Werbung
Wie Freundschaft Hürden überwindet, an denen Partnerschaft scheitert

Wie Freundschaft Hürden überwindet, an denen Partnerschaft scheitert

Seit der Schulzeit entfernten sich unsere Autorin und deren beste Freundin immer weiter voneinander. Als sie Mutter wird und unsere Autorin nicht, droht die Verbindung gänzlich abzureissen. Wie alte Freundschaft gerettet werden kann – und was sie sogar langlebiger macht als eine romantische Beziehung.

"Setz dich bitte, ich muss dir was sagen", hörte ich Rias besorgte Stimme am Telefon. "Was ist passiert?", fragte ich, sofort alarmiert. Normalerweise rief meine beste Freundin mich nicht einfach mitten am Tag an. In den mittlerweile über 15 Jahren, die unsere Freundschaft schon andauerte, habe ich überhaupt nur selten unangekündigte Anrufe von ihr erhalten. Selbst als wir noch zur Schule gingen, stand schon vor der letzten Stunde fest, ob und wann wir später telefonieren würden. Ria und ich hatten uns in der 5. Klasse angefreundet, weit bevor es Facebook oder die ersten Handys für uns gab. Nun war es 2018, wir beide Mitte 20 und ich ahnte, dass etwas Grosses vorgefallen sein musste.

Hatte sie Ärger mit ihrem Ex? Oder schlimmer: Hatte sie vielleicht den Ausbildungsplatz wieder verloren, den sie erst kürzlich angetreten hatte? Diese Ausbildung stellte Ria nicht nur finanzielle Sicherheit in Aussicht, sondern machte auch die Rückkehr in ihre alte Heimat möglich. Nach sechs Jahren, in denen wir uns nur selten gesehen hatten, freute ich mich schon darauf, meine beste Freundin endlich wieder in meiner Nähe zu wissen. Also, was war schiefgelaufen?

"Sitzt du auch wirklich?", fragte Ria mich. "Ja." Schweigen. "Sag jetzt nicht, dass du schwanger bist!", rutschte es mir entsetzt heraus. "Doch", stammelte sie, "ich weiss auch nicht, wie das passiert ist. Bist du jetzt sauer auf mich?"

Ihr ängstlicher Tonfall verletzte mich. Hatten wir uns schon so weit auseinandergelebt, dass sie tatsächlich Angst vor meiner Reaktion hatte? Ich schluckte schwer: "Nein, ich bin nicht sauer", brachte ich nach ein paar Sekunden heraus. "Ich mache mir Sorgen."

Werbung

"Ich malte mir aus, wie ihre neue Rolle als Mutter uns vollständig auseinanderbringen würde"

Damals dachte ich, meine Sorge sei selbstlos und gelte allein Rias Zukunft als womöglich alleinerziehender Mutter und der Frage, ob sie das schaffen würde, eine unabgeschlossene Ausbildung und ein ungeplantes Kind. Heute ist mir bewusst, dass meine Sorge gar nicht so selbstlos war. Fürchtete ich doch vor allem darum, etwas zu verlieren, das mir heilig war: die Freundschaft zu Ria.

Ich malte mir aus, wie ihre neue Rolle als Mutter uns vollständig auseinanderbringen würde. Weil sie mit Kind für mich und meine im Vergleich zu ihren lächerlichen Problemen keine Zeit mehr finden würde. Und weil ich auf der anderen Seite ihre Sorgen rund um ein Baby sowie ihre Erfahrungen als Mutter schlicht nicht würde nachvollziehen können.

Tatsächlich waren sich unsere Lebensumstände aber noch nie ähnlich gewesen: Während ich ziemlich behütet aufgewachsen war, hatten Geldsorgen und Zukunftsängste in Rias Familie schon immer eine Rolle gespielt. Als ich mich ungestört auf unsere Abiturprüfungen vorbereiten konnte, hatte Ria schon mit mehreren Nebenjobs und einer Depression zu kämpfen. Auch nach der Schule führte ich mein Spiesserleben mit Langzeitpartner in unserer Heimatstadt fort. Während Ria rastlos ihre Wohnorte und Beziehungen wechselte. Doch auch, wenn wir das totale Kontrastprogramm zueinander bildeten, liessen wir einander nie vollkommen los.

