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Wie Alleinlebende in der Schweiz benachteiligt werden

Politik

Wie Alleinlebende in der Schweiz benachteiligt werden

In der Schweiz gibt es 1.4 Millionen Einpersonenhaushalte. Alleinlebende würden in zu vielen Bereichen benachteiligt, sagt Sylvia Locher, Präsidentin von Pro Single Schweiz, im grossen Interview.

annabelle: Sylvia Locher, klären wir erst einmal den Begriff «Single» im Namen des Vereins Pro Single Schweiz. Von welchen Singles sprechen wir?
Sylvia Locher: Von den Menschen, die selbst für sich aufkommen müssen. Dieser Fokus ist historisch gewachsen. Bei der Gründung im Jahr 1975 war der Verein noch eine Arbeitsgemeinschaft, die sich für die Interessen lediger Frauen starkmachte. Damals standen politisch einzig die Ehefrauen und ihre rechtliche Gleichstellung in der Ehe im Vordergrund. Später kamen geschiedene und verwitwete Frauen hinzu und – als sich der Verein stärker auf wirtschaftliche Fragen auszurichten begann – auch alleinstehende Männer. Allen ist gemein, dass sie nicht nur Singles sind, sondern auch allein leben.

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«Leben Sie allein, zahlen Sie immer den höheren Steuertarif»

Wir reden also von Singles in Einpersonenhaushalten.
Genau. Gemäss Bundesamt für Statistik gibt es in der Schweiz 1.4 Millionen Einpersonenhaushalte. Das entspricht 17 Prozent der Wohnbevölkerung.

Sie sagen, diese Alleinstehenden seien gegenüber Familien und Paaren wirtschaftlich benachteiligt. Inwiefern?
Es geht um Nachteile bei den Steuern, den Sozialversicherungen und den allgemeinen Lebenshaltungskosten, allem voran beim Wohnen.

Klar, man trägt alle Kosten allein.
Ja, ein einziges Einkommen muss für die Miete, den Lebensunterhalt, den Aufbau von finanziellen Reserven und für die Altersvorsorge reichen – und eben auch für die Steuern. Verringert sich das Einkommen zum Beispiel aufgrund von Arbeitslosigkeit, einer Kürzung des Arbeitspensums oder Krankheit, hat man niemanden, der diesen Einkommensverlust zumindest eine Zeit lang auffangen kann.

Wie unterscheidet sich der Steuertarif zwischen Single- und Paarhaushalten?
Leben Sie allein, zahlen Sie immer den höheren Steuertarif – unabhängig davon, ob Sie ledig, geschieden oder verwitwet sind, ob Sie sich wieder in einer Partnerschaft befinden oder nicht. Bei den Bundessteuern wird zwischen dem Grundtarif für Alleinstehende und dem Verheirateten- oder Elterntarif unterschieden, wobei Alleinstehende zum höheren Grundtarif besteuert werden. Mehr noch: Der günstigere Tarif für Verheiratete kommt auch dann zur Anwendung, wenn keine Kinder mehr im Haushalt leben. Zudem bezahlen fast die Hälfte aller Familien aufgrund der Kinderabzüge keine direkten Bundessteuern.

Trotzdem: Über die Steuern beklagen sich ja alle – Verheiratete ganz besonders über die sogenannte Heiratsstrafe: Die Steuerprogression, wenn zwei Einkommen zusammengezählt werden.
Das rechtfertigt den höheren Steuertarif für Alleinlebende nicht. Verheiratete haben immerhin die Chance, zwei Einkommen zu generieren und die Kosten zu teilen, eine alleinlebende Person kann das nicht. Im Übrigen betrifft die Heiratsstrafe nur noch die direkte Bundessteuer. Bei den Kantons- und Gemeindesteuern wurden Anpassungen vorgenommen, so dass es bei einigen Kantonen sogar zu einem Heiratsbonus kommt.

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«Sämtliche Haushalte, die aus mehr als einer Person bestehen, profitieren von Vergünstigungen»

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Eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen besagt, dass Paarhaushalte im Vergleich zu Singlehaushalten über ein durchschnittlich drei- bis fünfmal höheres Vermögen verfügen. Wie schätzen Sie diese Aussage ein?
Sie trifft durchaus zu. Tatsache ist, dass sämtliche Haushalte, die aus mehr als einer Person bestehen, von Vergünstigungen profitieren, die Alleinlebenden nicht zu Gute kommen. Das beginnt beim Einkaufen: Es gibt preisgünstige Familienpackungen, aber kaum Portionen für Singlehaushalte. Dasselbe gilt fürs Reisen: In Hotels kostet ein Einzelzimmer in der Regel mehr als ein halbes Doppelzimmer.

Die SBB bieten für eine Person, die im gleichen Haushalt lebt, ein ermässigtes GA an – was ebenfalls als Diskriminierung von Alleinlebenden ausgelegt werden kann.
Genau. Als ich bei der SBB deswegen mal nachfragte, sagte man mir, ich hätte ja die Möglichkeit, mit einer Hausbewohnerin ein Paar-GA zu lösen. Aber das ist praktisch nicht machbar. Ausserdem gibt es keinen Grund, Alleinreisende zu benachteiligen.

