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Wie ich als Feministin im Stripclub meine Gewissheiten verlor

Leben

Wie ich als Feministin im Stripclub meine Gewissheiten verlor

Unsere Autorin Michèle Roten machte sich in Atlanta im berüchtigten Stripclub Magic City auf die Suche nach selbstbestimmten Stripperinnen – und fand sich dabei konfrontiert mit ihren eigenen Zweifeln und Vorurteilen.

Ich weiss nicht, wann genau ich realisiert habe, dass das nichts werden würde mit dieser Recherche. Ein Vorbote war wohl, dass mein Flug sieben Stunden Verspätung hatte – sieben Stunden meiner ersten von drei Nächten in Atlanta. Ich wollte mich treiben lassen durch die Stripclubs und herausfinden, worum es geht, was sie ausmacht und warum man sagt, sie gehörten zur Kultur dieser Stadt wie Pubs zu London und Theater zu Berlin: Nicht Orte mit einem klar umgrenzten Zielpublikum, sondern offen für alle, Mainstream.

Der Beruf der Stripperin sei hier, so erzählt man sich, kein bisschen stigmatisiert: Grossmami ist stolz auf die blankziehende Enkelin und in der Clermont Lounge, dem ältesten und von Frauen geführten Club der Stadt, tanze sie sogar selbst.

Eine bestechende Vorstellung: Eine Stadt, in der Strippen ein Business ist wie jedes andere auch, in der Frauen sich frei dafür entscheiden, ihr Geld mit ihrem Körper zu verdienen, in der sie den Laden teils gleich selbst schmeissen und die Regeln machen.

Meine Erfahrung mit Stripclubs beschränkt sich auf die inzwischen geschlossene St.-Pauli-Bar an der Zürcher Langstrasse – vor etwa zwanzig Jahren fanden ein paar Freund:innen und ich es eine Zeit lang lustig, dort herumzuhängen. Es lief schlechte Musik, seltsame alte Männer begafften die Tänzerinnen, die sich missmutig im Bikini um die Stangen drehten.

Stripclubs als Headquarters des Hip-Hop

Nun also Atlanta. Mitte der 2000er etablierte sich die Hauptstadt des US-Bundesstaats Georgia als Epizentrum innovativen Hip-Hops (Ludacris, Outkast, Young Jeezy, T.I. sind Kinder der Stadt, um nur einige zu nennen), und Stripclubs wurden zu den Headquarters der Szene.

Nicht zuletzt durch den Einfluss von BMF, der Black Mafia Family, einem Drogenhandelring hinter der Front eines Hip-Hop-Plattenlabels, das für besonders denkwürdige und Cash-selige Auftritte in Stripclubs bekannt war.

Magic City, gegründet 1985, gehört zu den ältesten und wichtigsten Etablissements der Stadt, und was das Rapbusiness angeht, ist der Montagabend entscheidend. Der Club wird in Hunderten Songs von Künstlern wie Drake, Gucci Mane, Young Thug, Rick Ross, Migos oder Meek Mill genannt, bei Rapper Future basiert seine ganze Karriere auf dem Ort an der 241 Forsyth Street (wohin er sich eine Weile lang sogar die Post bestellt haben soll).

Hier wird darüber entschieden, ob ein Song Hitpotential hat: Je heftiger die Tänzerinnen abgehen, desto grösser die Chance des Songs. Die Stripperinnen als Wetterfrösche des Hip-Hop quasi, bloss mit Pole statt Leiter. Erzählt man sich zumindest.

Macht und Bedeutung jenseits der Hip-Hop-Szene

Die holländische Fotografin Hajar Benjida begann 2018, diese Frauen zu porträtieren. In ihrer Bildserie «Atlanta Made Us Famous» sieht man die Tänzerinnen backstage, zuhause, beim Stillen, beim Geldzählen – es sind maximal posierte Fotos, die Frauen tragen Make-up und Bühnen-Outfits und trotzdem scheinen sie mehr preiszugeben von sich, als wenn sie nackt auf der Bühne tanzen.

