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Wie ist es eigentlich, als 40-jährige Mutter Medizin zu studieren?

Zeitgeist

Wie ist es eigentlich, als 40-jährige Mutter Medizin zu studieren?

Flavia Folini-Hüsser (40) erzählt uns von ihren Erfahrungen.

«Es kostete mich unglaublich viel Mut, am ersten Tag in den Vorlesungssaal zu gehen. Ich weiss noch, wie ich versucht habe, mein Gesicht zu verbergen und mich in eine der hintersten Reihen an den äussersten Rand gesetzt habe. Als 36-Jährige fühlte ich mich inmitten all der blutjungen Medizinstudierenden total fremd.

Dieser erste Tag an der Universität Bern liegt nun gut fünf Jahre zurück. Mittlerweile habe ich mein Grüppchen gefunden. Denn ich bin nicht die Einzige, die das Medizinstudium als Zweitausbildung absolviert – wenn auch die Älteste in unserem Jahrgang. Zusammen gingen wir schon an Studi-Parties, auch die jüngeren Studierenden haben mich gut aufgenommen. Bei gewissen Themenblöcken fragen sie nach meinen Erfahrungen als Mutter oder Pflegefachfrau.

Hätte mir früher jemand gesagt, dass ich einmal Medizin studieren würde, hätte ich laut losgelacht. Die Kantonsschule brach ich ab. Mein Kopf war überall, nur nicht bei der Schule. Mit einem Notenschnitt von 3.8 bewarb ich mich für die Ausbildung zur Pflegefachfrau. Ich blühte auf, schrieb gute Noten.

Dann wurde ich unerwartet schwanger. 2003 kam Massimo auf die Welt, ich war damals 23. Ich verzichtete auf meinen Mutterschaftsurlaub, weil ich meinen Abschluss nicht hinauszögern wollte. Mit letzter Kraft schloss ich die Ausbildung ab. Danach arbeitete ich in einem Alterszentrum als Abteilungsleiterin, später als Pflegefachfrau im Kantonsspital Sursee. Massimo wurde älter und selbstständiger.

Ich sehnte mich nach einer neuen Herausforderung und meldete mich für die berufsbegleitende Maturitätsschule an. Viele konnten nicht nachvollziehen, wie ich Beruf, Familie und Schule vereinen konnte. Doch anstatt an meinen Kräften zu zehren, gaben mir meine Familie und die Arbeit im Spital Energie.

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«Ich schwebte auf Wolke sieben und zitterte gleichzeitig vor Angst»

Zwei Jahre nach der bestandenen Maturitätsprüfung überzeugte mich eine Freundin, den Numerus Clausus zu machen. Dass ich zu den besten zehn Prozent gehören würde, hätte ich nie erwartet. Ich schwebte auf Wolke sieben und zitterte gleichzeitig vor Angst. Wäre das Ergebnis weniger gut gewesen, hätte ich das Studium wohl nicht angetreten.

Die ersten beiden Studienjahre waren happig: viel Theorie, wenig Praxis. Bis die Universität Bern coronabedingt auf Fernunterricht umstellte, stand ich täglich um 5.30 Uhr auf, bereitete Massimos Frühstück vor und sass um 6.15 Uhr im Zug nach Bern. Dank des hohen Anteils an Selbststudium kann ich in einer Hausarztpraxis mitarbeiten. So verdiene ich ein kleines Sackgeld, mein Mann finanziert derzeit mit seinem Hundert-Prozent-Pensum den Grossteil der Familienausgaben.

Während der Prüfungsphase sage ich alle Arbeitseinsätze ab. In diesen Wochen liegt der Haushalt brach. Zwar unterstützen mich beide Männer, aber ihre Schmutztoleranz scheint grösser zu sein als meine. Vor Kurzem hat Massimo seinen 18. Geburtstag gefeiert. Er ist stolz auf seine Eltern – in erster Linie, weil er uns «jung und cool» findet.

Ich bin überzeugt: Als Vollzeit-Hausfrau wäre ich nur eine halb so glückliche Mutter für ihn. Lernen wir Neues, bleiben wir offen und haben keinen Kopf für Belanglosigkeiten. Aus meiner Sicht der beste Stimmungsaufheller. Schon in einem Jahr werde ich Assistenzärztin. Danach möchte ich wahrscheinlich als Hausärztin tätig sein.»

– Flavia Folini-Hüsser (40)

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