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Von Somalia in die Schweiz: Zwei junge Frauen allein auf der Flucht

Von Somalia in die Schweiz: Zwei junge Frauen allein auf der Flucht

Rahma ist 13, als sie für immer ihre Heimat verlässt, Nura 14. Zwei Jahre dauert ihre Odyssee von Somalia bis in die Schweiz. Die Geschichte zweier junger Frauen, für die Aufgeben nie eine Option war.

Rahma sass in der Koranschule ihres Dorfes im Südwesten Somalias, als die Kämpfer der Terrorgruppe Al-Shabaab sie holen kamen. Sie zwangen den Lehrer, sie ihnen auszuliefern, ihre Gesichter waren verhüllt. «Am Tag zuvor haben sie meinen Vater hingerichtet», erzählt sie. «Er hat sich widersetzt, als sie die Mädchenschule schliessen wollten, der er als Mitglied des Ältestenrats vorgestanden war.» Jetzt bist du dran, hätten die Männer zu ihr gesagt.

Sie verbanden Rahma die Augen, zerrten sie ins Auto, fuhren los. «Nach etwa zwanzig Minuten hielten sie an, brachten mich in einen Raum, in dem schon viele Frauen sassen, die jüngsten 13 Jahre alt, so alt wie ich selbst», sagt sie tonlos. Die Männer zeigten ihr das Video der Hinrichtung ihres Vaters. Als Sühne für sein Vergehen müsse sie einen Kämpfer der Al-Shabaab heiraten. Dann schlugen sie sie so lange, bis sie das Bewusstsein verlor.

Als Rahma wieder zu sich kam, wusste sie, dass sie sterben würde, wenn sie nicht floh. Am Morgen des siebten Tages erhielten die gefangenen Frauen Kleider und Seife: «Duscht euch», befahl eine Wächterin. «Dann gehen wir beten.» Die Duschen befanden sich hinter Palmen. Rahma tat so, als würde sie sich waschen, duckte sich weg und rannte los. Sie rannte durch den Dschungel, bis es dunkel wurde.

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"Wäre ich zurückgegangen, hätten sie uns alle getötet"

Rahma

700 Kilometer entfernt, in Mogadischu, der Hauptstadt Somalias, bereitete Nura ihre Flucht vor. Sie hatte ein Gespräch der Eltern mitgehört, in dem ihr Vater der Mutter eröffnete, dass er sie mit einem Freund verheiraten würde. Der Mann war so alt wie ihr Vater, besass ein Geschäft, war sehr vermögend. Er hatte schon zwei Frauen und viele Kinder, nun wollte er eine dritte, jüngere Frau. Die Mutter war gegen die Heirat, doch ihr Vater hatte seinem Freund schon zugesagt, denn er würde ein hohes Brautgeld für seine Tochter bekommen. Hätte er sein Versprechen gebrochen, wäre auch ihre Freundschaft beendet gewesen.

Nura sagte ihm, sie wolle nicht heiraten, sie wolle zur Schule gehen und ihre Hüfte operieren lassen. Seit ihrer Geburt litt sie an einem Hüftfehler, die Schmerzen waren in den letzten Jahren immer schlimmer geworden. Sie hatte ihren Eltern vorgeschlagen, für den Eingriff in die Türkei zu reisen, da die Qualität der medizinischen Behandlungen dort besser sei als in Mogadischu. Doch ihren Eltern fehlte das Geld. Für die Operation, meinte ihr Vater bloss, könne Nuras Ehemann aufkommen.

Nura bat zwei Freundinnen um Rat, beide Mitte zwanzig. Als sie erfuhr, dass sie in die Türkei ziehen würden, um zu studieren, fragte sie, ob sie mitgehen dürfe. Die beiden Frauen waren sofort bereit, ihr zu helfen, bestellten Flugticket und Visum. Eine Woche später waren Nuras Eltern weg, auch ihre beiden Brüder waren nicht zuhause. «Da habe ich einen kleinen Koffer gepackt und bin gegangen», sagt sie. Ein Zeichen des Abschieds hinterliess sie nicht. Am Tag der Abreise zitterte Nura am ganzen Körper. Doch ihre Begleiterinnen und sie stiegen ungehindert ins Flugzeug Richtung Istanbul.

