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Ist es in Zeiten von Body Positivity noch okay,  abnehmen zu wollen?

Zeitgeist

Ist es in Zeiten von Body Positivity noch okay, abnehmen zu wollen?

Redaktorin Sarah Lau fragt sich: Ist es in Zeiten von Body Positivity ein Affront, dünner werden zu wollen? In einem französischen Hotel findet sie Antworten. Und Erleichterung.

Ich will: Hüftgold einschmelzen. Pfunde verlieren. Abspecken. Den Rettungsring abstreifen. Es gibt viele beknackte Synonyme fürs Abnehmen. Nun, da ich mich selbst gerade ein wenig verschlanken will, frage ich mich: Ist der Wunsch als solches ebenso beknackt?

In Zeiten von Body Positivity – eine meines Erachtens absolut erstrebenswerte Entwicklung – erscheint es nicht nur antiquiert, sondern nahezu als Affront, abnehmen zu wollen. Detoxen – okay. Muskeln stählen – unbedingt. Aber abnehmen? So 1999 … Stimmt wohl.

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«Schon in der Oberstufe massen wir mit unseren Händen den Umfang der Oberschenkel»

Ich bin in Zeiten des Heroin-Chic aufgewachsen und erinnere mich, wie meine Freundinnen und ich uns gegenseitig stolz die sich unter dem Slipdress (Size Zero!) abzeichnenden Hüftknochen präsentierten. Schon in der Oberstufe massen wir mit unseren Händen den Umfang der Oberschenkel, stets bemüht, die Beine nicht auf der Sitzfläche des Stuhls aufliegen zu lassen, um dünner zu wirken.

«Ich bin soooo fett» – ein Pingpong-Satz, federleicht zwischen meinen Freundinnen und mir hin- und hergeschmettert, das Ganze war dabei eben doch: ein Sport mit Wettstreitqualität und nachhaltiger Verletzungsgefahr. Ich kann nicht oft genug betonen, wie leid mir die ganzen Zweifel und der Konkurrenzkampf von damals tun. Wie bemerkenswert idiotisch ich es finde, dass, egal ob in Paris oder Mailand, die Models auf den letzten Schauen vehementer denn je und unisono für ein ultraschlankes Körperideal stehen. Verdammt, irgendwie fühlt sich alles an wie zurück auf Anfang.

Liebe ich mich nicht so, wie ich sollte?

Und jetzt stehe ich hier und mich nerven mein weicher Bauch, die kneifende Jeans, die wabbeligen Oberarme. Liebe ich mich nicht so, wie ich sollte? Bin ich doch mehr als gedacht ein Opfer dieser unerschütterlich den Schlankheitswahn proklamierenden Lifestyle-Industrie? Und – noch viel schlimmer – trage ich nicht selbst mit diesem Artikel dazu bei, Frauen unter Body-Druck zu setzen?

Vielleicht haben Sie mich bereits gegoogelt. Kurz mal checken, wie schwer mein Fall ist. Sicher auch, um zu bewerten, ob ich dick genug bin, um abnehmen zu wollen. Kiloangaben werde ich hier nicht machen. Mir selbst ist es egal, eine Waage besitze ich schon lange nicht mehr. Dass andere Menschen ernst zu nehmendere Probleme haben als fünf Kilo schwere Wassereinlagerungen mit Fettpolstergarnitur, ist mir übrigens bewusst.

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«Ich fühle mich nämlich behäbig. Eingeengt. Body Positivity? Fehlanzeige»

Es ist vollkommen in Ordnung, mein Ansinnen bescheuert zu finden. Genau wie es für mich vollkommen in Ordnung ist, etwas gegen mein Unwohlsein tun zu wollen. Ich fühle mich nämlich behäbig. Eingeengt. Body Positivity? Fehlanzeige.

Ich kann dieses Gefühl nicht leiden und habe beschlossen, ein wenig abzunehmen. Und ja, ich gebe es zu: Auch ich habe kurz gezuckt, als meine Hamburger Freund:innen wie selbstverständlich den Namen der Dermatologin fallen liessen, die jetzt «allen hier die Wunderspritze» verpasst.

Durch tägliche Injektionen dünn werden

Mal abgesehen vom fragwürdigen Umstand, dass eine Hautärztin nicht nur Botox, sondern auch das Diabetes-Medikament Ozempic spritzt, verweigere ich mich der Versuchung, durch tägliche, den Blutzuckerspiegel senkende Injektionen dünn zu werden, die ernsthaft Erkrankten vorbehalten bleiben sollten. Ausserdem hat die Spritze Nebenwirkungen, die im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen sind, und widerspricht grundlegend dem Ansatz, mir etwas Gutes tun zu wollen. Denn darum geht es mir doch, oder?

