Werbung
Healthismus: Wie elitär ist der Gesundheitswahn?

Healthismus: Wie elitär ist der Gesundheitswahn?

Der Soziologe Friedrich Schorb hat ein Buch über Healthismus, den Gesundheitswahn unserer Zeit, geschrieben. Ein Gespräch über den Druck, gesund zu leben – und Privilegien.

annabelle: Herr Schorb, ich oute mich: Im Schnitt gehe ich dreimal die Woche Joggen und mache häufig Yoga. Bin ich damit ein Opfer des Healthismus?
Friedrich Schorb: (lacht) Das kommt auf Sie an, beziehungsweise auf den Grund, weshalb Sie dies tun. Mit meinem Buch kritisiere ich ja nicht das Sportmachen per se, sondern sage lediglich: Sport, Fitness und Ernährung sind bedenklich, wenn wir es zur Weltanschauung erheben und eine Obsession daraus wird.

Das müssen Sie genauer erklären.
Fakt ist: Die Menschen achten immer mehr auf ihre Gesundheit. Ernähren sich bewusst, treiben Sport, meditieren, machen 16-stündiges Intervallfasten, tracken ihren Schlaf. So hat sich beispielsweise die Zahl der Mitglieder von Fitnessstudios in den USA zwischen 2000 und 2023 von 33 auf 69 Millionen mehr als verdoppelt.

Was ja in einer Welt, in der die meisten viel Zeit vor Bildschirmen sitzen, nicht das Schlechteste ist, oder?
Nein, sich mit seiner Gesundheit zu beschäftigen, ist nicht schlecht. Aber ich untersuche, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Gesellschaft hat. Und da beobachte ich einen zunehmenden Druck, gesund zu leben. "Gesund" wird dabei nicht einfach als Abwesenheit von Krankheit verstanden, sondern meint, dass man sportlich, fit und schlank sein muss. Kann oder will ich dies nicht erfüllen, wird auf mich herabgesehen. Gesundheit ist also zu einem Abgrenzungsmerkmal geworden. Es ist sozusagen die neue Moral, die es mir erlaubt, mich über andere zu erheben.

Und dies versteht man unter dem Begriff Healthismus?
Healthismus bedeutet, dass Gesundheit zu einer Belohnung für vorbildliches Verhalten wird. Wer sich genug bewegt, nicht raucht, sich richtig ernährt und Stress vermeidet, bekommt nach dieser Logik keinen Herzinfarkt und keinen Krebs. Wer trotzdem krank wird, muss etwas falsch gemacht haben. Dies ist übrigens keine neue Entwicklung. Der Begriff Healthismus tauchte bereits in den 80er-Jahren in Kalifornien auf. Der Soziologe Robert Crawford hat diesen Begriff erstmals genutzt. Was damals eher eine gesellschaftliche Randerscheinung war, hat sich jedoch mittlerweile in den USA und in Europa zum Mainstream entwickelt.

Werbung

"Es ist letztendlich eine Frage des Geldes, ob man sich einen auf Gesundheit fokussierten Lebensstil überhaupt leisten kann"

Woran machen Sie diesen gesellschaftlichen Druck, gesund zu leben, fest?
Körperliche Fitness ist heute eng verknüpft mit der gesellschaftlichen Stellung. Je erfolgreicher jemand im Beruf ist, umso mehr wird von dieser Person erwartet, dass sie auch körperlich überlegen ist. Früher war das Klischee eines Managers ein eher rundlicher Mann mit Zigarre in der Hand, heute ist es das eines durchtrainierten Marathonläufers. Gesundheit wird damit zur Voraussetzung für Erfolg. Dabei ist es letztendlich eine Frage des Geldes, ob man sich einen auf Gesundheit fokussierten Lebensstil überhaupt leisten kann. Und das macht aus dem schrankenlosen Gesundheitsdenken etwas Elitäres.

Dabei muss Sport nicht teuer sein. Sich mehr zu bewegen, kostet nichts.
Es geht nicht darum, ob ich mir das Training im Fitnessstudio leisten kann, sondern ob ich überhaupt den Kopf frei habe, mir über gesunde Ernährung und sportliche Betätigung Gedanken zu machen. Wer alleinerziehend ist, kein Geld für den Babysitter hat oder schlicht einen ausgefüllten Alltag mit Arbeit und vielen Verpflichtungen, kann hier nicht mithalten. Gesundheit und Fitness werden dann zum Luxusgut. Da können Influencer:innen uns noch so viel suggerieren "Wenn du es wirklich willst, schaffst du es auch!".

Sie kritisieren also, dass beim auf Gesundheit fokussierten Lebensstil die individuelle Lebenssituation ausgeblendet wird?
Genau. Strukturelle Defizite werden schlicht ignoriert – oder eben als Ausrede für mangelnde Eigenverantwortung abgetan. Damit degradieren wir Fitness und Gesundheit zu einem individuellen Problem, um das sich jede Person selbst zu kümmern hat. Gesundheit jedoch individuell zu lösen, in einem sozialdarwinistischen Sinne, halte ich für gefährlich. Es gibt einfach gewisse strukturelle Einflussfaktoren, die zunächst einmal als gemeinsames Fundament gegeben sein müssen.