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«Ich wollte weg von Mogadischu. Ich hatte solche Angst vor dem alten Mann, den ich hätte heiraten sollen», sagt Nura. «Ich dachte, ich könnte ein paar Tage wegbleiben und dann wieder zurück zu meiner Mutter und meinen Schwestern», sagt Rahma. «Aber wäre ich zurückgegangen, hätten sie uns alle getötet.»

Mädchen allein auf der Flucht bilden eine winzige Minderheit

Nura und Rahma gelangten Mitte 2021 in die Schweiz, gut zwei Jahre nach Beginn ihrer Flucht. Rahma ging zu Fuss, von der Türkei über die Balkanroute, Nura reiste von der Türkei auf die griechische Insel Lesbos, verbrachte Monate im Flüchtlingslager Moria und in Athen. Dort lieh sie sich Geld von somalischen Mitflüchtenden und flog nach Zürich. Da sie allein in die Schweiz kamen, ohne Eltern oder gesetzlichen Vormund, wurden sie von den Behörden als unbegleitete minderjährige Asylsuchende registriert, im Fachjargon «Mineurs non accompagnés» genannt, MNAs.

Wir begegnen einander zum ersten Mal im Januar dieses Jahres in einem Quartiercafé am Rande der Stadt. Rahma und Nura sind mittlerweile 18 und 19 Jahre alt, seit ihrer Ankunft werden sie von der Asylorganisation Zürich AOZ betreut. Ich hatte für diese Reportage lange nach weiblichen MNAs gesucht. Derzeit sind weltweit 120 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte davon Frauen. Doch bilden Mädchen, die ohne ihre Familien fliehen, im Gegensatz zu männlichen Jugendlichen eine marginale Minderheit.

Laut Staatssekretariat für Migration SEM waren 2023 nur rund 130 der insgesamt 3271 MNAs weiblich, gut vier Prozent. Im laufenden Jahr wird ihr Anteil auf drei bis sechs Prozent geschätzt. Während männliche MNAs – derzeit kommen sie hauptsächlich aus Afghanistan – im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehen, bleiben die Schicksale von weiblichen Minderjährigen weitgehend im Dunkeln. Mehr noch, es ist, als existierten diese Mädchen gar nicht. Doch es gibt sie. Es gilt nur, sie sichtbar zu machen.

Rahma und Nura waren zu meiner Überraschung sofort bereit, mich zu treffen. Jedes Mal, als wir uns in den vergangenen sechs Monaten sahen, legten sie weitere Kapitel ihrer Flucht frei, beschrieben Abläufe in beklemmender Stringenz, erinnerten sich akribisch genau an Daten und Orte. Oft aber blieben sie auch vage, während das Ungesagte umso greifbarer mitschwang. «Es gab so viel Schlimmes», sagt Nura. «Es gibt Einiges, das ich gerne teile», sagt Rahma, «aber es gibt Sachen, die nur bei mir im Herzen bleiben.» Und dann, fügt sie hinzu, gebe es solche, die immer wieder in ihren Kopf zurückkehrten. «Die will ich wegwerfen.»

"Mein Vater ist bis heute wütend auf mich"

Nura

Rahma hat den lässigen Gang einer Hip-Hop-Tänzerin, ist gertenschlank, um ihren Hals trägt sie dicke Kopfhörer, sie hört Afropop. Nura ist etwas kleiner und auf den ersten Blick verhaltener: Als wir uns zur Begrüssung die Hand reichen, lächelt sie schüchtern. Nach nur drei Jahren in der Schweiz sprechen beide fast fliessend Deutsch. «Mittlerweile», verrät Rahma stolz, «verstehe ich auch immer besser Schweizerdeutsch.» Beide tragen einen Hidschab, das islamische Kopftuch. Es ist untrennbar mit ihrer Identität verwoben. Ohne, betonen sie, würden sie sich schutzlos fühlen.

Rahma nennt für diese Reportage ihren Vornamen und zeigt ihr Gesicht. Nura aber, die in Wirklichkeit anders heisst, will anonym bleiben. Zu gross ist ihre Angst, die Eltern könnten ihr Gesicht im Internet entdecken und ihr erst recht «schlechtes Verhalten» unterstellen. Als Nura damals in der Türkei landete, hatte sie sofort ihre Mutter angerufen und ihr erklärt, weshalb sie geflohen sei, dass sie der drohenden Heirat entkommen wollte. Erst hatte ihre Mutter geschwiegen. Dann aber gestand sie, dass sie froh sei. «Ich freue mich, dass du den alten Mann nicht heiraten wirst», sagte sie. Der Vater aber sei ausser sich gewesen vor Wut. «Und er ist bis heute wütend auf mich», sagt Nura leise.