«Diese Frauen sind die Stars dieser Stadt», sagt die 28-jährige Fotografin, «ich wollte zeigen, dass sie Macht und Bedeutung jenseits der Hip-Hop-Szene haben.» Nun sind wir zusammen unterwegs. Benjida hat Treffen mit drei Stripperinnen vereinbart.

Am besten einfach aufkreuzen

Aber meine Recherche geht so weiter, wie sie angefangen hat: Alle drei sagen ab. So laufe das oft in dieser Szene, sagt Benjida. Am besten sei es, einfach aufzukreuzen und vor Ort zu schauen. Ich hatte mir von den Gesprächen mit den Frauen zwar viel erhofft – aber hey, das Wichtigste steht ja noch an: der Besuch im Club.

Als wir das Magic City um vier Uhr nachmittags betreten, ist noch nicht viel los. Der schwarz gestrichene, nicht besonders grosse Raum ist in bläuliches Licht getaucht. In der Mitte eine H-förmige Bühne mit zwei Poles, sie enden oben in einem kreisförmigen Loch in der Decke, dort sind weitere horizontale Stangen angebracht.

In einer Ecke steht eine Art Glaskasten, er ist für die VIPs reserviert. Fünf Männer hängen an der Bar, mit dem Rücken zur Bühne. Drei kaum bekleidete Frauen stehen zwischen ihnen, rauchen, reden mit der Barkeeperin, machen ab und zu ein paar Tanzbewegungen zu den Männern.

Frauen in Adiletten schnüren Geldstapel

Im Untergeschoss liegt das Büro. Frauen in Adiletten und Trainerhosen zählen Geld und schnüren es zu dicken Stapeln. In einer Ecke spricht der Besitzer Michael «Magic» Barney, genannt Big Mag (gesprochen Mätsch) mit seinem Sohn und Manager des Clubs, Lil Magic.

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Mehrere Safes, daneben Baseballschläger. Ein Raum weiter die Garderobe: Schminknischen an der Wand, Stühle mit gerissenem Polster. Von oben wummert gedämpfter Trap, die paar Frauen sprechen kaum miteinander. Es herrscht eine Atmosphäre wie in der Umkleide eines Gyms.

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«Meine Mutter denkt heute noch, Stripperin sei dasselbe wie Nutte»

Stripperin Delicious

Delicious tanzt seit drei Jahren im Magic City. Eine Freundin vom College war Stripperin, also habe sie es einfach mal ausprobiert – «and I liked it». Vor allem das Geld: Schon am ersten Abend fast gleich viel wie pro Monat im Callcenter.

Eine Weile lang habe sie niemandem in ihrer Familie erzählt, dass sie jetzt Stripperin ist, aber dann war einmal der Onkel da und habe es nachher allen gesteckt. Mit ihrer Mutter hatte sie darauf ein Jahr lang keinen Kontakt: «Sie fand es wirklich schlimm, dass ich strippe. Sie denkt heute noch, Stripperin sei dasselbe wie Nutte.»

Gut fürs Selbstbewusstsein

Inzwischen sprechen sie wieder miteinander, vermeiden das Thema aber. Delicious versteht die Bedenken schon. «I mean, it’s iffy», es sei schon zweifelhaft, dieses Business. Sie wolle auch nicht, dass alle wissen, dass sie strippt, deshalb möchte sie auch nicht für ein Porträt posieren.

Aber eben, das Geld, das sei schon ziemlich überzeugend. Die flexiblen Arbeitszeiten. Man lerne auch interessante Leute kennen, Celebritys, Sportler, Musiker:innen. Und gerade an Tagen, wo sie sich nicht super fühle, sei der Job auch gut fürs Selbstbewusstsein, all die begehrenden Blicke, die Aufmerksamkeit.

Schon die Mutter war Stripperin

«Machst du auch mehr Geld, wenn du deine Tage hast?», fragt Winter von der Schminknische nebenan. «Hab ich noch nie drauf geachtet», sagt Delicious. «Tu das mal», sagt Winter und sprüht sich Intim-Deo zwischen die Beine. Winter war Barkeeperin, aber das Restaurant musste wegen der Pandemie schliessen. Seit einem Jahr ist sie im Magic City.

