 
        Seegras in Not – "Zehntausende eingecrèmte Schwimmer:innen sind ein Problem"
Es trübt kristallblaue Buchten und stört im Beach-Selfie: Das Seegras. Warum es vor dem Aussterben gerettet werden muss, erklärt die Meeresbiologin Francesca Frau. Ein Gespräch über die grüne Lunge der Meere.
- Von: Lucia de Paulis
- Bild: Schirra/Giraldi
annabelle: Francesca Frau, das Seegras liegt in grossen, braunen Haufen an den Stränden, stinkt vor sich hin und bleibt an den nassen Füssen kleben – sein Nutzen erschliesst sich einem als Tourist: in am Mittelmeer nicht auf den ersten Blick. Doch es laufen zahlreiche Renaturierungsprojekte, wie etwa das Artemis-Projekt auf Sardinien, das Sie als Meeresbiologin leiten. Weshalb?
Francesca Frau: Seegraswiesen wie jene, die Posidonia oceanica – auch Neptungras genannt – bildet, sind zentral für das Ökosystem Mittelmeer. Sie verbessern die Wasserqualität und schaffen unentbehrlichen Brutraum für viele Fische und Meerestiere. Neptungras wurzelt tief im Meeresboden und bildet dicke Wiesen, womit sie diesen und auch die Küsten überdies vor der erodierenden Wirkung der Wellen und Strömungen schützen. Der aber wohl wichtigste Grund für Wiederaufforstungsprojekte wie unseres – ein Pilotprojekt, das über EU-Gelder finanziert ist und in dem Fachleute aus fünf Ländern arbeiten: Die Felder speichern in ihrem Wurzelgeflecht sehr viel Kohlenstoff, pro Fläche doppelt so viel wie ein tropischer Regenwald.
Die Wiesen holen also auf natürlichem Weg grosse Mengen ebenjenes CO2 zurück, das wir im Laufe der letzten Jahrzehnte mit unserem Konsumverhalten in die Erdatmosphäre ausgestossen haben und sich auch im Wasser ablagert.
Ja, und Posidonia oceanica gehört damit weltweit zu den effizientesten Arten: Laut eines UN-Umweltreports können diese Seegraswiesen Kohlenstoff bis zu 35-mal schneller binden als tropische Regenwälder. Gleichzeitig produzieren sie sehr viel Sauerstoff, bis zu zwanzig Liter am Tag. Wenn das Mittelmeer ein Körper wäre, wären die Posidonia-Seegraswiesen dessen Lunge.
Wie kommt es, dass Seegraswiesen so viel CO2 speichern können?
Weil sie sehr dicht wachsen. Auf nur einem Quadratmeter können tausend oder mehr Triebe gedeihen. Ausserdem bildet das Neptungras auf und unter dem Meeresboden ein Gewebe, das man sich wie eine geflochtene Teppichmatte vorstellen kann, bestehend aus Wurzeln, abgestorbenen Blättern, Sand und Schwebepartikeln. Diese Matte kann bis zu fünf Meter dick werden. Dort ist das Kohlendioxid eingespeichert, das dem Meerwasser entzogen worden ist. Studien des WWF zufolge speichern die heute vorhandenen Seegraswiesen im gesamten Mittelmeerraum etwa 540 Millionen Tonnen Kohlenstoff. Das entspricht den jährlichen Emissionen von rund einem Viertel aller Fahrzeuge weltweit.
Wie lang gibt es die Seegraswiesen im Mittelmeer bereits?
Wir vermuten, dass Seegras vor 110 bis 120 Millionen Jahren in der Kreidezeit entstand. Zwischen Ibiza und Formentera leben überdies zwei Neptungraswiesen, die wahrscheinlich 80 000 und 200 000 Jahre alt sind und damit die ältesten uns bekannten Lebewesen.
Da liegt also ein uralter, riesiger Speicher von gebundenem CO2 auf dem Meeresgrund. Was passiert, wenn diese Seegrasfelder zerstört werden?
Das gespeicherte CO2 würde freigesetzt. Wie gross die Menge ist, die dann in die Atmosphäre gelangt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass in den ersten Jahrzehnten um die fünfzig Prozent des in den oberen Schichten eingelagerten Kohlenstoffs als CO2 freigesetzt würden. Gingen alle Seegraswiesen weltweit kaputt, könnten damit bis 2050 bis zu 1.7 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre gelangen. Das entspricht mehr als dem jährlichen Ausstoss des globalen Flugverkehrs.
"Besonders die Schleppnetzfischerei, der immer intensivere Schiffsverkehr und der Massentourismus setzen den Unterwasserfeldern zu"
Ein UN-Report von 2023 hält fest, dass in den vergangenen fünfzig Jahren zirka dreissig Prozent der Posidonia-Seegraswiesen im Mittelmeer verlorengegangen sind: Das sind 3600 Quadratkilometer weniger Seegras am Meeresboden, eine Fläche so gross wie die Insel Mallorca. Er warnt überdies, dass Posidonia bis 2100 ganz ausgestorben sein könnte. Warum dünnen die Seegraswiesen aus?
