flucht vor ihrer Familie verlief so unspektakulär, dass sie erst niemandem auffiel: Sie sagte ihren Eltern, sie würde nur kurz Brot holen gehen. Dann verliess sie das Haus mit ihrem Kind, in der Tasche zehn türkische Lira und das Telefon. Dreissig Minuten später wurde sie von ihrer Anwältin abgeholt und zu einer Freundin gebracht. Nach zwei Wochen fand man eine Wohnung für sie und einen Bürojob auf der Gemeinde. Das Kind erhielt eine Waisenrente von der Sozialversicherung. Doch nur kurze Zeit später spürte sie einer ihrer Brüder auf und bedrohte sie mit seiner Waffe. Er wollte sie nachhause zurückholen, sie sollte wieder verheiratet werden, um die Schande zu tilgen, die sie über die Familie gebracht hatte. Der Bruder wurde weggewiesen, Yasemin verlor ihre Arbeit. Es hiess, man könne sie nicht mehr beschützen.

Trotzdem kappte Yasemin ihre Beziehung mit der Familie nicht völlig. Stand im Kontakt mit ihren beiden Schwestern, ab und zu traf sie sich mit dem ältesten Bruder. Dieser hatte sich stets aus allem rausgehalten, verhielt sich «neutral», wie es Yasemin formuliert. Als sie dann eines Tages erneut einen Gerichtstermin hatte, bot er ihr an, ihr Kind aus der Krippe zu holen. Das war aussergewöhnlich, dankbar nahm sie seine Hilfe an. Nichts deutete auf die Katastrophe hin, die sich an diesem Tag ereignen sollte. «Ich kam vom Gericht nachhause und sah auf meinem Handy, dass mein Vater unzählige Male versucht hatte, mich zu erreichen», erinnert sich Yasemin. «Er sagte mir, dass mein Bruder einen Unfall gehabt habe, eine Glasscheibe sei ihm auf den Kopf gefallen. Und dass mein Bruder jetzt im Spital sei und mein Kind danach abholen werde.»

Yasemin stürzte auf die Strasse, rief ein Taxi. Vor dem Spital standen Polizeiautos und eine Ambulanz. «Ich sah erst meinen Bruder, er hatte einen Verband um den Kopf. Und dann», ihre Stimme zittert, «dann sah ich, wie mein Kind auf einer Bahre in die Ambulanz geschoben wurde, es war an Apparate angeschlossen und ganz blau im Gesicht. Der Arzt sagte mir, mein Kind habe eine Hirnblutung erlitten und müsse in ein grösseres Spital gebracht werden.» Sie hält inne, sucht nach einem Taschentuch. «Es war das Schlimmste, was ich je erlebt hatte.»

Ein Wunder, dass das Kind überlebt habe

Später eröffnete ihr der Staatsanwalt, die Untersuchung hätte ergeben, dass dem Kind mehrmals mit einem harten Gegenstand auf den Kopf geschlagen worden sei – wohl in der Absicht, es zu töten. Es sei ein Wunder, dass es überlebt habe. Das Kind blieb 22 Tage lang im Spital. Die Täter konnten nie eruiert werden.

Yasemin brach zusammen, fiel in eine schwere Depression. Sie fand zwar einen Job als Pflegerin und konnte auch mit ihrem Kind bei der Frau wohnen, um die sie sich kümmerte. Doch sie lebte in ständiger Angst, schickte ihr Kind nicht mehr in die Krippe, benachrichtigte stets eine ihrer Freundinnen, wenn sie aus dem Haus ging. Und kurz darauf vernahm Yasemin auch noch von ihrer Anwältin, dass ihr erstinstanzlicher Freispruch widerrufen worden war und ihr nun eine langjährige Haftstrafe drohte – und der Entzug ihres einzigen Kindes.

Yasemin war verzweifelt. Sie wusste: «Egal, wo ich bin und was ich auch tue, meine Vergangenheit wird mich immer einholen. Ich bin nur eine Mörderin, mehr bin ich nicht. Das wird mich ein Leben lang verfolgen.» – Sie entschloss sich zur Flucht. Yasemin besass einen Pass, ein Reiseverbot war ihr nicht auferlegt worden. Ihre Unterstützerinnen sammelten Geld für ein Schengen-Visum. Ungehindert gelangte sie zum Flughafen, bestieg mit ihrem Kind ein Flugzeug nach Griechenland. Zwei Tage später landeten sie in der Schweiz.

Für die Behörden in der Schweiz ist die Geschichte von Yasemin ein Präzedenzfall. Denn Fakt ist: Ihr direkter Gefährder ist tot. Sie selber hat – wenn auch in Not – ein Tötungsdelikt begangen, dafür wurde sie zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt. Wann die letzte Instanz in Ankara das finale Urteil fällen wird, ist ungewiss. Die Türkei ist kein Kriegsgebiet, sondern Mitglied der NATO, mit der auch die Schweiz kooperiert. Das macht den Fall kompliziert. Auch politisch.

Gemäss Handbuch des Staatssekretariats für Migration (SEM) können häusliche Gewalt in einem patriarchalischen Gesellschaftssystem wie auch ein drohender Ehrenmord zwar durchaus als «geschlechtsspezifische Asylgründe» berücksichtigt werden. «Es gibt viele Frauen, die aufgrund von häuslicher Gewalt in ihrem Heimatland in der Schweiz um Asyl ersuchen», bestätigt die Rechtsanwältin Fethiye Yalcin. «Aber es ist in diesem Zusammenhang das erste Mal, dass ich von einer Frau höre, die ihren Mann getötet hat und um Asyl ersucht. Das macht die Arbeit für die Asylbehörden nicht einfach.»