Mein Plan: Ich will im französischen Hotel Lily of the Valley, keine halbe Stunde Autofahrt von St. Tropez entfernt, vier Tage lang den Shape Club testen. Hier wird ein wahlweise vier-, sieben- oder zehntägiges Weight Loss Programme angeboten mit dem freimütig geäusserten Versprechen, durchschnittlich drei bis fünf Kilo leichter heimzugehen.

Den Schlüssel dazu stellt eine Formel von Jacques Fricker, sie ist das Ergebnis zehnjähriger Forschungsarbeit des Ernährungsberaters. Je nach definiertem Ziel gibt es einen mehr oder weniger ambitionierten Programm-Mix aus Bewährtem: kohlenhydratarme Küche, Bewegung und verschlankende Wellnessbehandlungen.

«Und natürlich denke ich selbstgefällig, dass, wer sich so etwas tagein, tagaus leisten kann, die supergesunde, fitte Version seines Ichs auf dem Silbertablett serviert bekommt»

Zumindest für die ersten beiden Bausteine braucht es ausser Disziplin weder Geld noch eine traumschön designte Hipster-Oase mit Blick auf Meer und Naturschutzgebiet. Dass mir gleich eine ganze Armada gut gelaunter Trainer: innen und Therapeut:innen Leichtigkeit verschaffen will, ist luxuriöser Ausnahmezustand. Und natürlich denke ich selbstgefällig, dass, wer sich so etwas tagein, tagaus leisten kann, die supergesunde, fitte Version seines Ichs auf dem Silbertablett serviert bekommt, während ich Arme im Alltag … – nun, die Frage wird also sein, wie es daheim ohne das Rundum-sorglos-Paket weitergeht.

Schoggi aus dem Flieger

Zunächst aber gehe ich zur Bioimpedanzanalyse. Anhand dieser wird gecheckt, wie Fett- und Muskelmasse verteilt sind und wie ich am effektivsten abnehmen kann. Als ich meinen individuellen Trainings- und Behandlungsplan der nächsten Tage in die Hand bekomme, muss ich lachen. Weniger freudvoll denn hysterisch. Mountainbiken, Pilates, Wandern und Sea Wading – wenn die wüssten, was für eine faule Socke ich bin! Nervös verzehre ich die mitgebrachte Schoggi aus dem Flieger.

Ein zweiter Blick auf den Plan zeigt mir, dass die hier etwas von Psychologie verstehen, denn statt mit Sport starten wir eine Stunde später mit dem Slimming Treatment. So weit, so herrlich. Hinlegen und jemand anders macht mich straff? I like.

Die Therapeutin gibt sich erstaunt. Sie habe gelesen, ich wolle nicht am Bauch massiert werden? Als ich spezifiziere, dass ich nach Notoperation infolge eines Nabelbruchs nicht gern an demselben berührt werde, schlägt sie vor, drumherum zu arbeiten. Macht Sinn. Schliesslich hat nicht nur mein Algorithmus auf Instagram erkannt, dass Bauchfett mein Thema ist.

«Die Dame walkt mich rhythmisch durch wie einen Pizzateig»

Die Dame zieht für einen besseren Halt ihre Gummihandschuhe an und walkt mich rhythmisch durch wie einen Pizzateig. Gefühlt sitzt meine linke Pobacke hinter dem Ohr, dann wieder fühlt es sich an, als würde mein Fettgewebe Schicht für Schicht einfach weggehobelt. Dass durch die angeregte Blutzirkulation das aufgetragene Serum besser aufgenommen werden soll, glaube ich sofort. Irgendwas muss das ja bringen, entspannend ist es definitiv nicht.

«Wir schreiben hier niemandem irgendetwas vor»

Als ich Spa-Leiterin Anne-Sophie Vasselin frage, ob es in der heutigen Zeit nicht geradezu politisch unkorrekt sei, ein Abnehmprogramm zu verkaufen, lacht die Dreissigjährige. «Warum? Wir schreiben hier niemandem irgendetwas vor und bewerten auch nicht. Wir bieten Ihnen nur die Möglichkeit, ein bisschen abzunehmen, und zwar ‹the french way›.»

Ins «Lily» kämen genau die Männer und Frauen, die den Rest des Jahres sehr gern essen und trinken würden und keine Lust auf die klassisch-strengen Regimes der Medical Spas hätten. So lohne es sich auch nicht, den Shape Club im Sommer weiterzuführen: «Wir sind an der Côte d’Azur, bei uns wollen die Besucher:innen ab Juni Rosé trinken und Partys feiern. Wir sagen: Geniesst das Leben – ob nun mit oder ohne Shape Club!»