Besonders die Schleppnetzfischerei, der immer intensivere Schiffsverkehr und der Massentourismus setzen den Unterwasserfeldern zu. Wenn die Grundschleppnetze der Fischerboote über den Meeresboden gezogen werden, nehmen sie nicht nur Fische und Krustentiere mit, sondern tragen auch die Seegraswiesen ab. Die Anker der Touristen- und privaten Segelboote reissen Gräser aus, wenn sie wieder hochgezogen werden. Wie immer macht die Dosis das Gift. Die einzelnen Segler:innen mögen sich denken: Was soll der kleine Anker meines Bootes schon anrichten? Aber wenn das ganze Jahr Tausende von Booten auf diesen Feldern ankern, ist es tatsächlich ein grosses Problem.
Was setzt den Seegraswiesen noch zu?
Das mit dem Gift gilt auch für die Sonnencrèmes der Badenden: Einzelne eingecrèmte Schwimmer: innen machen keinen Unterschied, Zehntausende aber schon. Untersuchungen zeigen, dass sich die Sonnenschutzfilter in den netzartigen Wurzeln der Posidonia ablagern. Welche Folgen das für die Photosynthese der Pflanze hat, wird noch erforscht. Ein grosses Problem ist auch, dass durch den Klimawandel die Wassertemperatur steigt. Im Mittelmeer gibt es inzwischen Stellen, wo sie bis zu 28 Grad erreicht. Dort sind die Seegraswiesen nicht nur weniger dicht, die einzelnen Pflanzen sind auch kleinwüchsiger. Bei Temperaturen über 25 Grad zeigt der Stoffwechsel der Pf lanze Anzeichen von Stress: Die Photosynthese verlangsamt sich, sie wird unter anderem anfälliger für Krankheiten. Dünger, die aus der Landwirtschaft ins Meer gespült werden, schwächen sie zusätzlich.
Sind die Seegrashaufen an den Stränden Ausdruck der Schwächungen, mit denen das Neptungras kämpft?
Nein, das ist das Resultat des normalen Lebenszyklus des Seegrases, nur hat dieser sich verschoben. Früher wurden die abgestorbenen Pflanzenteile erst mit den Herbststürmen an die Küste geschwemmt, im Frühling verschwanden sie von alleine wieder im Meer. Aber wegen der veränderten Strömung, die durch die höheren Wassertemperaturen und den Ausbau mancher Häfen entstehen, sammelten sich die Haufen während der Sommersaison an. Das störte die Badegäst:innen und es wurde immer üblicher, die Strände davon zu säubern. Vor Jahrzehnten haben Werbung und Tourismusmarketing die Strände des Mittelmeeres so dargestellt wie jene der Malediven – türkises Wasser, weisser Sand und keinerlei Seegras am Strand. Doch selbst totes Seegras erfüllt noch eine wichtige Funktion.
Welche?
Die toten Blätter bilden am Ufer sogenannte Banquette, also Wälle, die die Küste vor der Erosion durch den Wellengang im Winter schützen. Studien zeigen, dass dort, wo das tote Seegras regelmässig entfernt worden ist, das Meer den Sandstrand im Laufe der Zeit immer mehr weggefressen hat. Deshalb gibt es inzwischen etwa auf Sardinien sehr genaue Vorschriften für den Umgang mit angeschwemmtem Seegras: Die Strandbetreibenden dürfen die abgestorbenen Blätter im Sommer vorübergehend woanders lagern, müssen sie aber am Ende der Badesaison wieder zurücklegen.
Wie viel Wohlwollen schlägt Ihnen von Strandbetreibenden, Hoteliers und der lokalen Bevölkerung für Ihr Renaturierungsprojekt entgegen?
Es gibt zwei Fraktionen. Einige sagen: Wir haben jetzt schon Berge von totem Seegras an den Stränden und ihr pflanzt noch mehr an? Sie verstehen nicht, dass die Tourist:innen auch dank dieser Banquette sauberes Wasser finden und die Form der Strände erhalten bleibt. Wer allerdings unsere Arbeit zu schätzen weiss, sind die Tauchzentren. Sie unterstützen uns manchmal auch logistisch, wenn wir Stecklinge pflanzen. Die Tauchlehrer:innen wissen, wie sehr sich der Meeresboden in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Früher konnte man in den Posidonia-Wiesen zum Beispiel noch die bis zu 1.2 Meter grossen Muscheln Pinna nobilis sehen, die inzwischen leider infolge einer bakteriell verursachten Epidemie verschwunden sind.
Wie kann man auf politischer Ebene Seegraswiesen schützen? Müsste etwa die Gesetzgebung für die Schifffahrt restriktiver werden?