Meine Sorge, ich könnte meine beste Freundin an ihr Kind verlieren, kam mir egoistisch vor. So sehr, dass ich mich lange nicht traute, ihr davon zu erzählen. Ich wollte Ria mit meinen Themen nicht zur Last fallen und nahm stattdessen in Kauf, dass nicht sie, sondern ich es war, die sich nach der Geburt, im ersten Lebensjahr ihres Sohnes, weit von unserer Freundschaft entfernte. So weit, dass ich auch dann nicht für sie da war, als sie sich durch eine Wochenbettdepression kämpfte.

Unter Tränen gestand ich ihr viele Monate später, dass ich seit ihrer Schwangerschaft nicht mehr wüsste, was in ihr vorgehe. Und wie sehr ich mich dafür schämte, sie nicht angemessen unterstützt zu haben. Es ist vor allem Rias grossem Verständnis für mich zu verdanken, dass unsere Freundschaft an diesem Moment wuchs und nicht zerbrach. "Du bist auf deine Art doch immer für mich da", sagte sie liebevoll. Und dann lachend: "Und jetzt hör auf zu heulen, sonst heule ich auch noch! Wir packen das schon."

Ich war erleichtert. Aber auch ratlos, wieso ich mit dieser Aussprache so lange gewartet hatte und dadurch das Risiko eingegangen war, Ria und ich könnten uns vollständig auseinanderleben.

Werbung

"Partnerschaft kommt vor Freundschaft – egal, wie lange es letztere schon gibt, egal, wie tief die Freundschaft geht"

Andrea Newerla, Soziologin und Beziehungsberaterin, wundert mein Verhalten nicht. Seit Jahren arbeitet und publiziert sie zur Rolle von alternativen Beziehungsformen in unserer Gesellschaft.  Sie erklärt mir im Interview: "Wir betrachten Freundschaft im Gegensatz zur romantischen Paarbeziehung oder Familie häufig eher als einen Bonus. Kein Muss, sondern ein Plus im Leben, das dazu da ist, Spass zu machen und ein Gegengewicht zum Alltag zu bilden."

Deswegen würden wir freundschaftliche Beziehungen auch oft im Kontext von Gemeinsamkeiten wie ähnlichen Hobbys oder Einstellungen knüpfen – und Interessenskonflikte seltener ansprechen als in Partnerschaften. Genauso, wie ich es nicht geschafft hatte, rechtzeitig mit Ria über mein Bedürfnis und meine Angst zu sprechen. Freund:innen scheinen oft nur für das Schöne vorgesehen zu sein; die Beziehungsarbeit empfinden viele nur in romantischen Beziehungen als angebracht.

Es scheint noch immer eine "Beziehungshierarchie" bei den meisten zu geben: Partnerschaft kommt vor Freundschaft – egal, wie lange es letztere schon gibt, egal, wie tief die Freundschaft geht. Die promovierte Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach, die das Buch  "Revolution der Verbundenheit – Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert" verfasst hat, schreibt darin: Viel zu oft stünden ausschliesslich andere Beziehungen und Lebensbereiche als die eigene Freundinnenschaft im Vordergrund unseres Austauschs unter Freundinnen.

Das habe eine Entwicklung hin zur "Profanisierung von Frauenfreundschaft" zur Folge, die dadurch sichtbar werde, dass Freundschaften nur noch nach dem Nutzenprinzip gestaltet würden: "Freundschaften werden zu einem Mittel, um Vorteile zu maximieren [...]", kritisiert Schutzbach in ihrem Buch. Moderne Freundinnenschaft werde nicht selten wie oberflächliches Networking verstanden und verliere somit nicht nur ihre Tiefe und Liebe, sondern auch ihr "emanzipatorisches Potential".