Mädchen fliehen häufig vor ihrer Familie

Die Gründe für den geringen Anteil der Mädchen, die ohne Familie fliehen, sind vielschichtig: Oft halten Armut und traditionelle Normen junge Frauen vor einer Flucht zurück. So ist es für viele undenkbar, ohne Begleitung des Vaters oder eines Bruders loszuziehen. Darüber hinaus ist das Risiko immens, auf den langen Fluchtwegen von Banden, Lageraufsehern, Polizisten oder auch von männlichen Mitflüchtenden vergewaltigt, zur Prostitution gezwungen oder als Haushaltshilfe versklavt zu werden.

Gleichzeitig ist jedoch gerade sexualisierte Gewalt einer der Hauptgründe dafür, dass Mädchen überhaupt fliehen. Während junge Männer häufig von ihrer Familie auf die Flucht geschickt werden, damit sie in Sicherheit leben und ihre Angehörigen im Heimatland unterstützen können, fliehen junge Frauen oft vor ihrer Familie: vor der Gewalt, der sie innerhalb ihres Clans ausgesetzt sind, etwa vor drohenden Genitalverstümmelungen, Ehrenmorden oder Zwangsverheiratungen. Seit 2006 sind diese Formen der Gewalt als sogenannte frauenspezifische Fluchtgründe im Schweizer Asylgesetz verankert.

Rahma hatte sich in der Nacht nach ihrer Flucht vor den Al-Shabaab unter den Ästen eines Baumes versteckt. Im Morgengrauen hörte sie zwei Männer reden. Sie hatten im Dschungel Bäume gefällt, um das Holz zu verkaufen. Rahma bat sie um Hilfe. Die Männer nahmen das Mädchen in einem Sammeltaxi mit nach Mogadischu, brachten es dort zum Haus einer Somalierin, die zwei Kinder hatte, vier und acht Jahre alt. «Ich dachte, ich sei bei ihr in Sicherheit», erzählt Rahma. «Ich habe sie immer wieder gefragt, wann ich nach Hause kann. Die Männer hatten mir nicht gesagt, dass ich als Haushälterin arbeiten sollte.»

Ob diese für die Vermittlung bezahlt wurden, weiss sie nicht. Sie kochte, putzte und hütete die Kinder, ohne je einen Lohn dafür zu erhalten. Die Frau schlug sie, schrie jeden Morgen herum «wie ein Hahn» und warf ihr vor, selbst schuld daran zu sein, dass ihr Vater getötet worden war, drohte, die Al-Shabaab würden sie nun eben hier holen kommen. «Ich habe vor Angst ständig aus dem Küchenfenster geschaut», sagt Rahma. «Denn die Al-Shabaab haben überall Spione. Sie wissen alles über dich.»

Eines Morgens befahl die Frau Rahma, die Koffer zu packen. Sie würden in die Türkei reisen, nach Istanbul. Einen Grund nannte sie nie. In Istanbul schlief Rahma auf dem Küchenboden. Als sie einmal das Abendessen verbrannte, schmiss die Herrin es weg und prügelte auf Rahma ein, bis sie blutete. In jener Nacht kletterte Rahma aus dem Fenster und ging.

Tags darauf begegnete sie zwei somalischen Frauen, die sie in ihr Haus einluden, eine Art Wohnheim für Studentinnen. Sie könne zwar nicht bleiben, teilten ihr die Frauen mit, aber sie würden sie mit Flüchtenden in Kontakt bringen, die nach Griechenland wollten. «Willst du mit diesen Leuten mitgehen?», fragten sie, denn ausser Rahma und einem weiteren Mädchen bestand die Gruppe nur aus Männern. Rahma antwortete: «Natürlich!»