Ähnliches betrifft die Radio- und Fernsehgebühren. Sie sind für alle Haushalte gleich, unabhängig davon, wie viele Personen die Leistungen beanspruchen.
Auch dagegen haben wir interveniert. Es gibt inzwischen sogar ein Bundesgerichtsurteil dazu. Es besagt, dass die Serafe-Gebühren Singlehaushalte nicht diskriminieren, da wählbar ist, wie man wohnt. Man könnte auch in einer WG leben.

Was natürlich nicht falsch ist.
Die Wohnform ist in den meisten Fällen eine individuelle Entscheidung. Aber es geht nicht an, dass der Staat eine Personengruppe aufgrund des Zivilstands und der Wohnform zur Quersubventionierung für andere nötigt.

«Die Ehe ist in der Bundesverfassung geschützt, die Familie als Keimzelle der Gesellschaft gilt als heilig»

Der politische Diskurs dreht sich oft um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder um die Finanzierung von Kitas. Alleinstehende sind kaum ein Thema. Wie ist das zu erklären?
Die Ehe ist in der Bundesverfassung geschützt, die Familie als Keimzelle der Gesellschaft gilt als heilig. Das Single-Dasein hingegen ist noch immer oft mit Scham behaftet, weshalb wohl viele Singles lieber unter dem Radar bleiben. Zudem wird das Single-Dasein häufig als eine Übergangsphase empfunden. Eine weitere Erklärung bietet die Statistik: Etwa drei Viertel der Mitglieder im National- und Ständerat sind verheiratet oder liiert. Da liegt es nahe, dass eher aus der eigenen Erfahrungswelt politisiert wird. Zudem ist Familienpolitik ein bewährtes Mittel, sich medial zu profilieren.

«In der traditionellen gesellschaftlichen Wahrnehmung haben Nicht-Mütter einen Auftrag nicht erfüllt, sie sind politisch irrelevant»

Noch immer sind es ja meist auch die Mütter, die Einkommenseinbussen haben und deren lückenhafte Erwerbsbiografien sich negativ auf ihre Rente auswirken können. Fordern sie nicht zu Recht Unterstützung?
Die Erwerbsbiografie lässt sich steuern. Mütter müssten sich mit ihren Partnern absprechen, wie sie die Familienarbeit aufteilen, und nicht nur nach dem Staat rufen. Nicht-Mütter können diesbezüglich auch keine Forderungen stellen. Im Gegenteil: In der traditionellen gesellschaftlichen Wahrnehmung haben sie einen Auftrag nicht erfüllt, sie sind politisch irrelevant. Dazu passt, dass bisher keine einzige der etablierten Frauenorganisationen in der Schweiz über unverheiratete, kinderlose Frauen geschrieben hat. Ich habe jahrelang als Bewegungstherapeutin für Kinder gearbeitet und kenne die Situation von überlasteten Müttern. Ich will auf keinen Fall verschiedene Frauen gegeneinander ausspielen. Aber diese ganzen Familienstrukturen könnten kaum aufrechterhalten werden, wenn es rundherum nicht viele Menschen gäbe, die keine Kinder haben, die nicht dieselben Ansprüche geltend machen können und stillschweigend ihre höheren Steuern bezahlen. Das geht immer unter.

In Bezug auf Kinder gilt doch aber das Solidaritätsprinzip. Denn ohne Kinder würde die Gesellschaft aussterben.
Wie gesagt, wir kennen Kinderabzüge bei den Steuern, Familienzulagen, Prämienvergünstigungen bei der Krankenkasse, familiengebundene Leistungen aus AHV, BVG und UVG. Solidarität hat auch Grenzen. Was das mögliche Aussterben der Gesellschaft betrifft, ist gegenwärtig eher das Gegenteil das Problem, nämlich eine Weltbevölkerung von acht Milliarden. Wir klagen über überfüllte Züge, verstopfte Strassen und zu wenig Wohnungen.

Aber Hand aufs Herz: Ist es nicht so, dass jede Bevölkerungsgruppe zu dem Gefühl neigt, benachteiligt zu werden? Eltern genauso wie Kinderlose? Immerhin rechnet man ja, dass in der Schweiz jedes Kind eine Million Franken kostet bis zur Volljährigkeit. Kinder, die dereinst auch die Rente von Kinderlosen finanzieren.
Über die familieninternen Kosten müssen sich künftige Eltern Gedanken machen, bevor sie den Entscheid treffen, Kinder zu haben. Ausserdem werden nicht alle Kinder automatisch gute Steuerzahler:innen oder bezahlen hohe Beiträge in die Vorsorgekassen ein.