Und wer kennt sie nicht, die Freundin, mit der man sich über nichts anderes als die Probleme mit den Männern unterhält? Der Gedanke hingegen, mit meiner besten Freundin zu besprechen, welche Bedürfnisse diese Freundschaft erfüllen soll, fühlt sich für mich tatsächlich weit hergeholt an.

Dabei meint Schutzbach mit dem "emanzipatorischen Potential", dass Freundschaften tatsächlich viele Bedürfnisse erfüllen könnten, mit denen wir "meistens romantische Paarbeziehungen überfrachten". Sie rät, Freundschaft als einen Weg zu verstehen, um unabhängiger von romantischer Liebe zu werden.

"Eine generelle Offenheit für Veränderung auf beiden Seiten, so die Expertin, könnte Ria und mich wieder näher zusammenbringen"

Andrea Newerla findet, wir könnten uns fragen, ob wir nicht auch in freundschaftlichen Verbindungen Ressourcen teilen und zum Beispiel Vorkehrungen zur Versorgung im Alter treffen können. Schliesslich halten Freundschaften oft länger als romantische Bindungen und beschränken sich meistens auch nicht – wie die monogame Ehe – auf nur zwei Personen.

"Freundschaften, die nun mal nicht so stark sozial normiert sind wie Liebesbeziehungen, sind viel freier gestaltbar. Weil es in Freundschaften keine krassen sozialen Normen gibt, können wir sie eben auch viel bewusster und aktiver gestalten", so Newerla. Das mache sie anpassungsfähiger an unsere individuellen Lebensumstände

Allerdings verlangt diese neue Rolle der Freundschaft von allen Beteiligten eine besonders hohe Bereitschaft zu bewusster Kommunikation, um die neuen Lebensumstände gemeinsam auszuhandeln. Denn im Gegensatz zu romantischen Partnerschaften fehlt neben den engeren Normen auch die Orientierung, die diese mit sich bringen.

Deswegen befasst sich Newerla in ihrem neuen Buch "Wie Familie nur besser" ganz praktisch mit der Frage, wie alte, häufig dysfunktionale Familienmodelle hinterfragt und möglicherweise durch Support-Strukturen ersetzt werden können – durch Freundinnenfreundschaften zum Beispiel.

Ich wollte von ihr wissen, ob es auch dem Fortbestehen von Rias und meiner Freundschaft helfen könnte, wenn wir uns die Freiheit nehmen würden, unsere Beziehung genauso zu priorisieren wie eine romantische oder familiäre Bindung.

"Ich kann nur empfehlen, sich die Mühe zu machen", bestätigt die Expertin, ermutigt mich aber auch dazu, Veränderungen in der Freundschaft als normal und nicht zwingend negativ zu betrachten. Beispielsweise dürften Verbindungen, in denen man einander nicht mehr guttue, sich auch auseinanderentwickeln, egal, wie lange sie schon bestünden. Aber eine generelle Offenheit für Veränderung auf beiden Seiten, so Newerla, könnte Ria und mich wieder näher zusammenbringen.

Heute, sechs Jahre nach der Geburt ihres Sohnes, haben sowohl Rias als auch mein Leben komplette Kehrtwenden hingelegt: Während sie das beschauliche Patchwork-Familienleben in unserer Heimat führt und fest im Leben steht, habe ich mich komplett entwurzelt und in die unsichere Selbstständigkeit und das unstete Berliner Dating-Leben gestürzt.

Dass unsere Freundschaft auch diese Umstellungen verwunden hat, bestärkt mich in der Hoffnung, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben. Solange wir uns einander immer wieder öffnen und uns bewusst machen, dass Freundschaften viel flexibler mit Veränderungen umgehen können als klassische romantische Partnerschaften.

Und wer weiss: Vielleicht steckt in unserer Verbindung – die mit ihren über zwanzig Jahren schon so viel länger hält als jede Liebesbeziehung, die wir beide je hatten – auch noch das Potential, unser Verständnis von Familie zu revolutionieren.

Abonniere
Benachrichtigung über
guest
0 Comments
Älteste
Neuste Meistgewählt
Inline Feedbacks
View all comments