In Athen lernte sie auf der Suche nach einer Unterkunft einen alten Mann kennen, auch er ein Somalier. «Kannst du kochen?», fragte er sie: Als sie bejahte, organisierte er ihr ein Zimmer in einem Haus. «Die Matratze kostete 90 Euro pro Monat, das Essen 10», erinnert sich Rahma. «Es wohnten zehn Männer da. Weil ich kein Geld hatte, musste ich für sie kochen.» Meistens bereitete sie Ei und Ciabatta zu.

Sie blieb drei Monate. Tagsüber schlief sie, nachts lag sie wach.

"Ich wollte ein normales Leben, wollte weg von Blut, Schmerz und Mord"

Rahma

«Auf dem Weg war es schwierig, ein Mädchen zu sein», sagt Rahma. «Ich hatte Angst, zu schlafen. Alle meine Sinne waren immer offen. Aber ich wusste: Wenn ich aufgebe, habe ich keine Zukunft. Ich wollte ein normales Leben, wollte weg von Blut, Schmerz und Mord.» Während sie spricht, schlägt sie sich immer wieder auf den Oberarm, biegt die Finger einer Hand zurück. Nura wischt mechanisch über den Bildschirm ihres Handys. Vorsichtig frage ich, ob sie so etwas wie einen Glücksbringer gehabt habe, der ihr Mut gab und vielleicht sogar noch immer gibt.

Erst blickt Rahma mich verständnislos an, dann lächelt sie. Sie habe keine solche Figur, sagt sie, aber sie habe die Worte ihres Vaters von jenem Abend, als sie ihn zum letzten Mal sah. «Gib nie auf, Rahma», sagte er ihr. «Halt an dem fest, was du im Leben willst. Nichts ist einfach. Du musst hart arbeiten, um Erfolg zu haben.»

Nura kam zuerst im Bundesasylzentrum in Zürich an, Rahma folgte vier Tage später. Die Schweiz war jedoch nie das Ziel der beiden gewesen, sie landeten eher zufällig hier. Während Nura in Athen auf ihre Ausweise wartete, erfuhr sie von einer Cousine in Somalia, dass sie einen entfernten Onkel hat, der in Zürich lebt. Sobald sie ihren Pass hatte, flog sie in die Schweiz und rief ihn nach der Landung an. Sehr nervös sei sie dabei gewesen.

Der Mann holte sie ab, gab ihr Geld, damit sie sich neue Kleidung kaufen konnte. Sie wollte aber nicht bei ihm bleiben, da sie ihn kaum kannte, sondern liess sich gleich am nächsten Tag ins «Camp» fahren, wie sie sagt, ins Bundesasylzentrum. Rahma wollte eigentlich nach Deutschland, wie alle ihrer Mitflüchtenden. «Wenn du einmal in der Schweiz bist, kommst du nicht mehr raus. Die Regeln sind so streng», sagten sie. Die Schweiz sei wie ein Loch in Europa. Doch an der italienischen Grenze war sie aus Erschöpfung in einen Zug gesprungen, war mehrmals umgestiegen, «ohne zu wissen, wo ich mich befand», kam nach Neuchâtel und hatte sich dort an einer Bushaltestelle auf eine Bank gesetzt. Dort fragte sie ein Polizist nach ihrem Pass. «Ich habe keinen», antwortete sie auf Englisch. «Ich bin geflüchtet.»

Rahma erhielt den B-Ausweis, kann damit als anerkannter Flüchtling in der Schweiz bleiben. Nura aber hätte eigentlich nach Griechenland zurückkehren müssen, denn dort war sie als Gef lüchtete registriert worden und hatte ihren Pass erhalten. So will es das Dublin-Abkommen.

Nura war verzweifelt. Es war nicht das erste Mal, dass sich ihr Fluchtweg als Odyssee entpuppte: In Izmir kam sie während eines Abendspaziergangs mit ihren Freundinnen zu nahe an das abfallende Ufer, sie hinkte stark und stürzte dabei so unglücklich, dass sie ins Wasser fiel. Nura wäre um ein Haar ertrunken, sie konnte gerettet werden, doch verlor sie Geld, Handy und alle Dokumente, die sie stets bei sich trug. Sie sah ihre einzige Chance darin, nach Moria weiterzureisen, ins Flüchtlingslager auf Lesbos, auch weil sie sich dort medizinische Hilfe versprach. «Meine Leute kannten einen Mann», erzählt sie, «der Gummiboot fahren konnte.»