««Wo sind denn die anderen Dicken?», sei sie schon gefragt worden»

In Frankreich aufgewachsen, kann ich mich nicht daran erinnern, in meiner Kindheit mehrgewichtige Frauen gesehen zu haben. Diätkultur ist hier kaum Thema, dafür gehörten Schönheitssalons seit eh und je zum französischen Alltag, selbst in den kleinsten Dörfern. Die Frauen, die zwanzig oder dreissig Kilo abnehmen wollen, seien enttäuscht, wenn sie herkämen, verrät mir eine Therapeutin.

«Wo sind denn die anderen Dicken?», sei sie schon gefragt worden. Ich hingegen sei eine typische Besucherin, versichert mir Anne-Sophie. Ende vierzig und genervt von den zähen paar Kilos, die nicht mehr weggehen, selbst wenn man mal zwei Abende ohne Znacht schlafen geht. War doch früher so! Wobei wir beim Thema wären.

Stigmatisierungen perimenopausaler Frauen

Denn als ich mich frage, warum es mir nicht Wurst ist, in den vergangenen Jahren ein paar Kilo zugelegt zu haben, stelle ich fest, dass mein Abnehmwunsch nicht ganz losgelöst von den Stigmatisierungen daherkommt, denen perimenopausale Frauen ausgesetzt sind.

Der Vorstellung, dass Unfruchtbarkeit einer quasi natürlichen Logik folgend unsexy macht. Und, zack, serviere ich mir mein eigenes Vorsorgepaket: niemals praktischer Kurzhaarschnitt. Niemals beige Funktionskleidung. Niemals Nordic Walking und bitte niemals zunehmen. «Du lässt dich gehen.» «Du wirst etwas ‹mammelig›.» Da sind sie wieder, die bösartigen Sätze, mit denen sich ähnlich sozialisierte Frauen wie ich das Leben schwer machen, Aufklärung hin oder her.

Ich beschliesse, mich nicht zu quälen. Dass sich savoir vivre und savoir verschlanken in Lilys Welt nicht gegenseitig ausschliessen, kommt mir dabei gelegen. Der Selleriesalat mit Walnüssen auf buntem Steingut schmeckt so gut wie die Jakobsmuscheln mit Trüffel. Was aber das Allerbeste ist: die hier propagierte Haltung beim Servieren der Speisen. Auf Französisch kurz: «Bof.» Ein «Bof» kommt mit sekundenschnellem Heben der Brauen, sanftem Schnauben und einem kurzen Abwinken daher. Das geht dann so:

Kellner: «Ein Glas Champagner vor dem Abendessen, Madame?»
Ich: «Non, non, ich mache gerade Shape Club …»
Er: «Bof.»

Natürlich trinke ich dann ein Glas. Gleiches passiert bei dem einen erlaubten Glas Rotwein zum Dinner. Oder nach der schüchternen Frage meinerseits nach etwas Öl und Brot, das hier nur auf Nachfrage serviert wird. «Bof.» Es ist Wochenende, natürlich sollte das mit Brot und Öl gefeiert werden!

Bewusster Genuss

Als die Kellnerin die warme Apfeltasche am Sonntagmorgen explizit mit den Worten anpreist, sie sei noch besser als die Croissants, die ich die Tage entspannt links liegen liess, entschliesse ich mich zum bewussten Genuss. Die Kellnerin nickt sichtlich zufrieden. Auf die Frage, ob ich noch eine möchte, wehre ich ab. Und da ist es wieder: «Bof! Dann packe ich Ihnen eben für später eine ein!»

Erwähnte ich schon, dass ich «the french way» liebe? Die drei Tageseinheiten an Bewegung in der Frühlingssonne berauschen mich so sehr, dass ich mich auch mal freiwillig zur Velotour vor dem Frühstück verabrede. Ein tägliches Highlight bleibt das Sea Wading.

«Zurück zuhause ist es gar nicht mehr so entscheidend, wie viel ich abgenommen habe»

Ich hechle Trainer Loïc im brusttiefen Meer hinterher wie ein Golden Retriever in Neopren. Nicht wegen der Pfunde, sondern, weil es Spass macht. Ich radle, was das Zeug hält, schnaufe bei der Wandertour hügelauf und -ab und spüre beim Pilatestraining erstes Muskelbrennen.

Zurück zuhause ist es gar nicht mehr so entscheidend, wie viel ich abgenommen habe. Ich freue mich über mein zurückgewonnenes gutes Körpergefühl und kaufe ein Rubbellos, denn so eine persönliche Fitnesscrew ist durchaus ihr Geld wert.

Das Wichtigste bleibt die wiederentdeckte Lust an der Bewegung, die ich umsetze, ohne einen Rappen dazuzuzahlen. Und das finde ich: superkorrekt.

Du leidest an einer Essstörung oder hast eine betroffene Person in deinem Umfeld? Bei der Schweizerischen Gesellschaft für Essstörungen (SGES) gibt es mehr Informationen zum Thema. Und hier findest du konkrete Anlaufstellen.

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