Diese Jobwahl war irgendwie naheliegend, ihre Mutter sei auch Stripperin gewesen. Ob sie es mag? Ja klar, «the money is good». Sie dehnt das good und zieht bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch. «Ich meine, manchmal kommt einfach einer und gibt dir 1000 Dollar. Wo sonst gibt es so was?»

Was sie nicht so mag: wenn Männer zu touchy werden. «Ich werde auch nicht gern angefasst», stimmt Delicious zu. Es nerve auch, wenn die Männer mit blöden Anmachsprüchen langweilen. Oder sonst wie zu viel labern. Ob sie dann einfach geht? «Nein, die zahlen ja», sagt Winter verständnislos.

Ob es stimme, dass auch viele Frauen als Gäste in den Club kommen? «Nicht wirklich», sagt Winter. Wenn, dann meist Bachelorette-Party-mässig, sagt Delicious, «like, hey, look at us, we’re in a stripclub, woo-hoo.» Und die Frauen, die mit ihren Männern kommen und denen dann verbieten, mit zu viel Geld um sich zu schmeissen, das sei ganz übel. Und irgendwie sei es auch einfach komisch, vor einer Frau zu tanzen.

Das erste Mal fasernackt auf der Bühne sei für Winter ganz normal gewesen, nichts Besonderes. «Echt?», fragt Delicious. «Ich musste mich betrinken vor dem ersten Mal», sagt sie und lacht. «Ich meine, die sehen alle meinen nackten Arsch!» «Arsch ist gut», sagt Winter, «die sehen deine Pussy!» «Ja, genau, was denken sie über meine Pussy?!», ruft Delicious. «Bei einem meiner ersten Abende hat prompt einer gesagt: Du hast echt eine fette Pussy.» Die beiden lachen.

Was Strippen mit dem Musical «Hair» verbindet

In Atlanta ist es üblich, dass Stripperinnen sich komplett ausziehen. Oder, wie Lil Magic in einem Artikel des US-amerikanischen «GQ» sagt: «They don’t just get naked in here, they get asshole-naked.» Dass dies hier erlaubt ist, hat übrigens mit dem Hippie-Musical «Hair» zu tun: Als das freizügige Stück 1970 in der Stadt aufgeführt wurde, wollten Gegner: innen es wegen Obszönität absetzen.

Ein Richter entschied, dass Nacktheit und Obszönität nicht dasselbe sei – die Show lief weiter. Und als unbeabsichtigte Konsequenz fielen in den Stripclubs sofort auch noch die allerletzten Hüllen.

Delicious ist fertig, sie trägt einen gelben Netz-Body, mehr Löcher als Faden. Ein letzter Blick in den Ganzkörperspiegel, sie dreht sich mit dem Rücken zu ihm, spreizt die Beine, bückt sich, schaut zwischen den Beinen durch. Zieht mit einer Hand eine Pobacke zur Seite, zupft irgendwas zurecht.

Welche Rolle spielt hier Geschlecht?

Ich setze mich an die Bar. Inzwischen sind ein paar Männer mehr da, es sitzen immer noch alle mit dem Rücken zur Bühne, wo Delicious tanzt. Alle rauchen, die meisten kiffen, einige paffen Wasserpfeife. Die Männer suchen das Gespräch, was mich überrascht. Smok arbeitet «im Musikbusiness», seine Freundin ist Flugbegleiterin, deshalb war er schon oft in der Schweiz.

Vom anderen Ende der Bar ruft mich einer, mit dem ich schon kurz gesprochen hatte, zu sich («hey, Switzerland!»). Er bestellt mir ein Bier («this is a happy place»), wir plaudern. Ich freue mich, dass alle so nett sind, dass wir einfach so reden können. Nicht Mann–Frau in einer sexuell aufgeladenen Atmosphäre, sondern nur zwei Menschen an der Bar.