Nach sieben Monaten bekam Nura die Bestätigung ihrer Registrierung, musste Moria verlassen und nach Athen, um dort auf ihre Dokumente zu warten. Doch schon an ihrem ersten Tag in der griechischen Hauptstadt wurden ihr während einer Busfahrt Handy und alle Papiere gestohlen. Die Polizei erklärte ihr, dass sie am nächsten Tag nach Moria zurückmüsse, um die Dokumente neu zu beantragen. «Da habe ich geweint wie noch nie in meinem Leben», sagt Nura. Sie harrte drei zusätzliche Monate in Moria aus. An dem Tag, als sie ihre Dokumente hätte holen können, brannte das Lager nieder. «Griechenland war hart», meint Nura bloss.

"Rahma und Nura wollten unbedingt zusammenbleiben. Getrennt zu werden, wäre unerträglich gewesen"

Rückführungen in andere EU-Staaten werden bei Minderjährigen in der Regel trotz allem nicht umgesetzt. Nura wurde der F-Ausweis erteilt, gilt als vorläufig Aufgenommene. Sie ist berechtigt zu arbeiten, sich eine Wohnung zu suchen, doch darf sie im Gegensatz zu Rahma die Schweiz nicht verlassen. Ihr Leben ist ein Provisorium. Nura aber macht stoisch weiter. «Nur schon meiner Freundinnen wegen. Sie haben mir so viel geholfen. Ich kann sie nicht enttäuschen.»

In der Unterkunft des Bundesasylzentrums, das Nura und Rahma ein halbes Jahr lang mit sechs weiteren Frauen teilten, waren sie die einzigen Teenager. «Seither ist Rahma für mich wie eine kleine Schwester», sagt Nura. Die Mädchen gingen zur Schule, mischten sich kaum mit anderen Geflüchteten. In der Erinnerung sei es, als hätten sie sich zusammen in einem Warteraum befunden. Danach lebten sie in einer Jugendwohngruppe, zogen später in eine WG für unbegleitete gef lüchtete Frauen. Rahma und Nura setzten alles daran, miteinander ein Zimmer teilen zu dürfen. Getrennt zu werden, wäre unerträglich gewesen.

Endlich Alltag

Die Wohngruppe liegt in einer temporären Siedlung an der Stadtgrenze Zürichs, umgeben von Wald und schmalen Quartierwegen. Gittertreppen führen über drei Stockwerke am Gebäude hoch und münden in langen Etagenfluchten. Im Innenhof befindet sich eine Kinderschaukel, stehen Velos sorgfältig aneinandergereiht. Ein leises Brummen verrät, dass irgendwo eine Waschmaschine auf Hochtouren läuft.

Die WG gehört zum Angebot «Betreuung und Begleitung junger Erwachsener», BBJE, das die Asylorganisation Zürich im Auftrag der Stadt führt und Geflüchtete über ihre Volljährigkeit hinaus in der Bürokratie des Alltags unterstützt. Denn bei den wenigsten Menschen, noch weniger bei unbegleiteten Geflüchteten, bricht das Bedürfnis nach Unterstützung beim Übergang ins Erwachsenenleben einfach so ab. Ausserdem braucht es Zeit, um sich in der Kultur und im System eines neuen Landes zurechtzufinden.

Im Entrée der Wohngruppe steht ein graues Ecksofa neben einem Schuhgestell auf gelbem Linoleum, unter dem Fenster ein Tisch, die Schränke der Küche sind rot. Alle drei Zimmer sind belegt. Als ich mit einer Sozialpädagogin auf Besuch komme, zieht sich eine junge Frau aus Sierra Leone schüchtern zurück. Nura bereitet Masala-Tee zu, schüttet Milch und Zucker in eine Pfanne, neben ihr lehnen Krücken. Sie sei gerade zum zweiten Mal operiert worden, man habe die Schrauben aus der Hüfte herausgeholt, erklärt sie. Ihre erste Operation war ein Jahr nach ihrer Ankunft durchgeführt worden. Es folgten schwierige Monate. «Aber ich sagte mir: Hey, Nura, du hast von einem Leben ohne Schmerzen geträumt. Jetzt musst du Geduld haben.»