An was denken Sie da?
An bezahlbare Wohnungen zum Beispiel, an funktionierende Kinderbetreuung, gesicherte Löhne, ausreichend soziale Leistungen. In Deutschland bekommen wir gerade zu spüren, was es heisst, wenn die Infrastruktur vernachlässigt wird, der Bus nicht kommt, die Kita ausfällt oder Sozialleistungen gestrichen werden. Gleichzeitig sollten wir jedem Menschen auch andere Interessen zugestehen. Will heissen: Nicht alle müssen so auf Fitness und gesunde Ernährung fixiert sein. Im Gegenteil: Dies sollte Privatsache bleiben und nicht ein Zeichen von Tugendhaftigkeit.

Werbung

"Macht man etwas obsessiv, ist das immer auch ein Kompensationsverhalten"

Interessant ist dabei: Obwohl in den USA und Europa offensichtlich so viele Menschen mit ihrer Gesundheit beschäftigt sind, ist die Lebenserwartung dort zuletzt nicht gestiegen.
Das ist in der Tat ein spannender Punkt! Auch in den USA boomen Sport und Entspannungstechniken, nur noch jede zehnte Person raucht. In Europa gehen die Zahlen in eine ähnliche Richtung. Da könnte man meinen, die Menschen seien im Durchschnitt gesünder geworden. Doch der Schein trügt! So stagniert die Lebenserwartung in den USA seit Mitte der 90er-Jahre. Die ursprüngliche Formel, die lange Zeit besagte, dass die Lebenserwartung in den westlichen Ländern pro Dekade um 2 bis 2,5 Jahre zunimmt, gilt heute nicht mehr. Dafür ist der Konsum an Schmerzmittel und Antidepressiva extrem gestiegen. Dies alles steht im Widerspruch zur Gesundheitsbewegung und zeigt: Von ihr profitieren nur die wenigsten.

Wundert Sie dies?
Nein, das bestätigt lediglich die These, dass soziale Sicherheit einen grösseren Einfluss auf die steigende Lebenserwartung hat als mein individueller Fitnesslevel. So wirkt sich etwa Angst vor sozialem Abstieg negativ aus, genauso wie beengtes Wohnen, prekäre Arbeitsverhältnisse oder Belastungen durch Lärm und Feinstaub. Auch multiple Krisen, wie wir sie heute wieder erleben, haben einen starken Einfluss auf die Gesundheit: Krieg in Europa, Klimakrise, Anschläge oder die Sorge vor den Auswirkungen von KI auf den Arbeitsmarkt. Andererseits: Wahrscheinlich ist es ja auch kein Zufall, dass wir gerade in Zeiten wie diesen so fixiert sind auf einen gesunden Lebensstil.

Wie meinen Sie das?
Macht man etwas obsessiv – sei es Trinken, Drogen nehmen, sich ausufernd um seinen Muskelaufbau kümmern oder sein Essverhalten genau kontrollieren – ist das immer auch ein Kompensationsverhalten. Angesichts der erwähnten zahlreichen Unsicherheiten erleben wir gerade auf vielen Ebenen einen Kontrollverlust. Da ist es nur naheliegend, wenn wir uns etwas suchen, das wir kontrollieren können – unseren eigenen Körper beispielsweise. Anders als beim Drogenkonsum wird die Fixierung auf Gesundheit ja erstmal als positives Verhalten wahrgenommen. Dabei ist dies eigentlich auch nur eine Form von Eskapismus.

Wir flüchten vor den Krisen dieser Welt, indem wir uns fast schon übertrieben mit uns selbst beschäftigen?
Zum Teil schon. Und geraten dabei in Stress, weil wir in unserem ohnehin vollen Terminkalender auch noch einplanen müssen, täglich den Schlaf, die Schritte und die Trinkmenge zu messen. Verstehen Sie mich nicht falsch, wer Spass daran hat, soll dies ruhig tun. Aber es hilft, sich zwischendurch selbst zu fragen: "Warum mache ich das eigentlich?" Und einfach mal wieder in guter Gesellschaft spazieren gehen und sich ein Essen mit vielen Kohlenhydraten gönnen.

Friedrich Schorb ist Soziologe und forscht an der Universität Bremen zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit. Sein Buch "Healthismus. Gesundheit als gesellschaftliche Obsession" ist 2024 im Psychosozialverlag erschienen und kostet ca. 30 Franken.

Abonniere
Benachrichtigung über
guest
3 Comments
Älteste
Neuste Meistgewählt
Inline Feedbacks
View all comments
Paprika

Interessanter Bericht, regt zum nachdenken an und um den eigenen übertriebenen Fitness-/Gesundheitswahn zu überdenken, danke für den Denkanstoss ;o)

Laufschuh

leider in allen lebenslagen so.krasse gegensätzt.übertrieben sport oder junkfood.
leider auch überall grosskotze dabei .die erste trainingeinheit ,markenrecht.

Manuel

Wenn ich mich in der Fußgängerzone umschaue, habe ich nicht das Gefühl, dass gesundheitsbewusstes Leben ein Trend ist. Im Gegenteil. Die Fastfood-Restaurants sind voll, Alkohol gehört bei allen gesellschaftlichen Anlässen selbstverständlich dazu, die Zahl der Übergewichtigen steigt jedes Jahr.

Ich glaube fast, der Autor lässt sich von Instagram und Co ablenken und meint etwas als Trend erkannt zu haben, was tatsächlich nur eine kleine Niesche ist. Und folglich sieht man logischerweise auch keinen Niederschlag in der Lebenserwartung-Statistik.

In der sehr jungen Generation unter 30 mag es einen gewissen Trend in diese Richtung geben, aber darüber ist es meiner Wahrnehmung nach ziemlich selten, dass Leute wirklich Gesundheitsbewusst leben. Einer von 10 höchstens.