Vielleicht ist diese Ebene im Kontext eines Stripclubs schon ausgereizt? Ausserdem bin ich eine kleine, weisse Mittvierzigerin in Baggy Jeans und Schlabberpulli. Mit Abstand die visuell uninteressanteste Frau in diesem Raum. Wie schön, dass mein Geschlecht keine Rolle spielt, denke ich.

Zuschauen fühlt sich falsch an

Bis mich Hey Switzerland fragt, ob ich mich für eine gute Küsserin halte. Und was mein sexueller Lifestyle sei. Ich setze mich an einen Tisch bei der Bühne und schaue Delicious zu. Beziehungsweise: Ich versuche, ihr zuzuschauen, aber es fällt mir schwer.

Vor allem, da sie mir eben noch gesagt hat, es sei komisch für sie, wenn Frauen im Publikum sitzen. Aber auch sonst: Ich kann meinen Blick mit mir verhandeln, solange ich will, er fühlt sich falsch an. Ich probiere den Schwesternblick, den distanzierten Journalistinnenblick, den aufmerksamen Feministinnenblick, den Akrobatik-Bewunderungsblick, keiner sitzt richtig.

Ich mache mir unendlich viele Notizen, damit ich nicht schauen muss. Schon bald flattern erste Dollarnoten durch die Luft. Und die erste Hand greift nach Delicious’ Hintern. Delicious, die nicht gern angefasst wird.

Tagsüber Kinderbetreuung, abends tanzen

Ich gehe wieder runter, der Backstage-Bereich ist inzwischen ziemlich voll. Frauen begrüssen sich mit einer Umarmung und einem Griff an den Arsch. Es wird gecrèmt, geölt, gesprayt. Falsche Wimpern werden aufgeklebt, Pickel am Hintern abgedeckt, nach dem Toilettengang werden Vulven auf WC-Papier-Schnipsel untersucht. Barbi singt nach eingehender Betrachtung «it’s pink, it’s pink, my pussy is pink», sie tänzelt zu ihren Schminksachen zurück.

Mit ihren 34 Jahren gehört sie zu den ältesten Tänzerinnen hier im Magic City («Was, du bist 34???», fragt eine Tänzerin im Vorbeigehen bewundernd, Barbi schnalzt mit der Zunge und sagt: «Black don’t crack, girl. We lucky.»). Barbi hat dreijährige Zwillinge, arbeitete vor ihrer Scheidung als Assistentin, seither ist sie hier.

Sie tanze schon ihr ganzes Leben, Ballett, sei Cheerleaderin gewesen, gebe auch Kurse für Spagat und sowieso für alles, was mit Beweglichkeit zu tun habe (das wird sie später noch eindrücklich unter Beweis stellen). Sie schätzt es, dass sie den Tag mit den Kindern verbringen und abends innert weniger Stunden gutes Geld verdienen kann.

Ihre Eltern unterstützen sie, na ja, korrigiert sie, sie verstehen sie zumindest: «Sie sagen: Mach das Geld und dann steig aus, ohne den Lifestyle.»

Geht es um Selbstbestimmung oder doch nur um Geld?

Mir fällt es seltsam schwer, die Gespräche zu führen. Ich merke, dass ich gewisse Dinge nicht fragen möchte. Zum Beispiel: Würdest du lieber etwas anderes machen? Was wäre dein eigentlicher Traumjob? Es interessiert mich wirklich, aber die Frage ist tendenziös – ich käme nie auf die Idee, sie der Praxisassistentin meines Zahnarztes zu stellen.

Ich finde rein gar nichts despektierlich am Job der Stripperin oder an anderen Formen von Sex- oder Bodywork und habe gehofft, hier in Atlanta den Beweis dafür zu finden, dass diese Berufswahl eine absolut selbstbestimmte Entscheidung sein kann.

Dass alle Frauen primär das Geld als Motivation erwähnen, scheint dem zu widersprechen. Aber dann wieder: Wie viele Menschen werden Banker:innen, weil dort ein guter Verdienst winkt? Natürlich geht es beim Arbeiten ums Geld. Worum denn sonst?