Rahma habe sie damals fast täglich im Spital besucht und ihr die Hausaufgaben mitgebracht. «Weisst du noch, Rahma?» «Ja, klar!» Rahma lässt sich aufs Sofa fallen. «Ich war deine Krankenschwester und sogar deine Coiffeuse.» Sie zieht ihr Handy hervor. «Schau mal.» Sie zeigt mir ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie sie Nura Zöpfchen macht. Nura schleppt sich aus der Küche, lächelt erschöpft. Die Schmerzen seien okay, meint sie, viel schlimmer sei, dass sie nun eine Woche zuhause bleiben müsse. Nura geht in eine Integrationsklasse in Oerlikon, fehlen will sie so wenig wie möglich.

"Rahma bekommt von der Sozialhilfe 1000 Franken pro Monat, Nura 900"

Rahma

Rahma absolviert das Berufsvorbereitungsjahr an der Tempus-Schule in Küsnacht, heute standen unter anderem Mathematik, Anatomie und Fitness auf dem Stundenplan. «Das war cool», sagt sie. Sie wolle schon seit Langem ins Gym, Krafttraining machen und Muskeln aufbauen. Aber bisher sei sie einfach zu faul gewesen. Sie seufzt. Sorgfältig zupft sie ihr Kleid über ihren Beinen zurecht, ein knöchellanges Teil mit Rüschen und Leopardenmuster. «Es ist von Shein», sagt sie schmunzelnd, als sie meinen Blick sieht. «Wie fast alles, das ich trage.» «

Ich kenne niemanden, der so viele Kleider online bestellt wie Rahma!», ruft Nura neckend. «Ihr Schrank ist zum Bersten voll.» Rahma verzieht das Gesicht. Sie bekommt von der Sozialhilfe 1000 Franken pro Monat, Nura 900. Davon müssen sie alles bezahlen, was sie für ihren Haushalt und sich selbst benötigen: Essen, Kleider, Handygebühren, Billette für den öffentlichen Verkehr. «Wir müssen gut rechnen», sagt Nura.

In ihrer Freizeit unternehmen sie nicht viel, bleiben oft zu Hause. Am letzten Wochenende hat Nura somalisches Fladenbrot gebacken, Rahma sass auf dem Sofa, ass Popcorn und schaute auf dem Laptop «Walking Dead». «Das war herrlich!», ruft sie. «Ein Wochenende nur für mich und meine Horrorfilme!» Sie liebe «Walking Dead», das Grauen, die Zombies. «Ich hoffe noch immer auf eine neue Staffel.» Nura schüttelt den Kopf. Sie mag keine Serien, sieht auch kaum Nachrichtensendungen. «Alles zu düster», meint sie, das ziehe sie bloss runter. «Aber vor ein paar Tagen haben wir etwas Schönes gemacht. Wir waren mit Freundinnen in der Badi, haben grilliert und Uno gespielt. Und wer hat immer gewonnen? Rahma!»

Der Wille, zu wollen

Nura und Rahma wirken während unseren Begegnungen oft so unbeschwert und abgeklärt wie viele Teenager in ihrem Alter. Doch ist diese Leichtigkeit lediglich eine dünne Schicht, die sich über ihr Leben zieht.

Die Mädchen haben auf der Flucht vor allem gelernt, schnell, stark und mutig zu sein – sonst hätten sie nicht überlebt, betont Rahma. Angst, Ohnmacht und Verletzlichkeit hatten sie so gut wie möglich verdrängen müssen.

Die beiden gehen regelmässig in die Traumatherapie. Dort üben sie in einer Gruppe mit anderen jungen Frauen, über das Erlebte zu sprechen und die Vergangenheit von der Gegenwart zu distanzieren, sodass die alten schlimmen Gefühle den gegenwärtigen Alltag nicht ständig überfluten. «Jede sagt dabei, was sie sagen will. Wir reden offen», erzählt Rahma. «Das gefällt mir.»

Die Sitzungen finden in den Zimmern des Vereins Family Help statt, der auf psychotherapeutische Behandlungen junger Geflüchteter spezialisiert ist. Die Räume sind hell, auf dem Boden liegen farbige Teppiche, an den Wänden sitzen Puppen und Plüschtiere neben Schlaginstrumenten und Bauklötzchen, es herrscht eine Atmosphäre liebevoller Geborgenheit. Hier sollen die jungen Frauen auch lernen, ihre verletzliche Seite anzuerkennen und das während der Flucht antrainierte Verständnis von Schwäche umzudrehen: Wer sich im alltäglichen Leben schwach zeigt, wird nicht, wie auf der Flucht, liegen gelassen, sondern kann wachsen. Rahma und Nura erinnern sich aber immer wieder auch daran, was ihnen letztlich besonders geholfen hat: «Der Wille, zu wollen.»