Sie hoffe aber, dass das Notwehrrecht der Frauen, die Opfer sind von häuslicher Gewalt, die Tatsache, dass die Türkei kaum Massnahmen ergreift gegen Gewaltdelikte an Frauen, und nicht zuletzt auch die hohe Zahl der Femizide in der Türkei beim Entscheid in die Waagschale geworfen würden.

Yasemins Dossier kommt in ein erweitertes Asylverfahren; eine Verfahrensart, die eingesetzt wird, «wenn ein komplexer Fall vorliegt, der weitere Abklärungen benötigt», erklärt Sophie Frühauf, Juristin beim Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz Heks, das vom SEM mit der Rechtsvertretung von Asylsuchenden im beschleunigten Verfahren beauftragt ist. Frühauf war bis vor Kurzem für Yasemin zuständig, hat den Fall nun aber an die zuständige Rechtsberatungsstelle in jenem Kanton abgegeben, in dem Yasemin heute lebt.

Für einen Asylgrund braucht es eine «gewisse Intensität»

Aufgrund der laufenden Abklärungen kann sie zum Fall von Yasemin keine Stellung nehmen, zeigt nur das grössere, allgemeine Bild: Sophie Frühauf führt aus, dass eine Person, die ein Asylgesuch stellt, glaubhaft geltend machen muss, dass sie verfolgt wird und im Heimatland keinen ausreichenden Schutz bekommt. Dabei ist nicht jeder Fluchtgrund zwingend auch ein Asylgrund. Für einen Asylgrund braucht es eine «gewisse Intensität», das heisst, die Asylsuchende muss darlegen können, dass sie im Herkunftsland einem unerträglichen psychischen Druck ausgesetzt ist oder um ihr Leben fürchtet – kurz, dass sie in ihrer Heimat daran gehindert würde, ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Mitte März dieses Jahres lädt mich Yasemin zu Freundinnen in den Garten ein. Die Temperaturen sind bereits frühlingshaft, die Frauen wischen nasses Laub vom Tisch, bedecken ihn mit einem blauweissen Tuch, servieren Tee und Gebäck. Yasemins Kind drückt ein schüchternes «Hoi» hervor. Noch wartet Yasemin auf den Asylentscheid. Das Warten, nicht zu wissen, in welche Richtung ihr Leben gehen wird, macht sie müde, es fällt ihr schwer, zu funktionieren.

Mit jedem «Grüezi» wird die Einsamkeit kleiner

Sie sehnt sich vor allem nach einer eigenen Wohnung oder zumindest nach einem grösseren Zimmer mit Bad und Toilette. Da sie als Alleinerziehende in die Schweiz gekommen ist, gelten sie und ihr Kind nicht als «Familie» und werden im Asylheim in einem kleinen Zimmer untergebracht. Doch obwohl ihr Leben in der Schwebe ist, wirkt Yasemin geerdeter als vor einem Jahr. Sie nickt, als ich sie darauf anspreche. «Hier bin ich frei und habe endlich keine Angst mehr. Das gibt mir Kraft. Und weisst du was?», sie schmunzelt. «Letzte Woche bin ich zum ersten Mal allein Zug gefahren und allein einen Kaffee trinken gegangen. Mein Selbstbewusstsein ist aufgegangen wie eine Knospe!» Zudem haben die Leute begonnen, sie auf der Strasse zu grüssen. Und mit jedem «Grüezi» werde ihre Einsamkeit ein bisschen kleiner.

«Es ist, als hätte ich einen Krieg hinter mir gelassen»

Yasemin

Yasemin hofft, dass sie eines Tages eine Ausbildung zur Krankenpflegerin beginnen kann, dass ihre Vergangenheit ihrem Kind nicht im Weg stehen und es frei und glücklich sein wird. Sie lehnt sich über den Tisch, schiebt den linken Ärmel ihres Pullovers hoch und zeigt mir ihren Arm. «Sieh mal!» Yasemin hat sich über ihre Narben ein Rosen-Tattoo stechen lassen. «Ich will, dass wenigstens mal diese Narben weniger sichtbar sind.» Dieses Tattoo sei erst der Anfang, betont sie. «Es wird noch viel grösser.»

«Ich bin so glücklich, aber ich weine und weine»

48 Stunden bevor diese Geschichte in Druck geht, am vorletzten Tag im März, ruft die Übersetzerin an. Sie ist atemlos: «Yasemin hat Asyl erhalten, politisches Asyl!» Ihre Stimme überschlägt sich. Yasemin habe es vor einer Stunde erfahren, sie sei ausser sich, könne es kaum fassen. Mir schwirrt der Kopf. Dreimal frage ich nach, ob sie denn auch ganz sicher sei. «Ja, ja, ja!», stottert die Übersetzerin ins Telefon. Weshalb es nun plötzlich so schnell gegangen ist mit dem Asylentscheid, darüber lässt sich nur mutmassen. Vielleicht wäre der Entscheid Ende März sowieso fällig gewesen.

Doch möglich ist auch, dass der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention den Entscheid letztlich beschleunigt hat. Mein Handy surrt. Yasemin hat eben einen Jubel-Sticker geschickt. Ich frage sie, wie sie sich fühlt. Wir sind inzwischen ganz gut darin, mittels Übersetzungsapp miteinander zu kommunizieren. «Es ist merkwürdig», antwortet Yasemin, «ich weiss es nicht. Ich bin so glücklich, aber ich weine und weine.» Später, gegen Abend, meldet sie sich wieder, diesmal etwas gefasster. «Es ist, als hätte ich einen Krieg hinter mir gelassen», schreibt sie. «Dieser ganze Schmerz, all diese dunklen Tage sind nun vorbei. Ich habe nun die Chance meines Lebens. Und ich werde sie packen.»

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