Nur eine privilegierte Schweizerin in einer sozialromantischen Blase denkt, freie Wahl bedeute, sich in seinem Job verwirklichen zu können. Arbeiten tut man, um leben zu können, um Rechnungen zu bezahlen.

Es geht nur ums Aussehen

Ich möchte nicht fragen, wie lange die Frauen damit rechnen, auf diese Art ihr Geld zu verdienen. Auch diese Frage interessiert mich, aber sie impliziert, dass sie irgendwann nicht mehr begehrenswert genug sein werden, damit Männer mit Geld nach ihnen werfen.

Was ziemlich sicher eine Realität ist, aber es steckt tief, tief in mir drin, Alter nicht mit Unattraktivität zu koppeln und Frauen nicht auf ihr Aussehen, auf ihren Körper zu reduzieren. Was ganz schön lächerlich ist an diesem Ort, wo es leider, und davor kann ich langsam die Augen nicht mehr verschliessen, um nichts anderes geht.

Ich stehe zwischen Hintern, die der Schwerkraft eine Nase drehen, viele davon nicht natürlich, einige wohl durchaus in fragwürdigen Hinterhof-Kliniken entstanden. Brüste sehe ich auch in allen Formen und Grössen, gross, klein, natürlich hängend, künstlich aufgepolstert, aber die sind hier nicht so wichtig. Magic City sei «all about the ass», sagt eine Tänzerin.

Ich tue mich sogar schwer mit der Wortwahl: Während die Frauen sich gegenseitig als «girls» bezeichnen, fühlt es sich für mich falsch an, sie auch so zu nennen. Als Feministin hat es für mich einen abwertenden Beigeschmack, Frauen Girls oder Mädels zu nennen.

Dann pocht dazu noch irgendwo in meinem Hinterkopf die belastete Geschichte des Wortes «boy», das weisse Master für ihre Sklaven benutzten. Und ich bin nun mal weiss. Und die Stripperinnen sind ausnahmslos People of Color. Die Zuschauer zu neunzig Prozent auch.

Ich merke, dass ich hier nur zu Besuch bin

Dies ist eine Welt, die sich für mich heimisch anfühlt, weil mich Hip-Hop schon ein Leben lang begleitet, weil meine absolut irrationale, fast schon körperliche Liebe zu Hip-Hop alle Bedenken bezüglich Sexismus, Kapitalismus- und Gewaltverherrlichung immer wieder übertrumpft hat.

Aber ich merke sehr deutlich, dass ich hier nur zu Besuch bin, dass ich hier nicht hingehöre, so sehr ich diese Kultur – oder zumindest was mir als Konsumentin von ihr so zugänglich gemacht wird – auch zu kennen glaube. Und das hat absolut nichts mit den Menschen hier zu tun, alle sind freundlich und offen.

Doch so zu tun, als bedeute mir Hip-Hop etwas – und das tut er! – fühlt sich im Magic City, wo vor ein paar Monaten noch eine Besucherin beim Verlassen des Clubs erschossen worden ist, an wie lächerlichste Aneignung. Ich bin die woke, weisse Frau aus der reichen Schweiz, die Angst hat, privilegiert-herablassend rüberzukommen – in vollem Bewusstsein wohlgemerkt, dass jede einzelne Frau im Magic City mehr Geld macht als ich.

«Das System basiert zu hundert Prozent auf Geld (und etwas auf Geilheit)»

Ich bin die feministische Hip-Hop-Konsumentin, die gehofft hat, hier Beispiele dafür zu finden, dass diese Frauen wirklich was zu sagen haben im Business und dann von Stammgast Smok erklärt bekommt, dass es der DJ sei, der die Songs aussuche.

Der Mythos, dass die Frauen die Macht haben, einen Song zu pushen, komme daher, dass ein Künstler (man braucht nicht zu gendern) massiv mit Geld um sich schmeisst, wenn sein Song gespielt wird. Und je mehr Geld rumfliegt, desto eher wünschen sich die Tänzerinnen diesen Track wieder. Es ist ein sich selbst erhaltendes System und es basiert zu hundert Prozent auf Geld (und etwas auf Geilheit).