"Ich will, dass mein Leben weitergeht. Meine Eltern sollen sehr stolz auf mich sein können"

Nura

Längst haben sie akzeptiert, dass sie in der Schweiz sind. Rahma hat vor Kurzem ein Praktikum in einem Spital in Zürich begonnen. Nura macht eine Vorlehre in einem Alters- und Pf legeheim. Beide werden sich zur Fachfrau Gesundheit ausbilden lassen. Später will Rahma Medizin studieren. Sie möchte Ärztin werden, Gynäkologin, um Frauen helfen zu können, die Genitalverstümmelungen erlitten haben. Wie beiläufig erwähnt sie, dass sie selbst im Alter von fünf Jahren beschnitten worden sei.

Auch Nura ist getrieben von einer existenziellen Dringlichkeit, denn mit einer Lehrstelle hat sie die Chance, sich von der Sozialhilfe zu lösen. Ist sie nicht mehr davon abhängig und hat zudem insgesamt fünf Jahre in der Schweiz gelebt, kann sie den B-Ausweis beantragen. Einfach wird aber auch dieser Weg nicht sein: An einem Schnuppertag in einem Altersheim fragte eine Bewohnerin: «Warum haben Sie ein Kopftuch?» «Warum nicht?», fragte Nura zurück. «Ich bevorzuge jemanden ohne Kopftuch! Ich will Ihre Hilfe nicht», schrie die Bewohnerin, «don’t touch me!» Nura war verwirrt, wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie bekam ein «Ungenügend» im Schnupperbericht. Doch sie richtete sich wieder auf. «Ich will, dass mein Leben weitergeht», sagt sie. «Meine Eltern sollen sehr stolz auf mich sein können.»

Endlich eine eigene Wohnung

Die Wohnung hat zwei Zimmer, eine Küche, ein Badezimmer und einen Balkon, auf dem gerade nichts anderes wächst als ein Stapel leerer Kartonschachteln. Schränke ohne Türen stehen vor kahlen Wänden, auf dem Boden liegen Matratzen. Rahma und Nura sind vor gut einer Woche eingezogen, mitten in Zürich; es ist ihre erste eigene Wohnung, eine Mitarbeitende des Vereins Family Help hat sie ihnen vermittelt. Stolz führen sie mich herum. Rahma schneidet ein Stück Wassermelone zurecht, in der Küche riecht es nach Lasagne. «Das sind die Resten von gestern», sagt Rahma. «Nura hat sie eben in den Ofen geschoben.»

Mit der eigenen Wohnung schliesst sich ein Kapitel für die jungen Frauen – und öffnen sich die Seiten eines neuen. Dennoch: Die Erinnerungen an die Flucht lassen sich nicht einfach zuklappen. «Ich fühle mich schuldig», sagt Rahma. «Ich wollte ja eigentlich gar nicht weggehen. Ich vermisse meine Mutter und meine Geschwister. Dieser Schmerz steckt immer im Herzen.»

«Manchmal denke ich, es war ein Fehler, dass ich gegangen bin», sagt Nura. «Aber dann sage ich mir wieder: Es war gut so.» Letztes Jahr habe sie «Heidi» gelesen. Und sei berührt gewesen von den Beschreibungen der Berge und von Heidis Heimweh, in dem sie auch ihr eigenes erkannte: Ihre Sehnsucht nach ihrer Familie in Mogadischu – und ihre Sehnsucht nach dem Geschmack von Kamelfleisch und dem Geruch des Meeres. «Wir gingen jeden Freitag an den Strand, blickten über das Wasser und sogen die salzige Luft in uns auf.» Sie lächelt wehmütig. Wenn sie mit der Lehre fertig ist, will Nura ein Buch schreiben über ihre Erfahrungen.

Rahma weiss nicht, ob sie ihre Familie jemals wiedersehen wird. Aber sie weiss, dass sie den Weg ihrer Flucht irgendwann noch einmal zurücklegen will. Dann aber als freie Frau.

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