Es gibt im Mittelmeer rund 1200 Meeresschutzgebiete, aber nur die allerwenigsten haben die strengsten Kriterien – sind also Bereiche, die nicht befahren, besucht oder befischt werden dürfen und komplett abgeschirmt sind. In Italien sind die meisten Meeresschutzgebiete für Boote befahrbar, aber immerhin gilt dort ein Ankerverbot auf den Posidonia-Seegraswiesen. Wird dort geankert, kann die Küstenwache Busszettel verteilen. Ausserhalb der Meeresschutz gebiete gibt es leider nur Empfehlungen zum Ankern auf solchen Wiesen. Stellen Sie sich mal vor, man würde an Land nur empfehlen, die Autos nicht an bestimmten Orten zu parken, statt ein wirkliches Parkverbot mit Strafzetteln und Abschleppandrohung einzurichten.
Und wie sieht es mit der Fischerei aus?
In Meeresschutzgebieten ist die Grundschleppnetzfischerei verboten. Ausserhalb dieser Gebiete ist sie nur in einem Abstand von der Küste und in einer Tiefe von mehr als fünfzig Metern erlaubt. Aber viele Boote halten sich nicht daran. Fischerboote mit Grundschleppnetzen sind mit einem obligatorisches Satellitensystem ausgestattet. Damit wird ein Positionssignal an das Büro der Küstenwache gesendet. Wenn diese sieht, dass sich das Schiff der Küste nähert, ruft sie es an und warnt es. Es passiert jedoch häufig, dass das Schiff das System ausschaltet, wenn es in Küstengewässer oder gar in ein Meeresschutzgebiet einfährt, und das Gerät erst dann wieder einschaltet, wenn es den Fischfang beendet hat. Viele Fischereiunternehmen sind sich der Problematik bewusst, können sich aber die Weitsicht nicht leisten, an morgen zu denken. Sie müssen ja heute etwas verdienen.
"Die EU strebt an, die Fläche der Meeresschutzgebiete europaweit um dreissig Prozent zu erhöhen"
Das heisst, bisher kann man die Seegraswiesen eigentlich nur innerhalb der Meeresschutzgebiete effektiv schützen?
Ja. Darum forstet unser Projekt nicht nur Seegraswiesen wieder auf, sondern will auch auf politischer Ebene Einfluss nehmen, damit die Schutzgebiete ausgeweitet werden. Die EU strebt an, die Fläche der Meeresschutzgebiete europaweit um dreissig Prozent zu erhöhen. Ein wichtiger Teil des Projekts ist es, so viele Daten wie möglich über die noch intakten Seegraswiesen zu sammeln. Wenn wir öffentliche Stellen von der Wichtigkeit des Schutzes überzeugen wollen, müssen wir den wirtschaftlichen Wert solcher Wiesen beziffern können. Wie wirkt sich ein Quadratmeter intakte Wiese ganz konkret auf die Fischproduktion, auf die Arbeitsplätze, auf die Hotelbuchungen aus?
Gibt es dazu bereits erste Erkenntnisse?
Noch nicht. Das Ziel ist es am Ende, die Ökosystemleistungen der Seegraswiesen mit einem wirtschaftlichen Wert pro Hektar zu beziffern.
Wie funktioniert die Aufforstung genau?
Im Frühjahr sammeln wir mit Netzen Pflanzenteile ein, die beispielsweise durch Stürme entwurzelt oder abgerissen wurden. Sie auf diese Art zu gewinnen, ist ressourcenschonender, als sie im Labor zu ziehen. Dann schneiden wir die abgestorbenen Pflanzenteile ab, kürzen sie auf die richtige Grösse und setzen sie in den Meeresboden, gesichert mit kleinen Metallstäben, damit die Stecklinge nicht von der Strömung mitgerissen werden. Diese Stäbe werden entfernt, sobald der Setzling Wurzeln geschlagen hat. Dann beginnt das Monitoring. Wenn die Dichte von Blättern und Büscheln zunimmt, wissen wir, dass unsere Arbeit Früchte trägt.
Eine sehr aufwendige Arbeit. Wann sehen Sie die ersten langfristigen Ergebnisse davon?
Von 15 Stecklingen wachsen rund 13 auch tatsächlich an. Pro Jahr breitet sich Posidonia durchschnittlich einen Zentimeter in die Höhe und einen bis fünf Zentimeter in die Breite aus. Um eine gesunde Seegraswiese wiederherzustellen, braucht es Jahrzehnte.
 
        
        Die Italienerin Francesca Frau (44) ist Meeresbiologin mit Schwerpunkt auf die Erforschung und den Schutz mariner Lebensräume. Sie ist Leiterin der Meeresabteilung der wissenschaftlichen NGO Medsea-Foundation und setzt sich dort für die Wiederherstellung von Posidonia-oceanica-Wiesen ein.
 
       
                                             
                                             
                                             
               
               
               
                         
                         
                         
                                             
                                             
                                             
                                             
               
               
               
               
                         
                         
                         
                         
   
   
   
   
  