Ein endloser Strudel aus Zweifeln

Ich bin maximal verwirrt. Denke, ein paar Züge von Smoks Joint könnten mich entspannen. Tun sie nicht, im Gegenteil. Ich versinke in einem endlosen Strudel aus Zweifeln.

Inzwischen ist es recht voll im Club. Die Tänzerinnen sind manchmal zu zweit oder zu dritt auf der Bühne. Sie machen Klimmzüge und Liegestütze im Handstand (Standstütze?), alles mit gespreizten Beinen. Ich mache mir Sorgen um ihre vaginale Gesundheit, weil sie alle ihre Genitalien an denselben Stangen reiben.

Barbi hat beide Füsse hinter dem Kopf und hoppelt auf dem Rücken einmal um die eigene Achse. Ich weiss nicht, wie ich beschreiben könnte, was diese Frauen mit den Muskeln ihrer Kehrseite machen können. Diese Hintern haben einen intensiveren Ausdruck als mein Gesicht.

Ist es überhaupt okay, dass ich über Hintern nachdenke?

Die Frauen klapsen sich selber auf die Backen, geben ihnen kleine Stösse, damit sie wackeln. Ist es überhaupt okay, dass ich über diese Hintern nachdenke? Wie soll ich denn um Himmels Willen einen Artikel schreiben über einen Stripclub, wenn ich nicht mal sicher bin, dass ich über Hintern schreiben will? Darf?

Der DJ ruft übers Mikro, irgendjemand wolle «some asshole» sehen. Die meisten Frauen machen jetzt private Lapdances, sie stehen auf einem dicken Teppich aus Dollarnoten, irgendwann scharren sie sie mit ihren Highheels zu Haufen zusammen. Es hat etwas Hühnerhaftes, aber das kann ich nicht schreiben. Frauen und Hühner zusammenbringen, das geht nicht. Sie stopfen das Geld in Plastiktüten und bringen es nach unten.

Sind diese Frauen Opfer dieser machoiden Kultur oder sind sie smart, weil sie sie ausnutzen? Wie schlimm ist es, dass sie sich betatschen lassen, obwohl sie das nicht mögen? Gibt es nicht in allen Jobs Aspekte, die man nicht mag? Warum gibt es immer wieder Momente, wo es mir unendlich absurd vorkommt, dass ich hier in einem Club sitze, in dem angezogene Männer – bei einigen übrigens ist eine Waffe relativ gut erkennbar –, ausgezogene Frauen mit Geld bewerfen?

Ich esse Chicken Wings, die berühmten Magic City Chicken Wings. Sie seien so gut, sagt man, dass viele Leute nur deswegen in den Club kommen. Sie sind trocken wie Reiswaffeln, ekelhaft. Kann aber auch mit der Kiff-Munddürre zu tun haben.

Ich weiss es nicht. Ich weiss überhaupt nichts mehr. Auf dem Heimweg im Uber fahren wir an einer Kirche vorbei. Davor schlafen Obdachlose. Sie liegen auf dem Boden, wie die Dollarnoten im Magic City.

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Leila Wander

Endlich wieder ein Roten-Text (meiner Meinung nach die beste Journalistin/Autorin der Schweiz). Richtig richtig gut und ehrlich geschrieben. Ich schätze insbesondere die persönliche selbstreflexive Perspektive.

Oliver Fischer

Da lande ich auf der Seite, weil ich anderswo gelesen habe, dass Paula Scheidt zur NZZ wechselt und dann stosse ich zufällig auf diesen fast «druckfrischen» Text von Michèle Roten – den ersten von ihr seit ganz langer Zeit (für mich) – und bin sofort wieder geflasht von ihrer Schreibe, die nicht mehr so laut und brachial ist, wie ich sie früher zu Magazin- und Miss-Universe-Zeiten empfunden hatte, aber immer noch so präzis, trääf und treffend wie eh und je – und obwohl deutlich gereift (wie ich finde) immer noch mit einem rohen Touch. Ich lese die Liebe zum Hip Hop jedenfalls in ganz vielen Sätzen mit.