Alleinstehende ohne Kinder gelten als frei, sie können tun und lassen, was sie wollen.
Ja, das höre ich oft. Mir sagte mal ein Politiker: «Sie haben es gut. Sie müssen ja zu niemandem schauen. Ich hingegen habe vier Kinder.» Aber vier Kinder zu haben, war seine Entscheidung. Solche Aussagen unterstreichen die weit verbreitete Haltung, dass kinderlose Singles eher egoistisch seien.

FDP-Ständerat Andrea Caroni hat im September ein Postulat eingereicht, in dem er einen Bericht über den Umgang der Politik mit den Alleinlebenden in der Schweiz fordert. Der Bundesrat hat das Postulat zur Ablehnung empfohlen, im Ständerat wurde es aber angenommen. Wie ordnen Sie das ein?
Andrea Caroni ist einer der ganz wenigen Politiker, die sich für Alleinlebende starkmachen. Jetzt ist zu hoffen, dass auch der Nationalrat einem zusätzlichen Bericht zustimmt. Es braucht eine gründliche Analyse der Situation durch den Bundesrat. Bis anhin wurden immer nur einzelne Aspekte zur Situation der Einpersonenhaushalte aufgenommen, das grosse Ganze blieb jedoch unbeantwortet.

«Da kinderlose Singles während des Berufslebens finanziell überproportional belastet werden, fehlt ihnen im Pensionsalter oft das Geld für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse»

Welche Ungerechtigkeiten ärgern Sie am meisten?
Alleinstehende bezahlen genauso hohe AHV-Beiträge wie Verheiratete. Mit den Prämienbeiträgen einer verheirateten Person ist aber eine ganze Familie oder zumindest die Ehepartnerin oder der Ehepartner mitversichert. Da kinderlose Singles während des Berufslebens finanziell überproportional belastet werden, fehlt ihnen im Pensionsalter oft das Geld für die Deckung ihrer Grundbedürfnisse. 2021 erhielten nur zwölf Prozent der ledigen Frauen die AHV-Maximalrente. Bei den verwitweten Frauen waren es 38 Prozent. Stossend ist auch, dass unverheiratete, kinderlose Personen ihre Pensionskassenguthaben nicht vererben können – nach ihrem Tod bleibt das Ersparte in der Pensionskasse.

Ist es nicht möglich, testamentarisch festzuhalten, dass man seine Pensionskassengelder vererben will?
Alleinstehende ohne Kinder können je nach Versicherungsgesellschaft nahe Verwandte wenigstens zu einem kleinen Teil begünstigen. Diese Begünstigung verfällt aber in der Regel, sobald die versicherte Person die erste Rente bezieht. Stirbt hingegen eine verheiratete Person, erhalten die hinterbliebene Partnerin oder der hinterbliebene Partner sowie minderjährige Kinder eine Hinterlassenenrente. Auch Konkubinatspaare können sich gegenseitig begünstigen, wenn sie seit mindestens fünf Jahren im gleichen Haushalt leben. Ich plädiere dafür, dass jene, die bei ihrem Tod keine Hinterlassenenrente auslösen können, weniger in die beruf liche Vorsorge bezahlen müssen oder eine höhere Rente beziehen.

Der Ökonom Wolfram Kägi argumentiert genau andersherum: Er schlägt vor, dass Kinderlose weniger Rente erhalten sollten, um die AHV-Finanzen in den Griff zu bekommen.
Sehen Sie, bis ein Kind in die AHV einzahlt, werden diverse Leistungen zur Entlastung der Eltern von Kinderlosen mitfinanziert, unter anderem das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die Kinder- und Krankenkassenprämienverbilligungen.

«Die soziale Familie ist der biologischen Familie in Sachen Erbschaftssteuer nicht gleichgestellt»

Das Erbe kinderloser Singles wird massiv besteuert. Was ist Ihre Haltung dazu?
Das ist eine weitere Benachteiligung. Ein Beispiel: Vererbt eine unverheiratete kinderlose Person in Winterthur ihrer besten Freundin 150’000 Franken, fallen für sie 28’000 Franken Steuern an. Im Tessin würde die Erbin für die gleiche Erbschaft sogar 61’500 Franken bezahlen. Hingegen ist der überlebende Ehepartner von der Erbschaftssteuer befreit, in den meisten Kantonen auch die Kinder. Die soziale Familie ist der biologischen Familie nicht gleichgestellt, obwohl Freunde unter Umständen mehr Care-Arbeit übernehmen als die Kernfamilie.

Muss das Konzept Familie neu überdacht werden?
Das ist ein Punkt, den wir bei Vernehmlassungen immer wieder einbringen. Unser System hinkt hinterher. Es war passend für die Gesellschaft Mitte des letzten Jahrhunderts.

Welche Massnahmen würden den wirtschaftlichen Status Alleinlebender verbessern?
Ein entscheidender Schritt wäre die Einführung der reinen Individualbesteuerung, die nicht nach Zivilstand und Familienform bewertet, sondern wirklich alle gleichbehandelt.

 

Sylvia Locher ist Präsidentin von Pro Single Schweiz. Sie ist ledig, kinderlos und lebt allein.

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