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Was sich im Schweizer Schulsystem alles ändern könnte

Familie

Was sich im Schweizer Schulsystem alles ändern könnte

Elf Jahre in einer Klasse, keine Noten, keine Hausaufgaben: Viviane Leupin von der Zukunftsstiftung Mercator hat zum Schulstart ein paar Visionen fürs Schulsystem in der Schweiz.

Für viele Kinder beginnt demnächst die Schule wieder – ein Ort, wo Freundschaften wachsen, Leidenschaften, ebenso Leistungsdruck und Ängste. Das zeigt die repräsentative Sotomo-Studie «Welche Schule will die Schweiz?», in Auftrag gegeben von der Stiftung Mercator Schweiz. Hier arbeitet Viviane Leupin im Programm «Lernen der Zukunft». Im Interview entwirft die ehemalige Lehrerin und Schulleiterin ein paar Zukunftsvisionen und spricht über einen sich abzeichnenden Wandel.

annabelle: Viviane Leupin, was ist das für Sie, eine gute Schule?
Viviane Leupin: Eine Schule, die inspiriert, die Freiräume lässt, seine Talente zu erkennen und sein Potenzial zu entwickeln. Eine Schule, an der Kinder wie Eltern teilhaben können. Im Grunde vor allem eine Schule, in der das Lernen auf Beziehung basiert. Im Gegensatz dazu, wie sie heute meist angelegt ist: Ich gebe dir vor, was du lernen musst. Wenn dus nicht tust, aus welchen Gründen auch immer, sanktioniere ich dich mit einer schlechten Note.

Warum ist die Schule heute noch so?
Weil dahinter lang gewachsene Überzeugungen stehen. Einige der heutigen Strukturen sind bereits ab dem 18. Jahrhundert im alten Preussen etabliert worden. Und diese gehen nicht von individuellem Lernen aus, sondern vom Gleichschritt.

Klingt militärisch. Was meinen Sie damit?
Alle Kinder fangen in einem bestimmten Alter mit der Schule an. Sie müssen dann alle im gleichen Moment dieselben Themen bearbeiten, dieselben Aufgaben lösen und werden in einer festgelegten Skala beurteilt, wie gut sie diese gemeistert haben.

Was ist daran problematisch?
Zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte haben aufgezeigt – und Fachleute wie der verstorbene Schweizer Kinderarzt Remo Largo haben es immer wieder betont –, dass die Entwicklung von Kindern im Einschulungsalter bis zu vier Jahre auseinanderliegt. In der Pubertät ist die Spannweite innerhalb einer Klasse sogar noch grösser. Genau in dieser Zeit, in der entschieden wird, in welchen Oberstufentyp das Kind kommt.

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«Die Aufgabe von Lehrpersonen sollte weniger das Überprüfen von Aufgaben, sondern vielmehr eine individuelle Förderung sein, die vom Entwicklungsstand des Kindes ausgeht»

Wie könnte man diesen Entwicklungsunterschieden in der Schule denn Rechnung tragen?
Es braucht insbesondere stärker individualisiertes Lernen. Dafür braucht es andere Strukturen, intensivere Kommunikation sowie sehr viel Beziehungsarbeit zwischen Lehrpersonen, Eltern und Kindern. Viele Eltern wünschen sich auch genau das: grössere Teilhabe. Das hat die Studie gezeigt. Die Aufgabe von Lehrpersonen wäre dann weniger das Herausgeben und Überprüfen von Aufgaben als vielmehr ein Coaching, eine individuelle Förderung, die vom jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes ausgeht.

Wie soll das gehen, wenn so viele Lehrpersonen heute bereits am Anschlag sind?
Individualisierung kann zu einer Belastung werden, wenn die Strukturen bleiben, wie sie sind, das ist so. Denn dann bereitet man endlos ganze Themenkomplexe, Dossiers und Arbeitsblätter vor. Es braucht also ein Umdenken auf grundsätzlicher und systemischer Ebene. Wir besuchen oft verschiedenste Schulen und sehen immer wieder, dass flexiblere Strukturen, etwa die Abschaffung von Fächern hin zu Projektarbeit, den Kindern wie den Lehrpersonen sehr viel Luft gibt …

… ebenso, wenn man auf Noten und Hausaufgaben verzichtet?
Ja, da zeichnet sich langsam ein Umdenken ab. Immer mehr Schulen verzichten auf Hausaufgaben auf Primarschulstufe. Auch der Sinn von Noten wird verstärkt in Frage gestellt. Unsere Studie hat gezeigt, dass sich knapp fünfzig Prozent der Befragten vorstellen können, dass es auf der Primarstufe weder Noten noch Hausaufgaben braucht, insbesondere jüngere Leute und Frauen sehen das so. Damit würde wissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung getragen, die seit den 1970er-Jahren massenweise vorliegen. Sie besagen, dass Hausaufgaben und Noten keinen lernförderlichen Mehrwert bieten. Sie dienen heute insbesondere der Kommunikation.

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«Noten und Hausaufgaben verbinden die Schule mit dem Elternhaus. Diesen Austausch müsste man anders organisieren»

Inwiefern?
Noten und Hausaufgaben verbinden die Schule mit dem Elternhaus. Dadurch erfahren die Eltern, womit das Kind gerade beschäftigt ist, wo es steht. Diesen Austausch müsste man anders organisieren.

Die Studie hat gezeigt, dass in der Schule der Leistungsdruck am stärksten belastet. Dazu gehört auch die Entscheidung darüber, wer in welchen Oberstufentyp kommt.
Ja, zudem wird diese frühe Selektion dem tatsächlichen Potenzial der Kinder auch oft gar nicht gerecht. Ich plädiere darum dafür, dass erst nach elf Jahren entschieden wird, wie es weitergeht. Kinder sollen ab dem Kindergarten bis in die dritte Oberstufe individuell gefördert werden – man nennt das auch elf Jahre Potenzialentfaltung. Dann würde nicht bereits ab der fünften Klasse bestimmt, wer in welche Oberstufe kommt, sondern es gäbe mehr Zeit, um die eigenen Neigungen und mögliche Berufsbildungswege kennenzulernen. Es könnte den Run auf die Gymnasien abschwächen und eher sicherstellen, dass diejenigen Kinder dort hingehen, die entsprechend begabt und interessiert sind. Und nicht wie heute vor allem jene, deren Eltern bereits am Gymi waren …

… oder deren Eltern reich sind. Die Studie hat ja auch gezeigt, dass in höheren Einkommensklassen der Anteil derjenigen Eltern bedeutend grösser ist, die ihre Kinder aufs Gymi schicken (möchten).
Eine stärkere Durchmischung wäre sehr wünschenswert. Eine andere, neue Studie hat berechnet, dass jährlich um die 14’000 Jugendliche aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft unpassend eingeteilt und damit nicht ihrem Potenzial entsprechend gefördert werden. Das schafft viel Leid und ebenso wirtschaftlichen Schaden, welchen die Studie auf 30 Milliarden Franken jährlich beziffert. Das ist verheerend, im Hinblick auf die Chancengleichheit in unserem Land ebenso wie auf den aktuell herrschenden Fachkräftemangel.

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